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«Wir hätten uns selber eine solche Organisation gewünscht»

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Esther Jenny und Martin Burger vom Verein ALS Schweiz verbrachten auch dieses Jahr eine Woche mit Betroffenen in Locarno. Der Verein feiert sein zehnhjähriges Bestehen. (Bilder: Verein ALS Schweiz)

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ALS:
Die Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) ist eine rasch voranschreitende, degenerative Erkrankung des zentralen und peripheren Nervensystems. Von der Krankheit betroffene Menschen verlieren kontinuierlich Muskelsubstanz. An Armen und Beinen, am Sprech-, Kau- und Schluckapparat. Die Krankheit verläuft sehr unterschiedlich. Die meisten Betroffenen leben bei fortschreitender Lähmung noch drei bis fünf Jahre. Die Ursache der Erkrankung ist unklar.

Verein ALS Schweiz:
Rund 630 Mitglieder zählt heute der Verein ALS Schweiz, der 2007 als «ALS-Vereinigung.ch» von Esther Jenny und Thomas Unteregger gegründet wurde. Etwa die Hälfte der Mitglieder ist selber von der Krankheit betroffen, die andere Hälfte ist Mitglied aus Solidarität. Laut Angaben des Vereins ist jeder Zweite, der in der Schweiz an ALS erkrankt ist, Mitglied von ALS Schweiz.
«Die Organisation verfolgt ausschliesslich gemeinnützige Ziele. Sie unterstützt und begleitet ALS-Betroffene und ihre Angehörigen durch die schwierige Zeit der Erkrankung. Zudem arbeitet sie unablässig daran, ALS einer breiten Öffentlichkeit bekannt zu machen», heisst es auf der Webseite des Vereins. Er ist Kollektivmitglied von palliative zh+sh.

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14. September 2017 / Vermischtes
Der Verein ALS Schweiz ist eine zentrale Stütze für viele von ALS betroffene Menschen und ein wichtiger Partner für Fachpersonen, die Menschen mit ALS betreuen. Den Verein gibt es inzwischen seit zehn Jahren. Zum Jubiläum ein Gespräch mit dem aktuellen Präsidenten Martin Burger und der Pionierin und Vereinsgründerin Esther Jenny.
Esther Jenny, wenn Sie einen Moment innehalten und sich vor Augen führen, wie es nach zehn Jahren um den Verein ALS Schweiz steht, was denken Sie?

Esther Jenny: «Ziel erreicht!» Dass Betroffene wissen, wo sie sich hinwenden können, dass sie nicht so allein sind mit ihrer Situation, das war uns schon immer das Wichtigste. Ich glaube, das konnten wir inzwischen erreichen. Die meisten Menschen, die die Diagnose ALS erhalten, erfahren auch vom Verein ALS Schweiz und viele von ihnen nutzen uns als Anlaufstelle. So können wir dafür sorgen, dass möglichst viele Betroffene von einem ALS-Kompetenzzentrum begleitet werden. Ausserdem denke ich, wenn ich innehalte: Ich bin extrem froh, dass Martin Burger vor etwa drei Jahren das Präsidium übernommen hat… (lacht)

Wie kam es denn vor zehn Jahren überhaupt zur Vereinsgründung?

EJ: Mein Mann Jörg hatte 2006 drei Rückenoperationen hinter sich. Er wurde dreieinhalb Jahre lang auf Rückenprobleme behandelt, bevor er endlich umfassend abgeklärt wurde. Dabei war für mich schon länger klar, dass da etwas gar nicht mehr stimmte. Ja, und dann kam die Diagnose ALS. Danach lebte Jörg noch zehn Monate. In dieser Zeit hätten wir uns eine Anlaufstelle gewünscht. Nur per Zufall erfuhr ich einige Zeit nach der Diagnose von der ALS-Klinik in St. Gallen, aus einem Zeitungsartikel. Wir nahmen sofort Kontakt auf und Jörg wurde als Patient aufgenommen. Von da an hatten wir Boden unter den Füssen!

Und vorher?

Vorher fühlten wir uns irgendwie verloren und fanden ziemlich bald, dass es eine Organisation bräuchte, die sich für die Betroffenen einsetzt. Da Jörgs Krankheit aber schon fortgeschritten war, hatten wir keine Kapazität, etwas aufzubauen. Als seine Diagnose kam, hörte ich auf zu arbeiten und kümmerte mich um meinen Mann. Nach seinem Tod im Oktober 2006 entschied ich mich, nicht wieder zur Arbeit zurückzukehren, sondern etwas auf die Beine zu stellen. Da hörte ich ein Interview mit Thomas Unteregger, der ebenfalls an ALS erkrankt war und sich sehr dafür einsetzte, dass die Krankheit bekannter wird und die Betroffenen unterstützt werden können. Also kontaktierte ich ihn und zeigte ihm mein Konzept für eine Vereinsgründung.

Und das Co-Präsidium war beschlossen…

Ja, tatsächlich, das ging dann sehr schnell. Thomas war sofort dabei. Sein Einsatz war vor allem am Anfang sehr wichtig. Er konnte wahnsinnig gut reden und hatte ein riesiges Kontaktnetz, dank dem der Verein auch bald zu ersten Finanzen kam und gut starten konnte. Und Thomas liess sich von seiner Krankheit nicht von seinem Engagement abhalten. Wir waren ein sehr gutes Team. Bis etwa sechs Monate vor seinem Tod 2012 führten wir den Verein gemeinsam.
«Es beschäftigte mich, dass die Betroffenen nach einer solchen Diagnose so im Regen stehen.»

Hatten Sie denn nach dem Tod Ihres Mannes nicht genug vom Thema ALS?

Nein. Es beschäftigte mich einfach, dass die Betroffenen nach einer solchen Diagnose so im Regen stehen. Vielleicht ging es mir in der ersten Zeit auch um die Idee, dass Jörgs Krankheit und Tod irgendeinen Sinn haben könnten, wenn ich etwas für Betroffene aufbauen würde. Wir hatten beide so darunter gelitten, dass wir so alleine waren mit dieser Situation. Der Verein ALS Schweiz – damals noch ALS-Vereinigung.ch – entstand aus dem, was wir vermisst hatten.

Kennen Sie dieses Gefühl auch, Herr Burger?

Martin Burger: Meine Frau erkrankte an ALS, als es den Verein bereits gab, weshalb diese Lücke, von der Esther sprach, so nicht mehr existierte. Als wir im Mai 2012 die Diagnose erhielten, meldeten wir gleich die ganze Familie als Mitglieder beim Verein ALS Schweiz an. Dank dem Verein besuchte uns dann regelmässig eine spezialisierte ALS-Care-Nurse. Meine Frau und ich waren sehr froh um diese Besuche. Wir hatten eigentlich damit gerechnet, dass wir das Angebot des Vereins noch ein paar Jahre nutzen würden. Aber sechs Monate nach der Diagnose starb meine Frau bereits. Ich und meine Kinder blieben Vereinsmitglieder. 2014 war für mich dann der Moment gekommen, um dem Verein etwas zurückzugeben und nun engagiere ich mich als Präsident und wurde 2015 offiziell gewählt.

EJ: Zum Glück. Es war sonst niemand da, der den Verein weiter vorantreiben konnte und ich brauchte langsam Entlastung. Martin brachte unternehmerisches Denken und unternehmerischen Mut rein. Den hätte ich nie gehabt!
«Wir hatten damit gerechnet, dass wir das Angebot des Vereins ein paar Jahre nutzen würden. Aber sechs Monate nach der Diagnose starb meine Frau.»

Was bietet denn der Verein ALS Schweiz heute?

MB: Im Wesentlichen bietet er noch dieselbe Unterstützung wie früher, wir haben nur die Abläufe und Strukturen angepasst und sind noch immer dran. Das wichtigste – und nebenbei auch das teuerste – Angebot sind die erwähnten «ALS-Care-Nurses». Aktuell vermitteln wir die Dienste von acht speziell ausgebildeten Fachpersonen, bald werden es zehn sein. Die «ALS-Care-Nurses» besuchen die Betroffenen zuhause, nehmen ihre Bedürfnisse auf und wissen, wo man am besten ansetzen sollte, um den Menschen mit ALS und ihren Angehörigen zu helfen. Die Fachpersonen bieten spezialisierte Pflege und führen Gespräche mit der Spitex und anderen involvierten Fachstellen.

Woher haben die Pflegenden dieses spezialisierte Wissen?

MB: Das vermitteln Fachpersonen mit grossem Wissen und langjähriger Erfahrung im Auftrag des Vereins ALS Schweiz in entsprechenden Ausbildungen. Die Ausbildungen richten sich an Pflegende, die oft schon grosse Erfahrung in der Betreuung von ALS-Patienten mitbringen. Nach der Ausbildung besuchen sie die ALS-Patienten meist in ihrer Freizeit und unser Verein bezahlt sie – nicht fürstlich, aber vernünftig. Das ist eine Dienstleistung, die bisher weder ein Kompetenzzentrum noch eine ambulante Organisation leisten kann. – Neuerdings organisieren wir übrigens auch ein zweiteiliges Modul-Training für Fachpersonen, in dem sie das Wesentlichste über ALS erfahren. Es ist eigentlich eine Grundausbildung in medizinischer, pflegerischer und therapeutischer Betreuung von ALS-Patientinnen und -Patienten von Fachpersonen für Fachpersonen.

Kommt dieses Ausbildungs-Angebot an?

Ja, das Echo ist verblüffend gross. Es waren bisher jeweils 40 bis 50 Teilnehmende anwesend und es interessieren sich immer mehr Fachpersonen dafür.
«Es geht uns bei der Direkthilfe immer darum, Härtefälle zu vermeiden.»

Gibt es noch weitere Angebote für Betroffene?
Wir vermitteln Hilfsmittel für Patientinnen und Patienten, die nicht mehr im IV-Alter sind. Wir haben zwei Depots, in denen Elektro-Rollstühle, Pflegebetten und viele weitere Hilfsmaterialien lagern. Wir verleihen sie kostenlos und organisieren auch die Lieferung. Einzig die Lieferkosten müssen die Betroffenen selber bezahlen, wenn es ihre finanzielle Situation zulässt. Es gibt Stiftungen, die uns unterstützen, damit wir bestimmte Hilfsmittel anschaffen können. Und oft erhalten wir Material von unseren Mitgliedern, wenn sie es selber nicht mehr brauchen können. So kommt es, dass wir im Durchschnitt etwa zwei Hilfsmittel pro Woche an Betroffene liefern, also machen wir etwa 100 Lieferungen jährlich. Bis vor zwei Jahren konnten wir Hilfsmittel nur in der Deutschschweiz anbieten. Heute haben wir auch Depots in der Westschweiz und im Tessin. Ja, und dann bieten wir auch Direkthilfen, wo nötig.

Was heisst das?

Wenn die Krankheit eine Familie zum Beispiel in einen finanziellen Notstand treibt, können wir punktuell finanzielle Unterstützung anbieten. Wenn beispielsweise eine Anschaffung nötig wird oder eine ungedeckte Therapie, dann klären wir ab, ob wir einspringen können. Es geht uns bei der Direkthilfe immer darum, Härtefälle zu vermeiden.

Und dann haben Sie auch Angebote, die dem Austausch und der Vernetzung dienen. Welche?
EJ: Da gibt es zum Beispiel die «Paralleltreffen», an denen sich Betroffene und ihre Angehörigen zwar gleichzeitig, aber separat untereinander treffen. Sie tauschen sich aus und bekommen Hilfe zur Selbsthilfe. An den Rückmeldungen merken wir, dass es für diejenigen, die teilnehmen, eine sehr wichtige Sache ist – auch wenn es nicht immer sehr viele sind. Seit einiger Zeit haben wir auch ein Netzwerk für Fachpersonen, das «G.E.R.A.L.D.S.» heisst. Auch sie tauschen aus und halten Fallbesprechungen ab. Wir wollen damit eine noch bessere Betreuung für die Betroffenen erreichen.
«Am Abend sitzt die ganze Truppe bis spät in die Nacht auf der Piazza. Es ist immer eine schöne Woche in den ALS-Ferien.»

MB: Wichtig ist ausserdem gerade für die Betroffenen die Ferienwoche. Esther fährt mit ALS-Patienten und Pflegefachpersonen jeweils im August für eine Woche nach Locarno. Für viele Teilnehmende ist es vielleicht das letzte Mal, dass sie in die Ferien fahren können. Esther scheut da keinen Aufwand. Es ist nämlich eine ziemlich komplexe Sache, Ferien für mehrere ALS-Patienten zu organisieren, die auf intensive und individuelle Betreuung angewiesen sind.

EJ: Am Anfang erschrak ich ehrlich gesagt, dass sich auch Betroffene anmeldeten, bei denen die Krankheit schon weit fortgeschritten war. Aber ich habe gemerkt: Es ist möglich! Wir sind jeweils in der Clinica Santa Chiara in Locarno, die mit ALS-Patientinnen umzugehen weiss und wir arbeiten mit der örtlichen Spitex und einer kleinen ALS-Organisation in Lugano zusammen. Jeden Tag unternehmen wir zusammen etwas, zum Beispiel einen Spaziergang in ein feines Restaurant in Minusio, Ausflüge auf die Isola di Brissago oder nach Gardada und am Abend sitzt die ganze Truppe dann bis spät in die Nacht auf der Piazza. Es war bisher immer eine richtig schöne Woche.

«Oft rufen Angehörige an, die völlig überlastet und letztlich überfordert sind.»

Was beschäftigt eigentlich die Betroffenen am meisten? Mit welchen Anliegen kommen sie auf den Verein zu?

EJ: Wir erhalten etwa 200 bis 250 Beratungsanfragen im Jahr. Sehr oft sind es Angehörige, die uns mit verschiedenen Fragen kontaktieren. Zum Beispiel, wenn ein Patient oder eine Patientin nicht gut essen kann, oder wenn Fragen zur Spitex und zur Hausbetreuung oder zu Therapieleistungen auftauchen. Es gibt so vieles, das geklärt und entschieden werden muss. Und sehr oft erleben wir auch, dass Angehörige anrufen, die völlig überlastet und letztlich überfordert sind.

Wie gehen Sie vor, wenn Sie das merken?

Die Mitarbeitenden auf unserer Geschäftsstelle, die die Beratungen machen, wissen, wie wichtig es ist, dass pflegende Angehörige unterstützt werden. Wir führen ausführliche Gespräche und versuchen den Angehörigen aufzuzeigen, dass es wichtig ist, die Spitex oder ein anderes Angebot frühzeitig einzubeziehen. Das ist absolut zentral, das können wir aus eigener Erfahrung sagen.

Zentral ist also, dass Betroffene und Angehörige nicht alles alleine tragen. Gibt es noch einen Punkt, den Sie ganz wichtig finden?

EJ: Ja. Was gleich nach der Diagnose das Allerwichtigste ist, ist dass die Betroffenen an ein Kompetenzzentrum verwiesen werden oder selber eines aufsuchen. Es gibt in der Schweiz neun Muskelzentren, fünf in der Deutschschweiz. Dort werden ALS-Patientinnen und -Patienten richtig begleitet. Es reicht bei dieser verheerenden und rasch voranschreitenden Krankheit leider meist nicht, nur vom Hausarzt und einem Neurologen ambulant begleitet zu werden. Es braucht die Begleitung durch spezialisierte Fachleute. So können sich Betroffene auch einigermassen vorausschauend verhalten. Das hilft.

Gibt es auch Anfragen von Betroffenen, bei denen Sie selber nicht weiter wissen?

Meistens kommen früher oder später Fragen zur Finanzierung der Betreuung und Sozialversicherungs-Fragen auf. Da können wir oft helfen, aber wir sind keine Sozialversicherungsexperten. Darum verweisen wir in solchen Fällen oft an Spezialisten. Dazu unterhalten wir ein gutes Netzwerk.
«Es braucht die Begleitung durch spezialisierte Fachleute. So können sich Betroffene einigermassen vorausschauend verhalten. Das hilft.»


Wie wird das umfassende Angebot des Vereins finanziert?

MB: Knapp zehn Prozent der Kosten können wir durch Mitgliederbeiträge decken. Wir sind also sehr auf Drittgelder angewiesen und erhalten zum Glück auch immer wieder Unterstützung von Stiftungen. Aber nur die wenigsten Stiftungen leisten wiederkehrende Unterstützungsbeiträge, darum ist es sehr aufwendig, die Angebote zu finanzieren. Aber unser Geschäftsführer und unser Rechnungsführer leisten hier gute Arbeit und wir haben vor, das Fundraising weiter zu verstärken, um die Existenz des Vereins ALS Schweiz nachhaltig zu sichern.

Esther Jenny, Sie haben zu Beginn unseres Gespräches gesagt, das Ziel des Vereins sei erreicht. Hat sich der Verein schon neue Ziele gesteckt?

EJ: Ich glaube, die Grundidee, die vor zehn Jahren zur Gründung geführt hat, ist immer noch dieselbe: Unterstützung für Betroffene und Angehörige. Daran kann man gut noch ein bisschen weiterarbeiten.

MB: Ja, tatsächlich: Ich habe kürzlich erstaunt festgestellt, dass vieles, was im Gründungsprotokoll des Vereins steht, uns heute sehr wichtig ist. Und das muss auch immer unser Credo bleiben: Die Lebensqualität der Betroffenen zu unterstützen. Das erreichen wir mit unseren Angeboten direkt für die Betroffenen und mit jenen für die Fachpersonen. Eigentlich wünschte ich mir, dass wir den Verein in zehn Jahren auflösen könnten, weil es für ALS Heilung gibt. Aber damit ist nicht zu rechnen. Und es wird auch in Zukunft nie so sein, dass das Gesundheits- und Sozialsystem alles leisten kann, was ALS-Betroffene brauchen. Ich denke, es braucht Demut in der Haltung der Führung unserer Organisation, aber auch eine gewisse Bestimmtheit, um uns für die legitimen Ansprüche der ALS-Betroffen einzusetzen.
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