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Demenz und Palliative Care: Eine Frage der Verständigung

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06. November 2011 / Wissen
«Mit der Palliative Care soll auf die Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten umfassend eingegangen werden.» So steht es in den nationalen Leitlinien zur Palliative Care. Wer in diesem Bereich tätig ist und die entsprechende Grundhaltung vertritt, stellt die Wünsche der Betroffenen wo immer möglich in den Mittelpunkt. Was aber bedeutet dieser Grundsatz, wenn ein Betroffener seine Wünsche nicht klar äussern kann? Was, wenn er beispielsweise an Demenz leidet? Der zunehmende Gedächtnisverlust und die kontinuierliche Abnahme der kognitiven Leistungsfähigkeit machen es Menschen mit Demenz oftmals unmöglich, ihre Vorstellungen und Bedürfnisse klar zu formulieren und dafür einzustehen. Ihre Verhaltensauffälligkeiten erschweren es zudem auch Angehörigen, die aktuellen Bedürfnisse ihrer Liebsten zu erfassen. Eine schwierige Situation. Ist Palliative Care bei Menschen mit Demenz überhaupt möglich?

Auf diese Frage gibt es zweimal ein deutliches – gar vehementes – «Ja» zu hören, fragt man Marina Kojer und Michael Rogner. Kojer ist Ärztin, Psychologin und Begründerin sowie langjährige Leiterin der ersten medizinischen Abteilung für Palliativmedizinische Geriatrie und der Schmerzambulanz am Geriatriezentrum am Wienerwald in Wien. Einer ihrer Arbeitsschwerpunkte ist die Palliative Demenzbetreuung. Rogner ist diplomierter Pflegefachmann sowie Pflegewissenschaftler mit den Schwerpunkten Demenz und Palliative Care in Liechtenstein. Er sagt: «Ich beschäftige mich seit geraumer Zeit mit beiden Themen und sie sind für mich voneinander untrennbar.»

Die Sprache der Betroffenen lernen


Zur Schwierigkeit, einen Patientenwunsch in den Mittelpunkt zu stellen, der nicht klar formuliert worden ist, meint Rogner: «Natürlich können Menschen mit Demenz ihre Bedürfnisse und Wünsche klar äussern – die Ebenen der Kommunikation sind einfach anders gelagert.» Im Anfangsstadium der Krankheit werde noch viel über Sprache kommuniziert, während im fortgeschrittenen Verlauf sehr viel über den emotional-kommunikativen Bereich laufe, sagt Rogner. Das heisst, dass Betroffene sich über ihren Körper und durch ihr Verhalten ausdrücken. Wer dieses Signale zu deuten weiss, kann auch die individuellen Bedürfnisse der Betroffenen daraus ableiten. «Es liegt an den Betreuerinnen zu lernen, diese Signale zu erkennen. Das ist durchaus möglich», sagt Marina Kojer. Die Voraussetzung dafür: Die palliative Grundhaltung. Kojer versteht darunter eine Haltung, die die «Gleichwürdigkeit und Gleichwertigkeit aller Menschen von innen heraus akzeptiert und den Demenzkranken das uneingeschränkte Recht zugesteht so zu sein, wie sie durch ihre Krankheit geworden sind.»

Es ist also entscheidend, die Verständigung zwischen Betroffenen und ihrem Umfeld möglich zu machen, damit auch Menschen mit Demenz Palliative Care in Anspruch nehmen können. Eine Forderung übrigens, die noch längst nicht erfüllt ist und für welche sich beispielsweise die Schweizerische Alzheimervereinigung einsetzt. Michael Rogner sagt dazu: «Wenn Palliative Care vor Menschen mit Demenz Halt macht, so muss sich Palliative Care hinterfragen.» Ihr Ziel, den Betroffenen die bestmögliche Lebensqualität in der letzten Lebensphase zu ermöglichen, solle auch für Menschen mit Demenz gelten.

Geborgenheit und Sicherheit sind zentral


Diese brauchen ein verständnisvolles Umfeld. Rogner betont: «Menschen mit Demenz verabschieden sich von unseren Kulturtechniken und unseren gemeinsamen Normen. Sie können sich nicht mehr in unserer Umwelt zurechtfinden, wir müssen uns in ihrer Umwelt zurechtfinden und uns ihnen anpassen.» Rogner ist überzeugt, dass das Phänomen «Demenz» wesentlich vom Umfeld mitgesteuert wird. Darum sei es auch wichtig, das Stigma loszuwerden, das der Demenz anhaftet. «Wir können sehr viele schöne Momente mit Menschen mit Demenz erleben und sie können bis zum Tod einen hohen Grad an Lebensqualität erreichen», sagt er. Mann müsse sich unbedingt von der Vorstellung verabschieden, Menschen mit Demenz würden in gewisser Weise aufhören, überhaupt eine Person zu sein, weil die Demenz angeblich nur eine «leere Hülle» zurücklasse. Es geht also darum, wie das Umfeld den Betroffenen begegnet. Kojer sagt dazu: «Um sich wohl zu fühlen, brauchen Menschen mit Demenz dringend das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit und das ist etwas, was nur andere Menschen ihnen geben können.»

Um eine angemessene palliative Betreuung für Demenzkranke zu gewährleisten, braucht es in der Palliative Care in der Schweiz aber mehr ausgebildete Fachkräfte. Auch wenn Rogner in der Stossrichtung mit der Nationalen Strategie und mit vielen Bemühungen von einzelnen Einrichtungen eine positive Entwicklung sieht, gibt es aus seiner Sicht noch einiges zu verbessern. «Es gibt in vielen Regionen absolute Versorgungslücken, vor allem im spitalexternen Bereich und in der Langzeitpflege ist eine flächendeckende Versorgung durch Palliative Care leider nicht Alltag», sagt er. Und Kojer sieht für den deutschen Sprachraum insgesamt einen immer bedrohlicher werdenden Pflegenotstand. «Das ist ein trauriges Kapitel», sagt sie. «Nur wenn die Gesellschaft – und das sind wir alle – endlich begreift, dass es nicht nur die Anderen angeht, schöpfe ich Hoffnung, dass sich daran etwas ändern kann.»