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Die Spiritualität von Pflegenden bietet ein grosses Potenzial,
das zu wenig genutzt wird

Die Spiritualität von Pflegenden bietet ein grosses Potenzial, <br>das zu wenig genutzt wird

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Die zweite Netzlounge unter dem Jahresthema «Spiritual Care» widmete sich der Spiritualität von Pflegefachpersonen. (Bild: pixabay)

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16. Juni 2015 / Region
Der Pflegewissenschaftler Christoph von Dach stellte an der gestrigen Netzlounge seine Studienergebnisse zur Spiritualität von Pflegefachleuten vor. Demnach ist das Thema Spiritualität unter Pflegenden mehrheitlich positiv belegt. Das Thema böte ein grosses, bisher kaum genutztes Potenzial im Pflegealltag, ist von Dach überzeugt.

Christoph von Dach war bis vor kurzem Projektmanager Palliative Care am UniversitätsSpital Zürich und arbeitet heute in der Praxisentwicklung Pflege sowie als Themenleiter Palliative Care am selben Spital. Ausserdem ist er dabei, den «Doctor of Nursing Practice» in Jacksonville (USA) zu absolvieren. Im Rahmen seiner Palliative-Care-Masterthesis erforschte er vor rund zwei Jahren die Spiritualität von Pflegefachpersonen. An der zweiten diesjährigen Netzlounge aus der Themenreihe «Spiritual Care» stellte von Dach seine Studienergebnisse vor und berichtete über seine Erfahrungen bei der Arbeit an dieser Studie.

Wie gehen Pflegefachpersonen mit Spiritualität um?

Die Studie, für die von Dach zahlreiche Pflegefachpersonen aus verschiedenen Institutionen befragte(er nutzte ein mixed-method-design und führte sowohl qualitative als auch quantitative Befragungen durch), fragte nach dem Umgang von Pflegefachpersonen mit Spiritualität. In seiner Arbeit unterscheidet von Dach zwischen «Spiritualität» und «Religion». Eine Unterscheidung, die nicht überall gemacht wird. Doch für die Arbeit in der Pflegepraxis gerade in Spitälern sei sie sehr wohl relevant, erklärte von Dach. Denn beim Spitaleintritt werden Patientinnen und Patienten meist nach ihrer Religion gefragt. Wenn sie aber keiner Religion angehören, sei die Gefahr gross, dass das Thema Spiritualität von den betreuenden Fachpersonen gar nie angesprochen werde. Dabei sage die Religionszugehörigkeit noch nicht viel aus über die spirituelle Identität oder über spirituelle Bedürfnisse von Patientinnen und Patienten.

Die Forschungsfragen in von Dachs Studie drehten sich um vier Themenbereiche: a) Die Bedeutung der Spiritualität für das Berufsverständnis, b) Persönliches Befinden/Nutzen, c) Berufliches Umfeld und Anforderungen und c) Anforderungen an Aus- und Weiterbildung.

Bedeutung für das Berufsverständnis

Die Ergebnisse der Studie zeigten, dass für 78 Prozent der Pflegefachpersonen die spirituelle Begleitung von Patientinnen und Patienten mindestens teilweise zum Berufsverständnis gehört. Die Begleitung ihrer Patient_innen auch in spirituellen Fragen ist also für die meisten Pflegenden Bestandteil ihrer Arbeit. Die Zusammenarbeit mit Seelsorgenden erachten sie dabei mehrheitlich als wichtig. Diese gestalte sich besser, wenn die Seelsorge in der Organisation fix eingebunden sei.

Persönliches Befinden, Nutzen für die Pflegenden

Für die spirituelle Begleitung von Patient_innen erachtet es von Dach als wichtig, dass Pflegende auch ihre eigene Spiritualität kennen. In seiner Studie berichteten 80 Prozent der Befragten, sie empfänden den Umgang mit ihrer eigenen Spiritualität als bereichernd. Die Spiritualität scheint gemäss den Antworten für viele Pflegende eine wichtige Stütze im Umgang mit Patient_innen und im Pflegealltag zu sein. Als schwierig empfinden viele den Umgang mit der Spiritualität im Pflegealltag dann, wenn sich ihre eigenen Ansichten sich stark von denen der Patient_innen unterscheiden. Schwierig finden es offenbar auch viele Pflegende, sich über ihre eigene Spiritualität zu äussern.

Berufliches Umfeld und Anforderungen

Die befragten Pflegenden berichteten davon, mit welchen Erwartungen vonseiten der Patient_innen sie vor allem zu tun haben. Es zeigte sich, dass sie besonders dem «Bedürfnis nach Zuhören» in ihrem Pflegealltag begegneten. Viele Patient_innen wollen scheinbar auch mit den Pflegenden über ihre Gefühle reden sowie – beispielsweise bei einer folgenreichen Diagnose – über die Frage «Warum ich?». Schwierigkeiten bereitet die spirituelle Begleitung den Pflegenden offenbar insbesondere dann, wenn die betroffenen Menschen aus anderen Kulturkreisen stammen. Viele gaben an, dass ihnen in solchen Situationen oft das Knowhow und das Verständnis für die spirituellen Hintergründe dieser Menschen fehlen.

Was gemäss den Studienergebnissen noch viel öfter fehlt, damit Pflegende auf die spirituellen Bedürfnisse ihrer Patient_innen eingehen können, ist Zeit. Aber auch an Privatsphäre fehlt es scheinbar. Ein Raum, in den sich Patient_in und Pflegende für ein persönliches Gespräch zurückziehen könnten, ist meist nicht vorhanden. Viele Pflegende gaben an, für sie sei eine bestehende Beziehung zu den Patient_innen eine Voraussetzung für das Führen eines Gespräches über spirituelle Fragen.

Anforderungen an Aus- und Weiterbildung

Gerade einmal zehn Prozent aller Befragten fanden, sie seien in ihrer Grundausbildung genügend vorbereitet worden auf die spirituelle Begleitung ihrer Patient_innen. 60 Prozent gaben an, die Grundausbildung gehe nur ungenügend auf das Thema ein. Der grösste Handlungsbedarf zeigte sich in grösseren Organisationen sowie den Fachgebieten Medizin und Chirurgie.

Von Dach fasste die wichtigsten Ergebnisse aus seiner Studie in fünf wesentlichen Punkten zusammen:
  • Die Spiritualität bildet für viele Pflegende einen positiven Erfahrungsschatz.
  • Sie beinhaltet ein sehr grosses, positives Potenzial, das bis zur Identifikation mit dem Beruf geht.
  • Das Thema Spiritualität wird weitgehend tabuisiert oder es fehlen Worte, um darüber zu kommunizieren.
  • Die Beziehung von Pflegenden zu ihren Patient_innen ist ein wesentlicher Faktor für die spirituelle Begleitung.
  • Es fehlt an Wissen zum Umgang mit anderen Religionen und Kulturen.

Das Phänomen der Wahrnehmung trotz örtlicher Distanz

In seinen Befragungen stiess von Dach immer wieder auf das «Phänomen der Wahrnehmung trotz örtlicher Distanz». So bezeichnet er die Erfahrung zahlreicher Pflegender, die davon berichteten, bereits wenigstens einmal gespürt zu haben, dass ein_e Patient_in in einem bestimmten Moment verstarb oder dringend Betreuung benötigte. Diese Wahrnehmung fand jeweils statt, obwohl die Pflegenden sich zu diesem Zeitpunkt an einem anderen Ort aufhielten. 35 Prozent aller Befragten gaben an, dieses Phänomen zu kennen. 43 Prozent gaben an, es teilweise zu kennen. Von Dach stellte in seiner Untersuchung auch fest, dass diese Vorkommnisse bei den Pflegenden teilweise Unsicherheit auslösten.

Angeregter Austausch

Um dieses Phänomen drehte sich anschliessend ein grosser Teil der Diskussion unter den Teilnehmenden der Netzlounge. Viele anwesende Pflegende berichteten von ähnlichen Erlebnissen. Aber auch über das Problem der fehlenden Worte im Umgang mit spirituellen Fragen tauschten sich die Anwesenden aus. «Es geht ums Mensch Sein in einer technischen Umgebung», äusserte sich beispielsweise ein Pflegefachmann und fragte sich, wie spirituelle Themen «dingfest» zu machen, zu benennen seien – und ob vielleicht dieses benennen Wollen gar nicht der richtige Weg sei. Die Rede war von Ambivalenz im Alltag der Pflegenden und davon, wie ihnen oft die vorhandenen Rahmenbedingungen in den Institutionen verunmöglichen, angemessen auf spirituelle Bedürfnisse von Patient_innen einzugehen.

«Situation hat sich noch zugespitzt»

Von Dachs Umfragen hatten einen hohen Rücklauf erzielt. Dies scheint auf ein grosses Interesse der Pflegenden an den Fragen zum Umgang mit Spiritualität zu deuten. Ob denn diese Befragungen, indem sie das Thema zur Sprache brachten, vielleicht die Situation in den Institutionen verändert haben könnten?, war eine Frage aus dem Publikum. Von Dach verneinte. «Die Situation hat sich meines Erachtens eher noch zugespitzt in den vergangenen acht Jahren, seit ich mich mit diesem Thema befasse.» Die Zeit sei knapper geworden, das Frustrationspotenzial diesbezüglich entsprechend grösser. Viele Pflegende würden im Alltag gerne auf spirituelle Bedürfnisse ihrer Patient_innen eingehen, können das aber kaum bewältigen.

Von Dach betonte in diesem Zusammenhang noch einmal das grosse positive Potenzial von Spiritualität im Pflegealltag. «Ich glaube, wenn an diesem Punkt angesetzt würde – am besten auf politischer Ebene –, dann könnte die Berufszufriedenheit vieler Pflegefachpersonen enorm gesteigert werden.» Und das hätte weitere positive Effekte. «Vielleicht helfen die Spiritual-Care-Lehrgänge, die je länger je öfter angeboten werden?», äusserte von Dach eine Hoffnung. Lisa Palm erwähnte derweil eine andere Entwicklung, die sie positiv wertet: «Ich beobachte, dass in vielen Institutionen immer mehr Abschiedsrituale stattfinden, wenn ein Patient oder eine Patientin gestorben ist. Hier scheint mindestens das Thema Achtsamkeit immer wichtiger zu werden.»
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