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Die Geriatrie und das Sterben in Würde

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Andreas Weber stellte am Geriatrieforum eine bereits weit gereifte Idee vor. Die App NOPA soll verhindern, dass Kranke vor ihrem Tod ins Spital eingeliefert werden, wenn sie das nicht wollen. (Bild: palliative zh+sh)

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19. September 2015 / Region
Wie können Fachpersonen, die mit Hochbetagten arbeiten, ihnen ein gutes Lebensende ohne Schmerzen ermöglichen? Das diesjährige Zürcher Geriatrieforum, das am Freitag im Stadtspital Waid stattgefunden hat, befasste sich mit Palliative Care.

2020 werden alle Patientinnen und Patienten, die im Kanton Zürich ein Spital verlassen, weil sie zuhause in ihrer vertrauten Umgebung sterben wollen, mit einer Fachperson ein langes Gespräch führen müssen. Dieses dreht sich um Entscheidungen, wie sie in Notfallsituationen, die ihre Krankheit mit sich bringt, behandelt werden wollen. Gehen sie erneut ins Spital oder bleiben daheim? Wollen sie bei einer Atemnot intubiert werden oder genügt es, wenn man diese medikamentös behandelt, sie also beruhigt oder in Schlaf versetzt? Denselben schwierigen Fragen müssen sich und Patientinnen und Patienten stellen, die in ein Pflegeheim eintreten.

Das ist Andreas Webers Vision. Sie hat eine «ganze Gesundheitsregion mit gut vernetzter Notfallversorgung am Lebensende» zum Ziel. Der ärztliche Leiter des ambulanten und stationären Palliative Care Teams im Zürcher Oberland stellte in seinem Referat am Geriatrieforum eine bereits weit gereifte Idee vor. Zusammen mit einer Gruppe aus Palliative-Care-Fachpersonen hat der Co-Präsident von palliative zh+sh ein konkretes Angebot entwickelt, das sich NOPA nennt. Der Name leitet sich von «Notfallplanung und Patientenverfügung für schwer und unheilbar Kranke» her. Folgender Missstand hatte Weber und seine Kollegen angetrieben: Die meisten Menschen wünschen sich, zuhause friedlich einzuschlafen. In Wirklichkeit werden aber 30 bis 40 Prozent der Menschen wenige Tage vor ihrem Tod notfallmässig in ein Akutspital eingewiesen und sterben dort. Solche Notfallhospitalisationen belasten Patientinnen und Patienten und ihre Angehörigen. Sie entsprechen nicht ihrem Wunsch und verursachen hohe Kosten.

Die konkrete Idee

NOPA beinhaltet eine internetbasierte Applikation und einen Kurs für Fachpersonen. Wenn sie die Ausbildung durchlaufen haben, können sie die NOPA-App überall und jederzeit auf ihren Tablet-Computer laden. Diese unterstützt sie beim Gespräch mit Patientinnen und Patienten, indem sie einen Gesprächsleitfaden bietet, die je nach Grunderkrankung relevanten Notfallsituationen und Behandlungsmöglichkeiten vorschlägt. Als pädagogische Entscheidungshilfen dienen grafische Darstellungen. Sie verdeutlichen zum Beispiel die Wahrscheinlichkeit, ob eine Reanimation bei einem Patienten mit einer bestimmten Grunderkrankung erfolgreich verläuft oder nicht. Zum Schluss spuckt NOPA ein Dokument aus – das auf einer Mischung aus Notfallplan, der am Universitätsspital Zürich in einer Nationalfondsstudie entwickelt wurde, und Patientenverfügung basiert. Alle Beteiligten müssen es nun unterschreiben.

«Der Notfallplan legt Wünsche und Ziele des Patienten fest», erklärte Weber dem Fachpublikum im Waidspital. Darin seien aber auch die verordneten Medikamente festgehalten, wer sie im Notfall verabreichen könne und Telefonnummern von Hausarzt, Palliative-Care-Fachfrau und dem Konsiliararzt aufgelistet. «Natürlich muss auch die Rettungssanität Kenntnis von solch einem Plan haben, sonst nützt er nichts.»

Der Fall

Die Zusammenarbeit aller Disziplinen ist in der Palliative Care wichtig. Das verdeutlichte auch Barbara Steiner von der Fachstelle Palliative Care der Spitex Zürich in ihrem Fallbeispiel. Sie wurde von der Spitex kontaktiert, weil Herr Z., ein 95-jähriger Mann, nicht mehr essen wollte und immer schwächer wurde. Er litt an einer schweren Herzkrankheit, wurde zunehmend dementer, lebte aber immer noch allein. Ab und zu plagte ihn eine Atemnot oder ein Herzklemmen. Der Hausarzt wusste ganz klar, dass Herr Z. nicht ins Spital wollte, und auch er selbst konnte das Steiner gegenüber verdeutlichen. Die Spitex pflegte ihn bereits seit zehn Jahren und war dementsprechend beunruhigt. Ein runder Tisch, an dem Hausarzt, der Sohn von Herrn Z., Spitex und Barbara Steiner teilnahmen, brachte wieder Ruhe in die Situation. «Weil von da an alles umgekehrt verlief», sagte Steiner. «Plötzlich bestimmte der Patient, wie viel und welche Pflege er wollte. Er gab das Tempo an.» Als sich eine Woche nach dem runden Tisch Herrn Z.s Situation massiv verschlechterte, blieb sein Sohn beim ihm. Die Spitex leitete ihn an, wie er seinem Vater regelmässig Opiate verabreichen konnte und kam selbst sechs mal pro Tag vorbei. «Zwei Tage später ist Herr Z. ruhig und friedlich gestorben.»

Die internationale Sicht

Den Referatemarathon beendete Gerhild Becker, Professorin für Palliativmedizin aus Freiburg i. B. Sie präsentierte vor allem Zahlen und Schätzungen der World Health Organization (WHO). Nach ihren Berechnungen brauchen weltweit jährlich 40 Millionen Menschen Palliative Care. Interessant war dazu ein Vergleich von ärmeren und wohlhabenderen Ländern. Die höchste absolute Zahl an Palliative-Care-Patientinnen und Patienten weisen Länder mit geringem oder mittlerem Einkommen auf. Hingegen ist der Anteil jener, die Palliative Care erhalten – gemessen an der Gesamtbevölkerung – in reichen Ländern am höchsten.

Becker zeigte den Paradigmenwechsel in der Palliative Care auf. Früher habe der Palliativmediziner versucht, «den Sterbeprozess noch ein bisschen zu begleiten.» Heute aber soll Palliative Care bereits bei der Diagnose einer schweren Krankheit einsetzen. «Und sie endet auch nicht mit dem Tod eines Patienten.» Palliative Care befasst sich auch mit der Trauer von Angehörigen und Patienten. Palliativmedizin könne die Lebensqualität verbessern und wirke auf diese Weisesogar lebensverlängernd, wie Studien gezeigt hätten.
palliative zh+sh, sa