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Auf Twitter trauern Menschen anders als auf Facebook

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Mit diesem Logo sammelte die Twitter-Community nach dem Tod eines beliebten Kollegen Geld für dessen Frau und Kinder (Bild: @Mama_notes).

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05. September 2016 / Wissen
Längst lassen Leute ihrer Trauer auch online freien Lauf. Weil die sozialen Medien zum Leben vieler Menschen gehören, gehören sie auch zum Tod. Eine persönliche Betrachtung.
Meine Cousine ist kurz nach ihrem 32. Geburtstag überraschend gestorben. Davon habe ich auf Facebook erfahren. Das mag anderen unpassend erscheinen, ich habe es als angebracht empfunden. Sie war eine junge Frau, die mit ihren Freundinnen und Kollegen über Facebook kommuniziert hat. Deshalb haben ihre Eltern die schreckliche Nachricht auch über diesen Kanal verbreitet. Sachlich und informativ. Damit es alle wissen. Später luden sie auch über Facebook zur Beerdigung oder zum Erinnerungsfest ein.

Natürlich verliehen ihre Freundinnen und Freunde auch ihrem Entsetzen und ihrer Trauer auf Facebook Ausdruck. Noch Jahre nach ihrem Tod, schreiben sie an ihre Pinnwand, dass sie ihnen fehlt. Vielleicht, so hoffe ich, ist diese Art von halböffentlicher Trauer ein kleiner Trost für die Eltern. Sie sehen, dass auch ihre Freunde ihre Tochter noch immer sehr vermissen.

Ein wachsender, digitaler Friedhof

Speziell an Facebook und umstritten ist, dass sich die Profile nicht löschen lassen, auch nicht, wenn jemand gestorben ist. Statistiker haben hochgerechnet, dass im Jahr 2098 mehr tote Menschen einen Facebook-Account haben werden als Lebende. Ein BBC-Journalist sprach deshalb von einem «digitalen Friedhof, der weiter wächst und wächst».

Im Fokus der Wissenschaft sind die Themen soziale Medien und Trauer schon länger. Untersuchungen zeigten, dass gerade auf Facebook Menschen eindeutig trauerten, aber diese Trauer bleibe persönlich und intim, sagte Jennifer Branstad, eine Soziologin der Universität Washington kürzlich an der Jahrestagung der American Sociological Association. Zusammen mit ihrer Kollegin Nina Cesare hat sie in einer neuen, noch unveröffentlichten Studie herausgefunden, dass sich das Trauern auf Twitter von jenem auf Facebook unterscheidet. Twitter eröffnet einen offeneren, öffentlicheren Raum für digitales Trauern.

«Tragisch, wenn jemand so jung stirbt»

Die beiden Soziologinnen haben sich durch tausende von Nachrufen gelesen, die auf MyDeathSpace.com veröffentlicht wurden. Diese Seite verlinkt die Nachrufe mit den Social Media Accounts der Verstorbenen. 37 davon waren mit einem Twitter-Profil verknüpft. Die Wissenschaftlerinnen analysierten die Tweets, in denen andere Twitterer den Benutzernamen des Verstorbenen erwähnten. Sie stiessen auf drei Kategorien von Äusserungen:

1. Ähnlich wie auf Facebook kommunizieren die Hinterbliebenen über Twitter – Intimität vorgaukelnd – mit den Verstorbenen. «Wir vermissen dich» oder «du fehlst» heisst es da.

2. Sachlicher werden Twitterer erwähnt, die berühmt waren und «die zu einer Art Symbol» werden, wie Cesare sagt. Hier sei die Sprache weniger emotional, prosaischer und mehr im Stile eines Nachrufs. Gewürdigt wurde zum Beispiel das Schaffen der toten Person.

3. Die dritte Kategorie überraschte die Forscherinnen am meisten: Sie betrifft normale Leute, die nicht bekannt waren, aber deren Todesumstände das öffentliche Interesse weckten. In den meisten Fällen wechselte das Gespräch irgendwann weg von den Verstorbenen hin zu Gesellschaftsthemen wie Waffengesetze oder Suizidprävention. Manchmal sei dies auch nur ein Ort gewesen, wo eine Tragödie anerkannt wurde. Häufig kam der Begriff der «verlorenen Jugend» zur Sprache im Stil von «es ist wirklich tragisch, wenn jemand so jung stirbt».

Bemerkenswert ist jedenfalls, wie sich die Trauerbekundungen auf Twitter von jenen auf Facebook unterscheiden. Auf Facebook «interagierten» Menschen nur, wenn sie sich auch im realen Leben kennen würden, fanden die Forscherinnen heraus. Hier gelte das Prinzip der nicht abreissenden Verbindungen, hier gelte die Idee, dass die Hinterbliebenen die Beziehung mit dem Verstorbenen aufrechterhalten könnten, sagte Cesare. «Die Online-Identitäten sind eng an die Offline-Identitäten geknüpft.»

Twitter hingegen ist anders strukturiert. Es ist ein durchlässigeres Medium. Leute stiessen auf diese Fälle und Geschichten, so die Forscherinnen, und sie können über sie twittern, auch wenn sie sie im richtigen Leben nicht kannten.

#einlichtfuerlinsensicht

Twitter-Nutzerinnen und -Nutzer trauern durchaus auch um Twitter-Bekanntschaften, die sie im realen Leben nicht gekannt haben. Das beweist eine Geschichte, die mir kürzlich zugetragen wurde: Die Twitter-Community stand einem Mann bei – einem Vater, Blogger, orignellen Twitterer –, der im letzten Juni seinem Krebsleiden erlag. Der Twitterer- und Blogger-Szene war er als @linsensicht bekannt. Da er seine Krankheit öffentlich gemacht hatte, unterstützten seine Follower ihn in seiner schwierigen Zeit, indem sie unter dem Hashtag #einlichtfuerlinsensicht Bilder von Licht twitterten: dem Licht einer Kerze, eines Regenbogens, einer schönen Abendstimmung.

Nach seinem Tod sammelten die Twitterer einerseits Geld für die Frau des Verstorbenen und seine drei Kinder, andererseits veröffentlichten sie ein «Freundebuch» mit gesammelten Erinnerungen der realen und virtuellen Bekannten an den lebensfrohen Mann.

Die Studienergebnisse und meine persönlichen Erlebnisse zeigen, dass die sozialen Medien zu Räumen geworden sind, wo halböffentlich oder öffentlich getrauert wird. Entgegen Befürchtungen von Kulturpessimisten, dass das Internet unsere sozialen Kontakte im richtigen Leben einschränkt, erweitern die virtuellen Räume unsere Möglichkeiten sogar. Wir nutzen die Online Community, um unsere Konktakte im realen Leben zu pflegen und eben auch gemeinsam zu trauern.
Sabine Arnold, palliative zh+sh, Nymag.com/scienceofus, livescience.com