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Was wollen wir als Gesellschaft für Menschen am Lebensende?
Roland Kunz regt an zum Nachdenken

Was wollen wir als Gesellschaft für Menschen am Lebensende? <br>Roland Kunz regt an zum Nachdenken

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Palliativmediziner und Geriater Roland Kunz spricht vor grossem Publikum in der Limmat Hall, wo zurzeit die Ausstellung «Noch mal leben vor dem Tod» läuft. (Bild: palliative zh+sh, ei)

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12. Oktober 2016 / Region
Zwischen Selbstbestimmung und Geschehenlassen am Lebensende: Im Rahmen der Ausstellung «Noch mal leben vor dem Tod» sprach Dr. med. Roland Kunz am 11. Oktober zu einem grossen Publikum. Seine Ausführungen waren ebenso hilfreiche Information wie Anregung und Appell.
Den Satz sagt er ganz am Ende, in der Diskussion mit dem Publikum nach seinem Vortrag, und die Aussage wird gleichsam zum Appell: «Das Palliative-Care-Angebot in einem Land ist nicht bloss eine Frage der Finanzen; es ist auch eine Frage der Gesellschaft und was wir als Gesellschaft wollen.» Der Geriater und Palliativmediziner Roland Kunz sprach im Rahmen der Ausstellung «Noch mal leben vor dem Tod» in Zürich. Der Titel seines Vortrags: «Zwischen Selbstbestimmung und Geschehenlassen am Lebensende». Kunz erlebt in seiner Tätigkeit immer wieder, wie Selbstbestimmung «verherrlicht» wird, wie er sagt.
«Das Palliative-Care-Angebot in einem Land ist auch eine Frage der Gesellschaft und was wir als Gesellschaft wollen.»
Roland Kunz

«Selbstbestimmung, wie sie heute in Bezug auf das Lebensende verstanden wird, ist aber nicht immer nur eine Freiheit; sie kann auch zum Druck werden.» Immer mehr Menschen wählen den Tod durch begleiteten Suizid und bestimmen damit den Zeitpunkt ihres Sterbens selber. Aber: Wann ist denn der richtige Moment, um zu sterben? Diese Frage kann zum grossen Stress werden, wie Kunz am Beispiel einer 50-jährigen Frau eindrücklich erklärt. 30 Jahre lang habe sie in ihrem Umfeld immer wieder gesagt, sie werde einmal mit «Exit» sterben. Und als dann der Tod plötzlich vor der Türe stand – er war schneller in Sicht als erwartet – da wurde diese ihre Entscheidung, die sie in ihrem ganzen Erwachsenenleben offen thematisiert hatte, zu einem Bumerang. Plötzlich blieb für einen assistierten Suizid keine Zeit mehr.

«Machsal statt Schicksal»

Es ist nicht so, dass Kunz mit der Möglichkeit des assistierten Suizids grundsätzlich nicht einverstanden wäre. Das ist aus vielen Aussagen zu lesen, die er in zahlreichen Interviews gemacht hat. Aber die Ansicht, einzig wer den Todeszeitpunkt eigenmächtig bestimme und sich mithilfe einer Sterbehilfeorganisation das Leben nimmt, sterbe einen selbstbestimmten Tod, teilt er nicht. Im Vortrag stellt er fest: Heute sind wir im Umgang mit dem Sterben überfordert. «Heute», weil früher der Umgang mit dem Tod etwas simpler war: Irgendwann – meist eher früh als spät im Leben – kam er einfach. Das war den Menschen bewusst und sie nahmen die Tatsache schicksalsergeben hin. Der Tod als absolute Fremdbestimmung. Heute sehen wir das anders. «Die Anti-Aging-Werbung und die Spitzenmedizin schüren Erwartungen. Sie verdrängen den Gedanken an die Endlichkeit», so Kunz. Und in diesem Zug haben wir neben einigem anderem auch dies verlernt: Etwas geschehen zu lassen. Zum Beispiel eben den Tod. Wer krank werde, so Kunz, entscheide sich auf Empfehlung der Mediziner_innen (so es denn überhaupt darüber zum Gespräch kommt) für die Maximaltherapie als «Reparaturmedizin». «Machsal statt Schicksal», sagt Kunz dazu. Wenn die Reparaturmedizin versage, gebe es zwei typische Wege: Man wende sich der Alternativmedizin zu oder man werde Mitglied bei einer Sterbehilfeorganisation. Solange Selbständigkeit und Unabhängigkeit unsere einzigen Ziele für das Leben im Alter seien werde sich daran wohl nicht viel ändern.
«Entscheidungen sind ein Prozess im Leben, der schon in gesunden Zeiten beginnt.»

Dabei sei uns eines zu wenig bewusst: Heute ist das Lebensende meist Folge einer ausdrücklichen Entscheidung. Ein Grossteil der Todesfälle, so zeigen Statistiken, sind erwartet und in den meisten Fällen ging dem Tod eine bewusste Entscheidung voraus. Häufig: Verzicht auf lebenserhaltende Massnahmen. «Auch das kann selbstbestimmtes Sterben sein», so Kunz. Für wichtige Entscheidungen am Lebensende habe sich gezeigt, dass eine offene und gute Information der Betroffenen elementar sei. Dabei sollen die Menschen auch erfahren, dass der Verzicht auf kurative Massnahmen nicht heisst, dass man gar nichts mehr macht. «Wir müssen Palliative Care als umfassende Begleitung erklären.» Für einen schwer kranken Menschen heisst das auch, dass er sich überlegt, was er tatsächlich noch will. Um in diesem Sinne selbstbestimmt zu sterben muss man sich also Gedanken machen über eigene, individuelle Prioritäten und dementsprechend, und basierend auf der aktuellen Situation, vorausschauend planen. «Entscheidungen sind ein Prozess im Leben, der schon in gesunden Zeiten beginnt», so Kunz.

Frühzeitig Gespräche führen

Vorausschauende Planung ist gerade dann wichtig, wenn jemand chronisch erkrankt ist. Häufig verläuft eine solche Krankheit nämlich so, dass es der betroffenen Person über eine längere Phase gut geht, bis eine erste ernsthafte Komplikation auftritt. Es folgt eine Notfallhospitalisation, wieder eine bessere Phase, wieder eine Komplikation mit Spitaleinweisung und so weiter. «Und irgendwann kommt die Komplikation, die der Patient nicht überlebt. Er stirbt im Spital.» Und dann, so Kunz, heisse es im Umfeld oft: ‚Ohje, der Arme, er wollte doch eigentlich zuhause sterben können.’ «Das muss thematisiert werden!», so Kunz. Es brauche Gespräche, vorausschauende Gespräche, in denen geklärt wird: Will die betroffene Person wirklich jedes Mal, wenn eine Notfallsituation auftritt, wieder ins Spital gefahren werden? Oder soll man sich zuhause so einrichten, dass man die quälenden Symptome einer Komplikation ohne Spitaleinweisung direkt behandeln kann und die Ursache nicht mehr bekämpft?

Aber auch wenn keine chronische Erkrankung wie beispielsweise Krebs vorliegt, sind vorausschauende Gespräche wertvoll. Menschen mit Demenz und Altersschwäche sollten unbedingt so früh wie möglich mit ihren Angehörigen über ihre Prioritäten sprechen, sagt Kunz. «Denn irgendwann werden mit grösster Wahrscheinlichkeit die Angehörigen für die sterbende Person Entscheidungen fällen müssen.»
«Selbstbestimmung sehe ich auch im Kontext von Beziehungen.»

Kunz betont in seinem Referat die Rolle der Angehörigen ganz allgemein. «Selbstbestimmung sehe ich auch im Kontext von Beziehungen. Wie bei anderen wichtigen Entscheidungen im Leben sollte man bei Entscheidungen am Lebensende darüber nachdenken, wie man Angehörige mit einbezieht.» Eine Pflicht zur Auseinandersetzung mit dem eigenen Sterben oder dem Sterben von geliebten Menschen sieht Kunz dennoch nicht. «Es soll jedem Menschen ganz überlassen sein, ob er sich über das Lebensende Gedanken macht oder nicht.» Kunz’ Erfahrung zeige, dass viele Menschen, die sich damit im Leben befassten, am Ende den Weg etwas leichter gingen.

Palliative Versorgung auf allen Ebenen weiterentwickeln

Vom Publikum gefragt, wie es denn um Palliative Care in Pflegeheimen bestellt sei, sagt Kunz: «Im Schnitt sind Pflegeheime besser sensibilisiert und verfügen über besser ausgebildetes Personal in Sachen Palliative Care als die Akutspitäler.» Ein schwacher Punkt sei bei den Pflegeheimen oft die Zusammenarbeit mit den Hausärzten, die nicht selten entweder nur rudimentär in der Palliative Care unterwegs seien oder in Notfällen nicht sofort erreichbar, sodass man oft eine Spitaleinweisung nicht umgehen könne. Dass die palliative Versorgung vielerorts zu wünschen übrig lasse, liege nicht alleine am fehlenden Geld. Immerhin wagt er einen hoffnungsvollen Blick in die Zukunft: «Gerade heute früh hatten wir eine Gruppe Medizinstudierender bei uns auf der Palliativstation.» Die Studierenden zeigen zurzeit grosses Interesse am Fach Palliativmedizin, das seit einigen Jahren fester Bestandteil des Medizinstudiums ist.
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