palliative zh+sh

Sprunglinks/Accesskeys

«Am Schluss ist es in Ordnung»

«Am Schluss ist es in Ordnung»

Weitere Infos

Ranja Kamal hat für ihre Bachelorarbeit Sterbende begleitet: «Ich konnte aus den Gesprächen viel für mein Leben mitnehmen. Eine Bankerin hat mich zum Beispiel einmal gefragt, ob ich eigentlich wisse, wie schön ich sei. Sie selbst habe ihr Leben lang nicht gesehen, wie gut sie als junge Frau aussah. Das ist mir extrem eingefahren.»

Portrait

Weitere Infos zum Thema

Zur Person
Ranja Kamal (25) hat an der Fachhochschule HTW Chur Medien und Kommunikation studiert. Für ihre Bachelor-Arbeit «Der Puls des Lebens» hat sie die Note 6 erhalten. Eine Schauspiel- oder Moderationskarriere würde sie nun reizen, sagt sie.

Zur Arbeit
Für den «Puls des Lebens» hat Ranja Kamal mit Patientinnen, Patienten – zum Beispiel mit Jörg Schneider – gesprochen, mit Silvia Richner, Leiterin des Palliative Care Teams im Triemli, mit Carmen Kissling, Co-Stationsleiterin der Villa Sonnenberg in Affoltern a. A., Christoph Wettstein, Spitalseelsorger im Triemli, mit Rosemarij Wijnands, Palliative-Pflegefachfrei bei der Spitex Zürich Limmat, mit Eva Bergsträsser, Leiterin des pädiatrischen Palliative Care Zentrums am Kispi, und mit Rolf Gyger vom Bestattungsamt der Stadt Zürich. «Er ist die erste Ansprechperson für die Zurückbleibenden. Er ist derjenige, der die Verstorbenen mitnimmt, sie aus dem Umfeld entfernt, das vorher so intensiv mit ihnen gelebt hat und ab diesem Zeitpunkt den Weg ins Leben wieder finden müssen. Da Palliative Care sich auch um die Betroffenen kümmert, finde ich, dass der Bestatter ebenso in die Reportage gehört», sagt Kamal. Sie habe interessiert, was von dem Moment bis zur Beerdigung mit den Verstorbenen geschehe. Für sie war wichtig zu wissen, dass mit Verstorbenen auch auf ihrem allerletzten Weg noch würdevoll umgegangen wird.

Wie ein zu dickes Buch

Kamal ist eine spannende, vielschichtige und reiche Reportage gelungen, die man zwischendurch auch «weglegen» muss wie ein schwieriges, zu dickes Buch. Sie bietet jedoch immer wieder neue Anknüpfungspunkte und ist gut erzählt.

Dokumente zum Thema

Video zum Thema

23. Oktober 2015 / Vermischtes
Die Zürcherin Ranja Kamal hat ihre Bachelorarbeit dem Thema Sterben gewidmet. Entstanden ist eine vielfältige und umfassende Multimedia-Reportage. Die Absolventin der Fachhochschule HTW Chur sagt, die Beschäftigung mit dem Tod habe sie erwachsener gemacht.

Wie kommt eine 25-jährige Frau dazu, sich mit dem Thema Sterben zu befassen?
Ranja Kamal: Ich hatte ursprünglich ein ganz anderes Thema für meine Bachelorarbeit gewählt. Doch dann habe ich innerhalb von eineinhalb Wochen zwei Menschen, die mir nahe standen, an Krebs verloren. In dieser Zeit bekam ich intensiv mit, was Palliative Care bedeutet. Ich war zum ersten Mal überhaupt mit dem Tod konfrontiert. Es war eine sehr intensive Zeit und das Letzte, an das ich denken konnte, war meine Bachelorarbeit – obwohl diese Priorität hätte sein müssen. Ich habe gemerkt, dass mein Umfeld irgendwie hilflos war, wenn ich den Tod oder meine Erlebnisse angesprochen habe. Viele hatten auch keine Ahnung, was Palliative Care bedeutet. Auch ich wusste das zugegebenermassen bis dahin nicht. Es ist ja auch nicht gerade ein Thema, mit dem man sich als junger Mensch freiwillig auseinandersetzt.

Weshalb haben Sie es doch getan?
Jeder wird irgendwann von diesem Thema betroffen sein. Durch einen Unfall, eine schwere Erkrankung, als Betroffener oder Angehöriger. Gerade weil ich die Erfahrung gemacht habe, dass eine solche Begleitung trotz all der Trauer und des Schmerzes positiv sein und einem viel geben kann, habe ich mich dazu entschieden, mich dieses Themas anzunehmen. In einer guten palliativen Behandlung liegt nämlich der Fokus nicht auf dem Sterben, sondern auf dem Leben. Es dreht sich auch nicht nur um die sterbende Person, sondern ebenso um ihr Umfeld. Ich wollte mit meiner Arbeit versuchen, den Menschen die Hemmungen zu nehmen, die sie im Zusammenhang mit Tod und Sterben verspüren und für das Thema Palliative Care zu sensibilisieren.

Ruth B. spielt eine wichtige Rolle in Ihrer Arbeit. War sie eine der zwei Personen, die damals gestorben sind?
Ja, sie war eine gute Freundin. Das filmische Porträt über sie habe ich ursprünglich ein Jahr zuvor im Rahmen meines Studiums gemacht. Kurz vor ihrem Tod bat sie mich dann darum, den Film zu vollenden. Sie wollte damit anderen Menschen helfen, mit einem ähnlichen Schicksal umzugehen. Ihr Wunsch war zweifelsohne ausschlaggebend für die Neuorientierung meiner Themenwahl, obwohl ich sie in der allerletzten Phase nicht mehr filmen wollte.

Weshalb nicht?
Der Moment war mir zu intim. Zu einmalig. Es fühlte sich für mich einfach nicht richtig an. Auch wollte ich mir die Zeit geben, mich richtig von ihr zu verabschieden, Gefühle zuzulassen und einfach voll und ganz für sie da zu sein. Mit einer Kamera wäre das nicht möglich gewesen. Ausserdem kann der Anblick einer sterbenden Person schon auch abschrecken. Nicht jeder kann mit solchen Bildern umgehen. Ruths Wunsch war es ja, mit ihrer Geschichten anderen Menschen zu helfen und sie nicht abzustossen. Ich glaube, das ist auch gelungen. Jedenfalls höre ich das aus den Rückmeldungen. Für ihre letzte Phase habe ich eine andere Erzählform, eine Art Hörspiel, gewählt. So kann sich jeder seine eigenen Bilder ausmahlen, und genau so viel zulassen, wie er kann oder will.

Was haben Sie über den Tod gelernt?
Dass er jederzeit kommen kann, und man sich davor nicht zu fürchten braucht. Viel interessanter finde ich aber die Frage, was mir der Tod gezeigt hat. Denn so komisch das klingen mag, der Tod hat mir gezeigt, wie wertvoll das Leben ist. Wie viele Dinge ich im Alltag nicht bewusst wahrgenommen habe, wie oft ich nicht auf meine innere Stimme gehört habe und vor allem was ich noch alles erleben will. Denn auf die Gefahr hin, dass ich jetzt klinge wie eine alte Frau: Der Gedanke an meinen eigenen Tod hat mir früher grosse Angst gemacht. Ich konnte und wollte ihn mir nicht vorstellen. Bei der Beschäftigung mit dem Sterben stellen sich einem ausserdem viele Sinnfragen: Was ist das Leben? Was hat es für einen Sinn? Was möchte ich mit meiner auf dieser Erde zu Verfügung gestellten Zeit machen? Was hemmt mich das zu tun was ich schon immer wollte? Ich könnte die Liste beliebig fortsetzen. Aber mit den gemachten Erfahrungen sind meine Unsicherheit und meine Angst verschwunden.

Weshalb?
Im Rahmen meiner Arbeit habe ich neben den zwei Menschen, die mir nahe standen, andere Personen besucht und begleitet, die kurz vor ihrem Tod standen. Auch bei ihnen habe ich gesehen: Am Schluss ist es in Ordnung. Sie konnten für sich abschliessen. Dabei drehten sich unsere Gespräche bei Weitem nicht nur um den Tod, sondern vor allem um das Leben, manchmal um ganz alltägliche Dinge. Ich habe einfach gemerkt, dass sie gegen Schluss mit sich selber ins Reine gekommen sind. Deshalb hat der Tod jetzt für mich unter anderem auch eine positive Note, neben der traurigen, die er natürlich auch hat. Schliesslich verliert man einen geliebten Menschen.

Worüber haben Sie mit den sterbenden Menschen gesprochen?
Nicht primär übers Sterben. Der Tod ist zwar präsent, man sieht ihn den Patientinnen und Patienten an. Aber wir führten trotzdem ganz alltägliche Gespräche. Wir haben auch gelacht, über Situationskomik etwa. Darauf muss man sich aber einlassen. Die Menschen haben sich mir gegenüber geöffnet, weil ich ganz normal mit ihnen umgegangen bin. Ich erinnere mich zum Beispiel an eine 50-jährige ehemalige Bankerin, die Krebs im Endstadium hatte. Sie zeigte mir Bilder von sich, als sie in meinem Alter war. Wir unterhielten uns über Makeup und Männer – wie das Frauen eben so tun. Manchmal habe ich den Tod in diesen Gesprächen vergessen. Mit einer Frau habe ich im Garten gesessen, die Sonne genossen und über Zukunftspläne gesprochen. Sie hat mir von einer Reise erzählt, die sie noch machen will.

Haben diese Patientinnen gewusst, dass Sie eigentlich für ihre Bachelorarbeit auf der Palliativstation sind?
Ja, das war immer klar. Viele Gespräche habe ich aber bewusst ohne Kamera und ohne Aufnahmegerät geführt. Ich wollte, dass die Patientinnen mir vertrauen und mich nicht als Fremdkörper wahrnehmen. Und so habe ich oft einfach nur hingeschaut, mitgeholfen und vor allem einfach zugehört.

Wie wollen Sie sterben?
Das ist eine gute Frage. Aussuchen kann man sich das ja in der Regel nicht. Ich würde gerne in einem Umfeld sterben, in dem es mir wohl ist und ohne Schmerzen. Aber ehrlich gesagt will ich das gar noch nicht wissen. Denn ich liebe mein Leben, lebe sehr gerne und möchte vor allem noch ganz vieles erleben.

Haben die Erfahrungen, die Sie mit dem Sterben gemacht haben, Ihr Leben verändert?
Ja, sehr. Mein Umfeld sagt, ich hätte mich verändert, sei erwachsen geworden. Als ich mich beispielsweise von meiner Freundin Ruth B. verabschiedet habe – sie war nicht mehr bei Bewusstsein –, wurde mir bewusst wie vergänglich alles ist. Sie war eine intelligente, erfolgreiche und anmutige Frau. Was ich aber am Schluss sah, war nicht mehr dieser Mensch, an den ich mich erinnere. Im Gegenteil. Ich habe sie fast nicht mehr erkannt. Ich habe mich gefragt, wer von meinen Freunden an meinem Bett stehen würde, wenn ich nichts mehr zurückgeben könnte. Wenn ich nicht mehr die hübsche, intelligente und lebensfrohe Ranja bin. So habe ich mich auch von einigen Menschen in meinem Freundeskreis getrennt.

Sie sind unbequemer geworden.
Ich konnte aus den Gesprächen mit den Sterbenden und ihren Angehörigen einfach viel für mein Leben mitnehmen. Die Bankerin hat mich zum Beispiel einmal gefragt, ob ich eigentlich wisse, wie schön ich sei. Sie selbst habe ihr Leben lang nicht gesehen, wie gut sie als junge Frau aussah. Das ist mir extrem eingefahren. Ein anderer Patient erzählte, er habe sein Leben lang gearbeitet, um viel Geld auf der Seite zu haben. Jetzt könne er sich alles leisten, nur noch ein bisschen Leben könne er sich nicht kaufen. Er wünschte sich, er hätte mehr Zeit mit der Familie verbracht, hätte ihr gezeigt, wie sehr er sie liebt und sich für sie interessiert. Er kannte nicht einmal das Lieblingsessen seines Sohnes. Durch diese Arbeit habe ich gelernt, auf mein Herz zu hören. Aber am Schluss will ich sagen können: Doch, es hat für mich gestimmt.

Das heisst, Sie leben nun jeden Tag als könnte er ihr letzter gewesen sein?
Ich würde eher sagen, ich lebe bewusster. Manchmal mehr, manchmal weniger. Aber ich weiss, wie vergänglich das Leben ist und versuche mir das im Alltag immer wieder vor Augen zu führen.
palliative zh+sh, sa