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Appell gegen Abschottung und für mehr Lebensqualität

Appell gegen Abschottung und für mehr Lebensqualität

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Schutz des Lebens muss mit dem Schutz der Persönlichkeit und der Lebensqualität einhergehen, fordern verschiedene Medizinethikerinnen und Medizinethiker. (Bild: Adobe Stock/Ocskay Mark)

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01. Juli 2020 / Politik
Mit einem eindringlichen Appell an die Verantwortlichen aus Politik, Management, Pflege und Betreuung fordern verschiedene klinische Ethikerinnen und Ethiker, dass in der Langzeitpflege mehr getan werden muss für den Lebensschutz und die Lebensqualität der Bewohnenden. Das am 1. Juli veröffentlichte Schreiben umfasst zehn Postulate, in denen unter anderem auch eine Untersuchung der hohen Sterblichkeit während der ersten Pandemiewelle in Alters- und Pflegeheimen gefordert wird.
Die Coronapandemie hat die hohe Verletzlichkeit von Menschen in Institutionen der Langzeitpflege gezeigt; es gab verbreitet grosse Einbussen an Lebensqualität und gesundheitliche Verschlechterungen. In einem Appell weisen Medizinethikerinnen und Medizinethiker auf das Spannungsfeld zwischen den Schutzpflichten der Behörden und dem Recht auf Selbstbestimmung und der Achtung der Persönlichkeit der Bewohnerinnen und Bewohner von Pflegeeinrichtungen hin.

«Die Behörden und Institutionen tragen in der Pandemiesituation eine besonders grosse Verantwortung im Anordnen und Umsetzen von Schutzmassnahmen für Menschen in Institutionen der Langzeitpflege», schreiben verschiedene Medizinethikerinnen und Medizinethiker in ihrem am 1. Juli in der Schweizer Ärztezeitung publizierten Appell. Doch müsse der Schutz des Lebens auch mit dem Schutz der Persönlichkeit und der Lebensqualität einhergehen. Um diesen Überlegungen Nachdruck zu verleihen, haben sie den Appell «Lebensschutz und Lebensqualität in der Langzeitpflege» mit 10 Postulaten formuliert. Unterzeichnet wurde der Appell von weit über 100 Personen.

Der Appell richtet sich an Verantwortliche in Politik, Management, Pflege und Betreuung. Das Autorenteam möchte auch einen Beitrag leisten zur gesamtgesellschaftlichen Diskussion über die Ausgestaltung von Schutzmassnahmen und Einschränkungen des Rechts auf Selbstbestimmung und Einschränkungen der Lebensqualität. Für die Menschlichkeit einer Gesellschaft ist es relevant, wie sie mit Personen umgeht, die einer dauerhaften Pflege und Betreuung in den Einrichtungen der Langzeitpflege bedürfen.

Die zehn Postulate:

1) Die verfassungsmässig garantierten Freiheitsrechte der Bewohnerinnen und Bewohner von Einrichtungen der Langzeitpflege müssen vollumfänglich gewährleistet sein unter Einhaltung der für die Bevölkerung empfohlenen Schutzstandards und unter Vorlage entsprechender Schutzkonzepte.

2) Engen Angehörigen und Bezugspersonen sowie gesetzlichen Vertretungspersonen und Beiständen ist der Zugang zu urteilsunfähigen Personen zu gewähren unter Beachtung der allgemein geltenden Schutzstandards.

3) Es sollen Mittel gesprochen werden für eine unabhängige wissenschaftlichen Untersuchung der Zusammenhänge, welche in der ersten Pandemiewelle die hohe Sterblichkeit an COVID-19 in den Alters- und Pflegeheimen in der Schweiz erklären.

4) Es sind Massnahmen zu ergreifen, um in Pandemiesituationen das Vertrauen in die Behörden und in die Einrichtungen zu fördern. Dazu gehört der kontinuierliche Dialog mit den Bewohnerinnen und Bewohnern, den Angehörigen und den gesetzlichen Vertretungspersonen.

5) Bei der Planung und Umsetzung von Massnahmen gilt es, auch strukturelle Probleme anzugehen, welche in Institutionen der Langzeitpflege zu einer Verschärfung der oben aufgeführten Phänomene beitragen können. Dazu gehören:

a. Ein schlechter Skills-Grade-Mix (d.h. nicht erfüllte Anforderungen an die Anzahl und an die fachliche Qualifikation des Personals pro Schicht)

b. ein (chronischer) Personalmangel mit unterbesetzten Planstellen,

c. der Mangel an Schutzmaterial,

d. das Fehlen von Schutzkonzepten für Beistände, Besuchs- und Vertretungspersonen,

e. das Fehlen von Massnahmen zur Früherkennung von Infizierten beim Personal und bei den Bewohnerinnen und Bewohnern,

f. das Fehlen von professionell umgesetzten Palliative Care-Konzepten nach den Standards von palliative CH,

g. die kritische Überprüfung der Wohnsituation von Hochrisikopersonen in Grossinstitutionen und die Favorisierung kleinerer Wohneinheiten mit kleineren Behandlungsteams.

6) Kantonale Weisungen respektive Empfehlungen der Gesundheitsbehörden an die Institutionen sollen transparent sein und öffentlich publiziert werden. Die Hospitalisationskriterien für Bewohnerinnen und Bewohner mit Verdacht auf COVID-19 sollen bekannt sein, den Willen der Betroffenen berücksichtigen und bei Triagesituationen den geltenden nationalen Standards folgen; darüber hinaus dürfen keine weiteren Hürden für die Population in Langzeitinstitutionen bestehen.

7) Strukturen, die zu einer aktiven Fehlerkultur nach innen und aussen beitragen (z.B. interne und externe Critical Incident Reporting System (CIRS) und Whistleblowing-Prozesse), sollen gestärkt werden.

8) Bewohnerinnen und Bewohner, enge Angehörige, Vertretungspersonen und Beistände sollen transparent und proaktiv über bestehende Infektionen, vorbeugende Massnahmen und die pflegerische Versorgungssituation informiert werden.

9) Im Hinblick auf eine erneute Pandemiewelle sollen Einrichtungen, Organisationen und Gesundheitsbehörden Massnahmen vorbereiten, um die folgenden Persönlichkeitsrechte der Bewohnerinnen und Bewohner auch unter Isolationsbedingungen zu gewährleisten:

a. Zugang von Vertretungspersonen, Beiständen und engen Bezugspersonen,

b. Zugang von notwendigen Fachpersonen (Aktivierung, Physio- und Ergotherapie, Podologie, Seelsorge, etc.),

c. Recht auf Tageslicht, Bewegung, frische Luft und soziale Zuwendung,

d. Recht auf Mitbestimmung in Therapieentscheidungen,

e. Miteinbezug von Angehörigen und gesetzlichen
Vertretungspersonen bei unabwendbaren freiheitsbeschränkenden Massnahmen unter Einhaltung der gesetzlichen Bestimmungen.

10) Forschung ist zu fördern, die mit geeigneten wissenschaftlichen Methoden das Erleben der Betroffenen, Angehörigen, Pflegefachpersonen, Betreuenden und Heimleitungen zum Gegenstand hat, damit deren Stimme im politischen Diskurs zum Umgang mit der Pandemie besser wahrgenommen und in einer ähnlichen Situation stärker vertreten sein wird.
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