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Ein reichhaltiges Buffet zum Thema Sterbefasten

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Die Fallbeispiele aus dem besprochenen Buch zeigen, dass beim Sterbefasten keine Verallgemeinerungen möglich sind. (Bilder: AdobeStock)

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Peter Kaufmann, Manuel Trachsel, Christian Walter: Sterbefasten. Fallbeispiele zur Diskussion über den Freiwilligen Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit. 2020. Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart.

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13. September 2021 / Wissen
Mit dem Buch «Sterbefasten. Fallbeispiele zur Diskussion über den Freiwilligen Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit» liefern drei Autoren Anschauungsmaterial zu einer umstrittenen Praxis. In 21 Geschichten zeichnen sie den letzten Weg von Menschen nach, die durch das sogenannte Sterbefasten ihr Leben vorzeitig beendet haben.
Weder die Motive, die zum freiwilligen Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit (FVNF) führen, noch dessen Verläufe lassen sich verallgemeinern, das stellen die Autoren gleich zu Beginn klar. Publizist Peter Kaufmann, gleichzeitig Präsident der Exit-Stiftung palliacura, Manuel Trachsel, Psychiater und Medizinethiker, und Christian Walther, Neurobiologe, Hospizhelfer sowie Bürgerrechtsaktivist, haben 21 Fallgeschichten zusammengetragen. Zum Teil haben sie sie selbst recherchiert, zum Teil Fachzeitschriften, Büchern oder dem Internet entnommen.

Trotz der Warnung, nicht verallgemeinern zu dürfen, sucht die Leserin in den Beispielen unweigerlich nach Parallelen und Unterschieden. Vielen Betroffenen wurde zum Beispiel ein anderer Weg, ihrem Leiden selbst ein Ende setzen zu können, verwehrt, weshalb sie in einem zweiten Schritt das Sterbefasten wählten. Aus diesem Grund stammt wohl auch die Mehrzahl der Beispiele aus dem Ausland, mehrheitlich aus Deutschland und den USA. Nur vier Fallgeschichten kommen aus der Schweiz.

Wie geht Sterbefasten?
«Mit den vorgelegten Fallgeschichten wollen wir erreichen, dass sich die Leser ihr eigenes Bild davon machen können, was Sterbefasten real bedeutet», schreiben die Autoren. Offensichtlich sei die Wirklichkeit des Sterbefastens so vielfältig, dass pauschale Urteile nicht gefällt werden dürfen. Ihr «reichhaltiges Anschauungsmaterial» könne konkret denjenigen nützen, die entscheiden wollen, ob Sterbefasten für sie selbst oder für jemanden aus ihrem Umfeld irgendwann in Frage kommen könnte.

Ein paar Geschichten nahmen im Bekannten- oder Freundeskreis der Verfasser ihren Ursprung. Zwar hätten viele Personen schon von einem Fall gehört oder gar einen selbst erlebt. Bei gezieltem Nachfragen erhalte man jedoch wenige belastbare Angaben. Die drei Autoren hatten es sich aber zum Ziel gesetzt, möglichst umfassende Informationen über die Persönlichkeiten, die diesen Weg gewählt haben, ihre Beweggründe, die Verläufe der Sterbeprozesse und über allfällige Probleme zu erhalten, die dabei aufgetreten sind.

Viele Berichte hatte Christian Walther bereits für die Website www.sterbefasten.org recherchiert oder diese dafür aus englischsprachigen Medien übersetzt. Die Informationsplattform rief palliacura, die Stiftung der Sterbehilfe-Organisation Exit, ins Leben anlässlich eines Vorstosses an einer ihrer Generalversammlungen. Sie will umfassende Informationen zu wichtigen Fragen rund ums Sterbefasten vermitteln.

Benzos gegen Durst
Interessant und packend sind die Fallgeschichten allesamt zu lesen, zum Beispiel die der 71-jährigen Deutschen Wiebke E. Weil sie an der schweren chronischen Lungenkrankheit COPD litt, hatte sie schon früh darauf eingestellt, «eines Tages vorzeitig aus dem Leben zu scheiden». Sie war Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben, um sich über technische Möglichkeiten eines legalen Suizids zu informieren. In Deutschland war die Suizidbeihilfe damals noch restriktiver ausgelegt. Mit 57 liess sich die studierte Politologin vorzeitig pensionieren.

Als sie mit 70 Jahren einen Schlaganfall erlitt, konkretisierten sich ihre Pläne, mit Sterbefasten ihr Leben vorzeitig zu beenden. Für sie war dies nur die zweitbeste Möglichkeit, die ihr aber zusagte. Bei ihrem Mann und ihrem Umfeld stiess sie ebenfalls auf Unterstützung. Ihren Hausarzt versorgte die selbstbestimmte Patientin kurzerhand mit einem Stapel Bücher zum Thema, zwei Wochen vor Beginn des Sterbefastens.

Vermutlich vor allem, weil Wiebke E. ihren Durst nur schwer beherrschen konnte und täglich noch zirka 250 Milliliter trank – empfohlen wird einem Maximalmenge von 50 Milliliter pro Tag –, dauerte ihr Sterbefasten danach mehrere Wochen. Ihr Arzt verabreichte der ungeduldig werdenden Patientin nach drei Wochen Opiate und Benzodiazepine. Damit gelang es ihr, ihre Flüssigkeitszufuhr zu verringern. Nach 39 Tagen des FVNF starb sie. Ihrem Mann zufolge wohl auch nach unerwartet langer Dauer wegen «ihrer früheren guten Konstitution».
«Gebt mir im Fall eines Delirs nichts zu trinken»

Andere Verläufe dauern vergleichsweis kurz. Jener von Frau K., einer 90-jährige Schweizerin, nur sieben Tage. Als die Parkinson-Patientin kaum mehr schlucken konnte, und sich eine künstliche Ernährung abzeichnete, verzichtete sie auf Essen und Trinken. Sie zog den Verzicht im Pflegeheim durch, in dem sie bereits untergebracht war, eng betreut von einem ihrer Söhne und ihrem Mann. Frau K. hatte im Vorfeld eine spezifische Patientenverfügung erstellt und sie neben ihrem Bett aufhängen lassen: Für den Fall, dass sie im Zustand von Verwirrtheit oder eines Delirs um ein Getränk bitten sollte, solle man ihr diesen Wunsch ausschlagen. Ob dies medizinethisch zulässig ist, sei umstritten, schreiben die Autoren in der «Anmerkung» zur Geschichte von Frau K.

Eines der Beispiele, die in der Öffentlichkeit bereits bekannt waren, ist das von Rosemary Body. Die 94-jährige US-Amerikanerin litt an keiner schweren Krankheit, zog sich jedoch bei einem Sturz Frakturen an der Wirbelsäule zu, die grosse Schmerzen auslösten und sie auf fremde Hilfe angewiesen machten. Ihren FVNF liess die 94-Jährige ihre Tochter mit der Videokamera aufzeichnen. Die Reportage «Leaving life on my own terms» löste in den USA eine heftige Debatte aus. Eine Seite titulierte ihn als «Pro-Suizid-Propaganda», die andere waren begeistert und zogen diesen Weg ebenfalls für sich in Betracht. Die Autoren ordnen das Fallbeispiel wiederum in den «Anmerkungen» in einen grösseren Kontext ein und nennen die zugrunde liegenden Grundsatzfragen:
  • Ist der FVNF ein Suizid?
  • Wie stellen sich Pflegende und Angehörige zu einem solchen Entschluss?
  • Ist der Sterbeprozess bei FVNF einem Suizid gleichzusetzen?

Gerade die klugen und ausgewogenen Anmerkungen sind es, die dieses Buch auch für kritisch eingestellte Leserinnen zu einer lohnenden Lektüre machen. Die Objektivität zeigt sich in einer meist nüchternen Sprache, zuweilen scheint aber eine Wertung durch, zum Beispiel in den Zwischentiteln, die etwa «schlimme Pflegesituation», «unerträgliche Lebenssituation» oder «eine kluge Entscheidung» lauten. Da sich zwei der drei Autoren aber auch klar in der Nähe von Exit verorten lassen, überrascht dies nicht.

Zwischen Objektivität und Anwaltschaft
Detailliert sind auch die Quellenangaben. Bei jeder einzelnen Geschichte ist vermerkt, woher sie stammt und für den Fall, dass sie bereits einmal veröffentlicht wurde, sind die entsprechenden Artikel angegeben. So können sich Interessierte ein vertieftes Bild machen.

Die angestrebte Objektivität könnte man den Autoren jedoch, umgekehrt argumentiert, auch vorwerfen. Sie hätten sich ruhig ein bisschen aus dem Fenster lehnen und sich klar für den FVNF aussprechen dürfen, was sich packender gelesen hätte. Wünschenswert wäre auch eine gendergerechte Sprache gewesen, die zumindest auch weibliche Formen nennt.

Schade ist, dass relativ selten Pflegende von Spitex-Organisationen oder spezialisierten Palliative-Care-Teams zu Wort kommen. Sie wären allenfalls auch eine Quelle gewesen, um an nicht nur positiv verlaufende Fallbeispiele zu kommen.

Der Plan der Autoren ist gelungen: Sie bieten mit diesem Buch Menschen, die über das Sterbefasten nachdenken, eine Entscheidungsgrundlage. Man kann sich darin ein umfassendes Bild der Methode machen und erfährt wichtige Bedingungen wie die notwendige pflegerische Begleitung – darunter der grosse Stellenwert einer guten Mundpflege – und häufige Probleme wie eben ausgetrocknete Schleimhäute oder Verwirrtheit. Dass die Berichte durchs Band von einer positiven Grundstimmung geprägt sind, relativieren die Autoren selbst. Traumatisierte Hinterbliebene erzählen vermutlich nicht gern vom Erlebten.
palliative zh+sh, Sabine Arnold