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Das Kraftreservoir Fantasie

Das Kraftreservoir Fantasie

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Eine Zeichnung, die Marina wenige Wochen vor ihrem Tod gemacht hat. (Bild: zVg)

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11. November 2015 / Medien
Wie tröstet eine Mutter ihre kleine Tochter, die sich krümmt vor Schmerzen? Woher soll diese die Motivation nehmen, sich an mühsamen Therapien zu beteiligen? Wie nimmt man einer 7-Jährigen die Angst vor dem Tod? Regula Meier hat eine Fantasiefigur erfunden. Eine Kräuterhexe hat ihre Tochter Marina, die an einem Neuroblastom erkrankt ist, immer wieder gestärkt.

Regula Meier hat sich nicht hingesetzt und lange überlegt, wie sie ihrer damals 5-jährigen, krebskranken Tochter Marina pädagogisch richtig helfen kann. Nein, die Mutter entwickelte die Fantasiefigur quasi spontan und instinktiv, als sie am Spitalbett ihrer Tochter sass und «sich das Leben aus dem kleinen Körper mehr und mehr zurückzog». Die geheimnisumwobene Kräuterhexe Chrysanthemia sollte das fantasievolle Mädchen animieren, ein weiteres Medikament zu schlucken und Hoffnung zu schöpfen. Zudem hatte die Mutter damals, kurz nach der Diagnose, bereits das Sterben im Hinterkopf. «Da niemand weiss, was nach dem Tod kommt, schien es mir gerade für ein Kind tröstlich zu wissen, dass die Kräuterhexe einen auch in diesem Moment an der Hand nimmt und begleitet», schreibt sie im Buch «Ein Stein, der mir Flügel macht», das kürzlich bei Zürcher Sachbuchverlag Rüffer & Rub erschienen ist. Die Autorin sagt, sie habe das Buch für Familien geschrieben, die ebenfalls ein krankes Kind haben.

Die Kräuterhexe nahm über Briefe Kontakt mit dem Kranken Mädchen auf, deponierte diese in einem grünen Säckchen, meist unter einer grossen, starken Tanne im nahen Wald. Immer wieder fanden sich auch Geschenke wie Kraftsteine, Misteltropfen oder Duftöl darin. Die Mutter fragte sich zwar zu Beginn, ob dieser Schwindel überhaupt erlaubt sei. Doch Marinas glückliches Gesicht über Chrysanthemias Auftauchen wischte jeden Zweifel beiseite. Die Kräuterhexe, die bis zu Marinas Tod ein Familiengeheimnis blieb, half in dieser schwierigen Zeit auch Marinas Geschwistern, einem älteren Bruder und einer jüngeren Schwester. Nach Marinas Tod ermöglichte das Fabelwesen ihnen immer noch eine Verbindung zu ihrer Schwester. «Sie schreiben ihr manchmal Briefe», erzählt Meier in einem Interview dem Winterthurer «Landboten».

«Eine weichere, kindergerechtere Welt neben der Medizin»

Kinderärztin Eva Bergsträsser, die am Kinderspital Zürich das Kompetenzzentrum für Pädiatrische Palliative Care aufgebaut hat, verfasste ein Nachwort zu Meiers bewegendem Buch. Während Marinas Behandlung habe sie nichts von der Kräuterhexe gewusst. «Im Nachhinein ist sie für mich aber absolut schlüssig, und ich fand diese Idee sehr beeindruckend und schön», schreibt sie. Kinder mithilfe der Fantasie durch eine Krankheit zu begleiten und neben die Welt der Medizin eine andere, weichere und kindergerechtere Welt zu stellen, habe sie fasziniert.

«Ein Stein, der mir Flügel macht» hat der Mutter wohl beim Verarbeiten geholfen, auch wenn sie das laut «Sonntagszeitung» bestreitet. Das Durchforsten ihrer Tagebücher habe sie vielmehr zurückgeworfen, heisst es da. Wie auch immer. Das mit Kinderzeichnungen, Fotos und den Briefen der Kräuterhexe illustrierte Buch gibt Eltern Ideen, wie sie ihre Kinder in einer schwierigen Situation mithilfe der Fantasie unterstützen können. Es ist auch ein Dokument dafür, dass Kinder spüren, wenn sie sterben müssen. Monate nach Marinas Tod fand Familie Meier einen Brief, den das kranke Mädchen kurz vor ihrem Tod an die Kräuterhexe geschrieben hatte – und das obwohl sie noch gar nicht schreiben und ihr auch niemand dabei geholfen haben konnte. Sie schrieb: «Liebe Kräuterhexe. Ich möchte ein Stein wo mir Flügel macht. Hast du so einen? Liebe Grüsse Marina». Gestorben ist Marina übrigens in der Walpurgisnacht.

Regula Meier: Ein Stein, der mir Flügel macht. Wie meine krebskranke Tochter der Kräuterhexe begegnet. Rüffer & Rub, 220 Seiten, ca. 28 Franken. ISBN 978-3-907625-89-7.