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Ein blinder Fleck in der Psychiatrie

Ein blinder Fleck in der Psychiatrie

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Manuel Trachsel: «Wir haben in der Psychiatrie vor allem beim Thema Suizid, den wir ja vermeiden wollen, mit dem Tod zu tun.» (Bild: zVg)

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Fallstudie: Zwangsbehandlung bei Anorexia Nervosa auf jeden Fall? Die Suche nach einem Mittelweg zwischen kurativem und palliativem Ansatz

In einem Artikel im «American Journal of Bioethics» publizierte Manuel Trachsel zusammen mit Kolleginnen und Kollegen die Geschichte einer 18-jährigen Patientin, die an schwerer Anorexia Nervosa litt. Bei ihrem Spitaleintritt wog sie noch 24 Kilogramm. Seit sie elf Jahre alt war, versuchte sie von der Magersucht wegzukommen. In den sieben Jahren seither hatte sie bereits zehn Behandlungen durchlaufen, drei davon in spezialisierten Institutionen, die auch Zwangsernährung anwendeten. Die junge Frau hatte weder Hobbys noch Freunde. Sie war zwar intelligent, wurde aber nach elf Jahren aus der Schule ausgeschlossen, weil sie dem Lehrplan nicht mehr folgen konnte. In früheren Kliniken hatte sie die meisten Therapievorschläge zurückgewiesen und die Betreuung war immer schwieriger geworden. Gegenüber den Pflegenden war sie aggressiv und auch übergriffig.

Lasst mich endlich in Ruhe!

Nun, beim erneuten Spitalaufenthalt, wurde wieder eine Zwangsernährung ins Auge gefasst, für die sie aber eigentlich schon zu schwach war. Sie äusserte den Wunsch, endlich in Ruhe gelassen zu werden, auch wenn dies ihren Tod bedeutet hätte. Mehrere Psychiater bestätigten ihre Urteilsfähigkeit. Ihre Eltern jedoch beschwörten die Ärzte, die Behandlung nicht aufzugeben. Nach langem Hin-und-her wurde sie auf eine Station verlegt, die mehr Wert auf Massnahmen wie Begleitung und Motivation legte als auf Zwang oder Verhaltenskontrolle. Nachdem sie erneut den Wunsch nach Palliative Care geäussert hatte, wurde ihr diese gewährt, auch wenn es für das behandelnde Team sehr schwierig war. Kurz bevor ihre Organe versagten, äusserte die Patientin den Wunsch, weiterzuleben und zuzunehmen. Tatsächlich tat sie dies dann auch. Nach einer stabilen Phase in einem ambulanten Setting, die ein Jahr dauerte, kehrte die junge Frau auf die Palliativstation zurück. Eine Woche nach dem erneuten Eintritt, in der sie Essen und Trinken verweigerte, starb sie.

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25. November 2015 / Wissen
In der Palliative Care hat Psychiatrie einen hohen Stellenwert. Umgekehrt ist dies nicht der Fall: Palliative Care ist in der Psychiatrie praktisch nicht vorgesehen, auch nicht für Patientinnen und Patienten mit lebensbedrohlichen psychiatrischen Erkrankungen wie Anorexie oder fortgeschrittener Demenz. Ein Forschungsteam aus Zürich untersucht nun, ob und wie auch diese Gruppe von palliativ-medizinischen Konzepten profitieren kann.

Behandlungsresistente Abhängigkeitsstörung, therapieresistente Schizophrenie, schwere chronische Depression. Bei welchen Krankheiten ausserdem palliative Ansätze Sinn machen könnten, kann Arzt und Studienleiter Manuel Trachsel nicht sagen. Noch nicht. «Die Frage, bei welchen psychischen Erkrankungen Ansätze aus der Palliative Care zum Zug kommen könnten, ist offen. Palliative Care ist in der Psychiatrie ein blinder Fleck.» Ein Team um den Wissenschaftler, der Oberassistent am Institut für Biomedizinische Ethik und Medizingeschichte (IBME) der Universität Zürich ist, startet nächstes Jahr ein Forschungsprojekt. Zur Forschungsgruppe gehören unter anderem Professor Paul Hoff von der psychiatrischen Universitätsklinik Zürich (PUK), Florian Riese, ebenfalls von der PUK und Nikola Biller-Andorno, Professorin und Direktorin des IBME.

Die Studie zielt darauf ab, Meinungen, Haltungen und Praktiken von Psychiaterinnen und Psychiatern in der Schweiz und den USA gegenüber Palliative Care in der Psychiatrie zu erheben und auszuwerten. Gestützt auf diese Antworten wollen die Forscherinnen und Forscher Vorschläge machen, wie die Behandlung schwer und unheilbar kranker Psychiatriepatienten verbessert werden kann. Die Psychiatrie in der Schweiz arbeite vor allem kurativ oder rehabilitativ, sagt Trachsel. «Patientinnen und Patienten, bei denen diese Ansätze keinen Erfolg mehr versprechen, laufen Gefahr benachteiligt zu werden (siehe Fallstudie in der Seitenleiste). Diese Patientengruppe ist besonders verletzlich» Ein weiterer Grund für den blinden Fleck ist, dass Sterben und Tod in der Psychiatrie tabuisiert werden. «Wir haben in der Psychiatrie vor allem beim Thema Suizid, den wir ja vermeiden wollen, mit dem Tod zu tun.»

Doktorandin oder Doktorand gesucht»

Trachsels Team wird nun rund 3000 Psychiaterinnen und Psychiater befragen, wie sie palliativen Behandlungsmethoden bei Patienten mit chronischen psychischen Krankheiten gegenüber eingestellt sind. An der Umfrage sollen nicht nur Ärztinnen und Ärzte aus der Schweiz teilnehmen, sondern zur Hälfte auch aus den USA. Die Idee dahinter: «Palliative Care hat in den USA eine längere Tradition als bei uns.» Scott A. Irwin, der Arzt, mit dem Trachsel in den USA zusammenarbeitet, ist gleichzeitig Psychiater und Professor für Palliativmedizin. Er hat regelmässig Anfragen von psychisch schwer und unheilbar erkrankten Patienten zur Aufnahme im Hospiz, in dem er arbeitet.

Die Studie «Palliative Care for Patients with Severe Persistent Mental Illness» gehört zu jenen Projekten, die im Rahmen des Programms «Forschung in Palliative Care» einen namhaften Förderbeitrag erhalten haben. Die 217‘836 Franken, welche die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften diesem Projekt zugesprochen hat, gehen vor allem in die Finanzierung einer Promotionsstelle für drei Jahre. In der Ausschreibung wird eine Person mit einem «exzellenten Masterabschluss in Medizin, Psychologie, Pflege- oder Sozialwissenschaften» und Interesse an den Themengebieten Psychiatrie und Palliative Care gesucht.

Manuel Trachsels Forschungsschwerpunkte bilden neben den Gebieten Psychiatrie und Palliative Care auch Psychiatrie- und Psychotherapie-Ethik sowie die Themen Urteilsfähigkeit, affektive Störungen und Essstörungen. Er hofft mit dem neuen Projekt eine grundsätzliche Diskussion in der Psychiatrie anzustossen. Für ihn ist die Frage nämlich offen, ob und wie in der Psychiatrie neben dem kurativen ein palliativer Ansatz sinnvoll sein kann.
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