palliative zh+sh

Sprunglinks/Accesskeys

Hund auf der Palliativstation: Wenn Aloha zu Besuch kommt

Labradorhündin Aloha bringt als Sozialhund Leben und vor allem Liebe in die Villa Sonnenberg. (ec/bw)

Portrait

Weitere Infos zum Thema

Dokumente zum Thema

Video zum Thema

24. Oktober 2022
Am Freitag ist Besuchstag. Die Labradorhündin Aloha kommt alle zwei Wochen in die Villa Sonnenberg in Affoltern am Albis. Wir durften sie begleiten.
Es ist Freitagnachmittag als ich im Gang der Villa Sonnenberg in Affoltern am Albis stehe und mich mit Stationsleiterin Carmen Kissling unterhalte. Im Stationsbüro nebenan herrscht reger Betrieb. Die Pflegenden reden miteinander, richten Unterlagen, jemand ist am Telefon, die Atmosphäre ist angeregt, aber nicht hektisch. Und da öffnet sich auch schon die Türe der ehrwürdigen Villa und der eigentliche Grund meines Besuches tappt ins Haus: Aloha, 7-jährig, schwarz, Labradorhündin - und Sozialhund. Sie schnuppert interessiert rum, schaut dann freundlich in die Runde und geniesst es ganz offensichtlich, dass sie von den Angestellten herzlichst begrüsst wird. Alle zwei Wochen ist Aloha mit ihrer Hundeführerin Evi Camenzind in Affoltern zu Besuch – alternierend mit einem anderen Team.

***

«Und wer möchte heute, dass wir bei ihm vorbeischauen?», fragt Evi Camenzind die Pflegenden. «Herr W. hat gesagt, er würde sich freuen», sagt die Stationsleiterin, und so machen Evi und ich uns mit Aloha auf in den 1. Stock. Als wir das Zimmer betreten, schlägt uns heiteres Geplauder entgegen. Herr W. sitzt auf dem Bett und um ihn herum drei Bekannte, die mit ihm lachen, Sprüche klopfen und diskutieren. Evi stellt uns vor und fragt, ob wir stören oder ob wir ihn auch besuchen dürfen. «Klar», sagt Herr W. und schaut zu Aloha. «Du bist ja eine Schöne!». Er lächelt. Seine Bekannten brechen bald auf, Stühle werden rumgeschoben, gute Gesundheit dem Patienten gewünscht. Dann wird es ruhiger im Raum. Herr W.s Aufmerksamkeit gilt nun ganz der schwarzen Labradorhündin. So, wie er mit ihr spricht, hat er zweifellos Erfahrung mit Hunden. Hat er selbst einen? Er habe einen Pflegehund, der sei gestern bei ihm in der Villa gewesen, sagt W. «Ein Schweizer Sennenhund!» Sorgfältig neigt der Mann sich zu Aloha und streichelt sie. Ob er möchte, dass die Labradorhündin zu ihm aufs Bett komme, fragt Evi und nimmt ein Stofftuch aus der Tasche. Herr W. nickt, und so legt die Hundeführerin die violette Decke aufs Bett. Ein Zeichen für Aloha – und hopp sitzt sie auf dem Pflegebett. Herr W. lächelt. Und Aloha weiss, dass jetzt Zeit für ein Leckerli ist. Evi reicht Herrn W. ein Plastikböxli mit kleinen Rüebli-Stücken drin. «Rüebli?», fragt der Patient erstaunt. «Ja, die mag sie sehr», sagt Evi und schon hält Herr W. ein Rüeblistück vor Alohas Nase. Vorsichtig nimmt sie es und kaut genüsslich. Und sie hat Glück: Herr W. ist nicht knausrig und füttert im Eiltempo das vierbeinige Schleckmaul. Labradore sind bekannt für ihren guten Appetit. Erst als das Dösli leer ist, entspannt sich Aloha gänzlich und legt sich zufrieden auf die Decke.

***

Im November 2015 ist Aloha zur Welt gekommen. Mit 10 Wochen übernahm Evi die Patenschaft. Als Patin hatte sie die Aufgabe, Aloha zu sozialisieren, sie an die Umwelt zu gewöhnen und ihr die Grunderziehung sowie Vertrauen und Sicherheit zu vermitteln, was gut gelang. Eigentlich hätte sie in der Stiftung Schweizerische Schule für Blindenführhunde in Allschwil zum Blindenführhund ausgebildet werden sollen, aber aus medizinischen Gründen war das dann doch nicht möglich. So bekam Evi die Möglichkeit, die Labrador-Dame als Familienhündin weiter zu betreuen. Zusammen absolvierten die zwei bei der Blindenführhundeschule Allschwil eine 9-monatige Ausbildung zum Sozialhunde-Team. Die Bindung zwischen Hundeführerin und Sozialhund ist sehr eng. Aloha reagiert auf das kleinste Zeichen von Evi – und Evi spürt jede noch so feine Reaktion von ihrer vierbeinigen Partnerin. Das Vertrauen ist tief. Im Mai 2019 hatten die zwei ihren ersten Einsatz in der Villa Sonnenberg in Affoltern. Nach absolvierter Ausbildung hatte Evi bei verschiedenen Institutionen nachgefragt, ob man interessiert wäre, mit ihr und Aloha zu arbeiten. «In Affoltern stiess ich auf offene Türen», erinnert sie sich. Die Besuche hier erlebt sie als sehr bereichernd und spannend. «Es ist jeder Besuch wieder anders», sagt sie. Sie wisse nie zum Voraus, was sie erwarte – und gerade dies fasziniere sie. Und die Gespräche mit den unheilbar kranken Menschen. «Aloha ist ein eigentlicher Türöffner», sagt Evi. «Viele hier hatten einst selbst Haustiere und so ergibt sich schnell ein Gespräch.» Ein Gespräch, das sich endlich mal nicht um die Krankheit dreht. Diese sei kaum je ein Thema, sagt Evi. Und das gibt den Patienten die Gelegenheit, ihr Leiden für eine kurze Zeit zu vergessen. Der Blickkontakt mit dem Hund, aber auch das Streicheln und Füttern hellt die Stimmung der Betroffenen auf. Sie beginnen aus ihrem Leben zu erzählen, lächeln, verspüren vielleicht eine Art Glücksgefühl.

***

Wir sind zurück bei Herrn W. Dieser plaudert angeregt mit uns, gleichzeitig bekommt Aloha ihre Streicheleinheiten. Er erzählt von seinen Touren als Kristallsucher, die er nun nicht mehr machen könne. «Aber ich kenne die besten Plätze in der Schweiz», sagt er stolz und holt sein Handy hervor. Dort ruft er die Schweizerkarte auf und scrollt durch den Kanton Graubünden. «Hier, wenn man das Tal hinuntergeht, dann kommt man an einen sehr schönen Platz, wo man beste Kristalle findet», sagt er zu Evi. Diese ist sich zwar eher ans Pilzesammeln gewohnt als ans Kristallsuchen, aber über ihre Hobbies haben die beiden einen regen Austausch. Aloha beobachtet derweilen ihren Sitznachbarn intensiv. Wäre es nicht mal wieder Zeit für ein Leckerli? Evi zaubert das nächste Böxli hervor und Herr W. füttert mit etwas zittriger Hand die Labrador-Dame. Dabei sind Aloha und Evi in ständigem Austausch. Dort ein kurzes Wort, da ein fast unmerkliches Zeichen. Nach mehr als einer halben Stunde lenkt Evi das Gespräch dem Ende zu. Aloha ist müde, Herr W. allmählich auch.

***

Manchmal ist für Angehörige die Begegnung mit dem feinfühligen Sozialhund genauso wertvoll wie für eine Patientin selbst. Evi erinnert sich an die Woche zuvor, als sie mit Aloha vorsichtig ein Zimmer betrat und die ältere Dame sagte, sie wolle nicht noch mehr Besuch haben. Ihr Ehemann meinte dann, dass er selbst ganz gut eine «hündische Liebkosung» gebrauchen könnte. Und so wurde auch dieser Besuch wieder einzigartig. Oder die Hundeführerin denkt zurück an eine Begegnung mit einem relativ jungen Vater und seiner Familie. Die Tochter im Teenageralter genoss es, mit der Hündin auf dem Boden zu spielen, zu lachen und Aloha ganz fest zu knuddeln. Bei diesem Anblick realisierte die Mutter, dass die Tochter wegen der Krankheit des Vaters in letzter Zeit viel zu kurz gekommen war. Zuwendung und Aufmerksamkeit konzentrierten sich auf den Schwerkranken. Darüber sprachen Mutter und Tochter dann auch auf liebevolle Art.

***

Im Erdgeschoss der Villa Sonnenberg werfen wir einen Blick ins Stationszimmer. Gibt es sonst noch eine Patientin oder einen Patienten, welche Aloha einen Besuch abstatten darf? «Versucht es doch mal bei Frau K.», sagt eine Pflegerin und weist auf eine Zimmertür. Kurz darauf klopft Evi an, wir treten vorsichtig ein. «Grüezi Frau K. Dürfen wir ein bisschen zu ihnen kommen?» Die ältere Dame mit schütterem Haar richtet sich im Bett auf. «Oh, ein hübscher Besuch», sagt sie – scheint aber etwas verwirrt. Dieser Eindruck bestätigt sich schnell. Frau K. sitzt inzwischen auf dem Bettrand und schaut uns an. Alohas Anwesenheit hat sie schon wieder vergessen, sie beachtet sie nicht. Frau K. ist stark dement. Sie erzählt uns zwar etwas, aber verstehen können wir sie nicht richtig. Etwas von «dass ich das däne dänn scho mal säge» murmelt sie und weitere unklare Sätze. Ob sie den Hund streicheln wolle, fragt Evi vorsichtig. «Ja, ja», sagt Frau K., schaut aber weder den Hund noch uns an. Und mit dem Dösli mit Rüebli kann sie auch nichts anfangen. Aloha bekommt trotzdem ihr Gemüseleckerli – von ihrer Chefin. Als Frau K. zwischen einem Schwall von Worten sagt, sie wolle «glii mal eis pfuuse» verabschieden wir uns. Diesmal hat Aloha die Nähe zur Patientin nicht finden können. Aber auch das gehört zu ihrem Job dazu.

***

«Die Einsätze mit Aloha sind alle einzigartig und sehr berührend», sagt Evi als wir uns vor der Villa verabschieden. «Zugleich sind die Besuche für Aloha anstrengend und ich muss dafür sorgen, dass sie nicht überfordert wird». Evi Camenzind weiss nie, wer auf sie wartet und wie die Begegnung sein wird. «Die Arbeit mit Aloha zeigt mir täglich, dass nur das Jetzt zählt», sagt Evi und streichelt ihrer vierbeinigen Partnerin übers Fell. «Hunde gehen vorbehaltlos auf Menschen zu. Aloha ist bei ihrem Einsatz im Krankenzimmer weder wählerisch, noch wertend.» Und wenn es dann obendrauf Aufmerksamkeit, Streicheleinheiten und ein Leckerli gibt – umso besser.
palliative zh+sh / Bettina Weissenbrunner