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Zwischen Horrorszenario und Zukunftsmusik

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20. Juni 2019 / Region
Die Digitalisierung ist im Gesundheitswesen nicht mehr aufzuhalten. Technische Hilfsmittel, künstliche Intelligenz sowie das Internet helfen – klug eingesetzt – die Palliative Care menschlicher zu machen. So lautete das Fazit unserer spannenden Jahrestagung.
Der Sterbende liegt im Spitalbett. Die Ärztin lädt von seinem implantierten Chip alle Daten aufs Tablet, ohne Blickkontakt mit ihm aufzunehmen oder ihn etwas zu fragen. «Sie hatten wohl eine unruhige Nacht», stellt sie fest. «Die Kurve ihrer Traumtätigkeit deutet auf Angstzustände hin. Statistisch gesehen ist das im Stadium ihrer Krankheit normal.». Das Theater Knotenpunkt eröffnete die Jahrestagung von palliative zh+sh mit zwei Szenen.
Darin arbeitete es sowohl die Gefahren als auch das Potenzial der Digitalisierung in der Palliative Care heraus. Monika Obrist, Geschäftsleiterin von palliative zh+sh, hatte in der Begrüssung dazu aufgerufen, die bekannte Palliative-Care-Definition von «Low Tech und High Touch» einfach mal umgekehrt zu denken.

Pflegeroboter Viktor leistet der Palliativpatientin zu Hause zwar Gesellschaft und könnte Notfälle verhindern. Richtig mit ihm reden, kann die Kranke aber nicht, weil er nur Definitionen hinunterrattert und sie partout nicht duzt. Die Spitex-Frau, die dazu kommt, stellt den Roboter zwar auf Duzis um, menschlicher wird er dadurch aber nicht. Als er den sinkenden Sauerstoffgehalt im Vortragssaal feststellt, macht er sich sogar selbstständig. Er evakuiert seinen Schützling gegen dessen Willen aus dem Gebäude.
«Niemand muss mehr Telefonbücher auswendig lernen». Jörg Goldhahn

Künstliche Intelligenz, die Bestellungen von Medikamenten auslösen oder sie fehlerfrei richten kann. Algorithmen, die aus der Analyse von Daten den Todeszeitpunkt eines Menschen genauer voraussagen können als Ärztinnen und Ärzte. Das Erkennen von Herzrhythmusstörungen per Smartwatch. Das alles gibt es bereits. Auch in unseren Alltag haben wir es mit künstlicher Intelligenz und «Machine Learning» zu tun, wie Jörg Goldhahn in seinem Referat ausführte. «Denken Sie nur an Siri, Alexa und Spotify.» Der ETH-Professor ist am Departement für Gesundheitswissenschaften und Technologie tätig und wirkt am Institut für translationale Medizin als stellvertretender Leiter vor. Letzteres bedeute, «wissenschaftliche Grundlagen in die medizinische Behandlung zu übersetzen».




An der ETH werden angehende Ärztinnen und Ärzte auf eine Medizin vorbereitet, die vom technologischen Fortschritt profitiert. Weil Computer unendlich viele Informationen speichern und gezielt wiedergeben können, «werden in der Medizin sprechende Berufe künftig wichtiger sein als Experten». Niemand müsse mehr Telefonbücher auswendig lernen, sagte Goldhahn. Auch Diagnosestellungen seien per Algorithmen genauer, weil diese zum Beispiel in der Dermatologie Millionen von Haut-Bildern vergleichen könnten. Ärztinnen und Ärzten würden trotzdem nicht überflüssig, sie müssten sich aber diesem Wandel anpassen. «Es geht nicht darum, Menschen zu ersetzen, aber Interaktionen zu erleichtern.»

Der ETH-Professor plädierte in seinem engagierten Vortrag dafür, dass Hochschulen und die Anbieter im Gesundheitswesen sich mit der Digitalisierung beschäftigen und das Feld nicht den grossen Technologie-Konzernen wie Apple oder Google überlassen. Der Fortschritt müsse erstens den Patientinnen und Patienten, zweitens den Behandlungsteams und drittens vielleicht den Institutionen dienen. Spare eine Technologie idealerweise Zeit ein, gehe es nicht an, dass das Spital deswegen Personal entlasse. «Sondern die Fachpersonen könnten ihre Zeit kluger nutzen.»

Im anschliessenden Podium mit Goldhahn nahmen auch Pflegeexpertin Isabelle Weibel, Seelsorger Matthias Fischer sowie Palliativmediziner Stefan Obrist teil. Letzterer brachte es auf den Punkt: «Eigentlich helfen uns die Technologien zu sehen, was menschlich wirklich wichtig ist.» Eine digitale Krankenakte sei sicher sinnvoll und mache den Übergaberapport vermeintlich überflüssig. Auf seiner Station hätten sie deswegen aber immer wieder mit Missverständnissen zu kämpfen, weil die Gewichtung der Informationen fehle, so Obrist. Die Fähigkeit zur Empathie werde für Ärztinnen und Ärzte zudem noch wichtiger, denn «Patientinnen und Patienten reagieren auf ehrliches Interesse. Man kann ihnen keine Rolle vorspielen».

Haltung, Beziehung und Zeit. So definierte Pfarrer Fischer die Anforderungen an den Menschen in der Palliative Care, die ein Computer nicht übernehmen könne. Den Seelsorgenden komme eine Art «Wächteramt in Beziehungsgestaltung» zu. Nichtdestotrotz würden in der Seelsorge die modernen Informationsmittel wie Chat-Funktionen ebenfalls genutzt. «Rückgängig machen können wir diesen Wandel nicht. Jetzt gilt es für uns, à jour zu bleiben.» Auch Weibel, die in der Langzeitpflege arbeitet, zeigte sich offen gegenüber Robotern, die zum Beispiel Gedächtnisspiele mit Bewohnenden machen. «Die Spiele können aber Gefühle auslösen, die ein Roboter nicht auffangen kann», gab sie zu bedenken.

Beim Ausstrahlungstermin schon tot

In der niederländischen Reality-TV-Show «Over Mijn Lijk» erzählen fünf junge Menschen von ihrer unheilbaren Erkrankung. Das Fernsehteam begleitet sie zu Behandlungen und filmt zum Schluss auch am Sterbebett. Zum Zeitpunkt der Ausstrahlung sind die Protagonistinnen und Protagonisten meist schon tot. Gekonnt gemacht und mit Musik unterlegt setzt die Doku-Soap auf Spannung, Rührung und Mitleid. Kulturwissenschaftlerin und Germanistin Corina Caduff präsentierte in ihrem Referat «Szenen des Sterbens in Fernsehen, Literatur und Internet». In der holländischen Serie, die bereits seit 2006 existiert, «prallt ein Boulevard-Format auf die Schwere des Themas». Ob das nun eine Bagatellisierung, allein den Voyeurismus der Zuschauenden befriedige oder als öffentlicher Diskurs das Sterben enttabuisiere, liess sie offen.




Die Todesverdrängung begann in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und erreichte um die Jahrtausendwende ihren Höhepunkt. In den letzten zehn Jahren aber seien Sterben und Tod wieder mehr in der Öffentlichkeit anzutreffen, sagte Caduff. In der Literatur entwickelte sich ein eigenes Genre dafür. Den Anfang machte der an einem Hirntumor erkrankte Schriftsteller Wolfgang Herrndorf – den man von seinem Roadmovie-Roman «Tschick» kennt – mit seinem Blog «Arbeit und Struktur». Dieser erschien später sogar in Buchform. Danach folgte zum Beispiel der Roman des Regisseurs Christoph Schlingensief «So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!». Viele weitere ähnliche Geschichten, mit den immer gleichen Elementen, folgten. «Eigentlich sind das Patientenberichte pur», sagte Caduff. Ihnen allen gemeinsam sei unter anderem eine Art «Lebensrückschau und ein Ringen um eine kohärente Lebenserzählung». Ausserdem würden sich alle Autorinnen und Autorinnen – in der Regel eher «linke Atheisten» – auch mit spirituellen Fragen auseinandersetzten.
«Wir befinden uns in einer spannenden Phase, in der die Todesverdrängung aufbricht». Corina Caduff

Nach weiteren Beispielen von Bloggern, die teils in Text-, teils in Videoform von ihrem Sterben berichteten, präsentierten die Kulturwissenschaftlerin ein eigentümliches Format von Videos, die offenbar zahlreich im Netz kursierten. Es sind Video-Posts von Söhnen, die sich in Selfie-Manier neben ihren sterbenden Vätern präsentieren. Einer singt. Bei einem läuft im Hintergrund Country-Musik. Wussten die Patienten davon? Sind die Filme ethisch vertretbar? Was wollen die Produzenten damit? In der anschliessenden Diskussion sagte Caduff, sie deute diese Videos, ohne zu werten, als eine bestimmte Form von Abschiednehmen. «Wir befinden uns in einer spannenden Phase, in der die Todesverdrängung aufbricht. Es entsteht ein neuer Gestaltungsraum, in ihm kann experimentiert werden.»




Nach der Mittagspause, die viele der gut 110 Teilnehmenden im Garten im Alterszentrum Hottingen in der Sonne verbrachten, standen vier Workshops auf dem Programm. Fast nahtlos schloss der Workshop von Sabine Arnold an das Referat von Corina Caduff an. Die Kommunikationsbeauftragte von palliative zh+sh, zeigte verschiedene Blogs, Fotoreportagen von Sterbenden oder auch Instagram-Posts -beispielsweise jener einer «Death Doula», einer Sterbeamme – und diskutierte mit ihren Gruppen, wo sie die Grenzen zum Voyeurismus ziehen. Arnold begann mit einem persönlichen Beitrag. Ein Facebook-Eintrag, der über den Tod ihrer Cousine informierte, sorgte vor einigen Jahren in ihrer Familie für viel Diskussionsstoff. Während manche die Grenze des guten Geschmacks überschritten sahen, fand sie persönlich nicht nur die Art der Information, sondern auch die gewählte Plattform für richtig. «Wie sonst hätte man möglichst viele Freunde meiner noch jungen Cousine besser erreichen können?» Die Grenze des Erzähl- oder Zeigbaren liege letztlich im Auge der Betrachtenden, zog die Workshop-Gruppe den Schluss. Die vielen verschiedenen Formen, wie im Internet über Sterben und Tod berichtet wird, sind derzeit noch sehr experimentell und lassen Raum für neue Entwicklungen. Etwa «Death Positive», einer Bewegung moderner Bestatterinnen und Sterbebegleiter, die sich in der Schweiz noch nicht etabliert hat.




Etwas weniger digital als vielmehr als Abenteuer sah Seelsorger Matthias Fischer seinen Workshop. Die Frage «Mit welchem Geist sind wir unterwegs?» beantwortete Fischer unter anderem mit der Quantenphysik. Wie man jemandem begegne, verändere auch die Haltung anderer und pflanze sich von Mensch zu Mensch fort. Ausgehend von Cicely Saunders Prämisse, dass Palliative Care aus zehn Prozent Fachwissen und 90 Prozent Haltung bestehe, übertrage sich die Haltung, wie man einem Patienten begegne, auch auf andere Menschen. Diese Aussage untermauerte der reformierte Pfarrer mit einem «mindful dating». Er forderte die Teilnehmenden auf, die Stühle einander gegenüber zu stellen und sich zu setzen. Die Übung war, mit Blickkontakt, Mimik oder Gestik sich für einige Minuten ganz auf das Gegenüber zu fokussieren. Die beiden Musiker Stefan Müller und Martin Pirktl untermalten das Experiment mit leisen Klängen von Johann Sebastian Bach.

Auch Pflegefachfrau Isabelle Weibel erarbeitete in ihrem Workshop ein Thema, das schon am Morgen diskutiert worden war. «Was muss ein Roboter können?», stellte sie als Frage zur Debatte. Ausgangspunkt war die fiktive Geschichte einer Patientin, die aufgrund einer Krisensituation zur Herausforderung für die Pflegenden wurde. Nach einer kurzen Diskussion in Kleingruppen, trug Weibel die Erkenntnisse zusammen. Schnell wurde aber klar, dass die Ansprüche, die sich an einen Roboter stellen, bereits vom Pflegepersonal geleistet werden. Ein Roboter könne in einer ruhigen Minute eine Person mit einem Spiel beschäftigen, bilanzierte Isabelle Weibel, die als Co-Leiterin der klinischen Pflegespezialistinnen im KZU arbeitet. In herausfordernden Situationen brauche es jedoch Menschen, die die Geschehnisse besser beurteilen könnten. Zudem rief sie dazu auf, differenzierter darzustellen, was im Detail geholfen habe, eine schwierige Situation zu meistern. «Wir sind viel zu sehr defizitorientiert», sagte die Pflegefachfrau mit einem Master in Palliative Care. «Was wir alles können und wie gut wir sind, ist viel zu wenig Thema.»
Die Behandlungsziele geben in der ACP-Beratung Aufschluss, was für eine Situation letztendlich entstehen soll – oder eben nicht.» Monika Obrist

«Wie gerne leben Sie?» und «Was bedeutet es für Sie, noch lange zu leben?», fragte Monika Obrist, Geschäftsleiterin von palliative zh+sh im vierten Workshop. Ein paar Minuten hatten die Teilnehmenden Zeit, sich mit diesen tiefgründigen Fragen auseinander zu setzen. «Solche Fragen stellen wir meist nur den Patienten, aber nicht uns selbst, das geht einem plötzlich nahe», meinte ein Teilnehmer zu seinen Gedanken. Für eine ACP-Beratung, also Advance-Care-Planning oder vorausschauende Behandlungsplanung, sind diese Fragen jedoch unerlässlich. Ziel ist es, dass diese Patientenverfügung «plus» ins elektronische Patientendossier einfliessen wird und damit in Notfallsituationen problemlos greifbar ist. Die nächsten Fragen von Monika Obrist gingen genauso ans Eingemachte: «Wenn Sie ans Sterben denken, was kommt Ihnen dann in den Sinn?» oder «Gibt es Situationen, in denen sie nicht lebensverlängernd behandelt werden möchten?» Sind die Antworten festgelegt, ermöglichen sie dem Behandlungsteam Leitplanken, denen sie im Notfall folgen können. «Die Behandlungsziele sind in der ACP-Beratung sehr wichtig», erklärte Monika Obrist. «Sie geben Aufschluss, was für eine Situation letztendlich entstehen soll – oder eben nicht.»




Die anschliessende Kaffeepause diente nicht nur der Erfrischung nach so viel Denkarbeit, sondern auch der Netzwerkpflege. Den Abschluss der Jahrestagung machten die beiden Musiker Stefan Müller und Martin Pirktl, die mit ihrem «Musikalischen Fenster» auf Palliativstationen musizieren, wiederum mit Bach. Und wiederum ganz leise.
palliative zh+sh, sa/gme