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Medienschau Dezember 2022

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Die Medienschau von palliative zh+sh gibt Einblick in die Berichterstattung zu Palliative Care und verwandten Themen des vergangenen Monats. (Bild: gme)

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16. Januar 2023 / Medien
Hat ein Mörder Anrecht auf ein Sterben in Freiheit, wenn sein Lebensende naht? Und sind Sterben und Tod wirklich noch Tabuthemen? Dies und weiteres in unserer Medienschau vom Dezember.
Wir gehen oft davon aus, dass Sterben in der westlichen Welt ein Tabuthema ist. «Es gibt aber eine regelrechte Explosion von persönlichen Texten über das Sterben in der Gegenwartsliteratur», sagt Literaturwissenschaftlerin Anna Elsner in einem Interview mit der «Berner Zeitung». Diese Texte beschäftigen sich – so wie es die Literatur schon immer getan hat – mit der Bedeutung des Sterbens für den Einzelnen, aber in genauso grossem Masse, wenn nicht noch mehr, mit dem System Medizin. Sterbeforscherin Anna Elsner hat eine Reihe von Texten, Filmen und fotografischen Dokumentationen über das Sterben seit den 70er-Jahren in Frankreich untersucht. «Mir ging es darum aufzuarbeiten, wie der Glaube an den unablässigen Fortschritt in der Medizin auf die Angst vor der Medizin trifft – Angst davor, dass die Medizin uns länger am Leben hält, als uns lieb ist.» In einer säkularisierten Welt konnte man keine spirituellen Begleitungsalternativen anbieten. «Daraus entwickelten sich die Hospizbewegung, die Sterbehilfe und die Inszenierung des Todes als persönliches Projekt.»

Die Frage rückte ins Zentrum, wie das Sterben medizinisch besser begleitet werden kann. «Uns wurde wieder stärker bewusst, dass uns die Medizin nicht vor dem Sterben bewahren kann und dass der Tod keine Krankheit ist.» In der westlichen Welt würden wir trotzdem zumeist in einem medizinischen Umfeld sterben und die Verantwortung für dieses Sterben an die Medizin delegieren. «Gleichzeitig pochen wir darauf, dass unsere Autonomie respektiert wird und wir in Würde sterben wollen.» Dies sei ein ganz schwieriges Spannungsfeld, sagt Anna Elsner, die ihr ganzes Berufsleben dem Thema Sterben widmet.
«Das Krankenhemd kann regelrecht krank machen»

Was hat ein Stückstoff mit der Würde am Lebensende zu tun? Bitten Stetter ist Designerin und Trendforscherin in Sachen Mode für Palliativpatienten. Ihre Kollektion war unter anderem schon an der Fashion-Week in Paris zu sehen. In einem Interview mit «bref» erklärt sie, worauf es bei einem Krankenhemd wirklich ankommt. Dieses muss für die Pflege nämlich einfach zum An- und Ausziehen sein. Es soll möglichst wenig Nähte haben, denn jede Naht ist eine Druckstelle. Und wegen möglicher Keime muss der Stoff bei hohen Temperaturen gewaschen werden können. Es geht aber innovativer als es das gängige Krankenhemd ist. Das Hemd von Bitten Stetter kann zum Beispiel von der Patientin selbst geschlossen werden, das Kleid gibt es in verschiedenen Farben und es hat eine kleine Tasche. Welchen Einfluss hat denn die Krankenhauskleidung auf das Selbstbewusstsein der Menschen, die sie tragen? «Ich erinnere mich an einen Herrn auf der Palliativstation, der nur noch schwach im Bett lag und sich kaum bewegen konnte», erzählt die Designerin im Interview. «Und dann ist er in seine eigene Kleidung gestiegen und auf einmal hatte er wieder einen aufrechten Gang.» Das Krankenhemd könne regelrecht krank machen. «Es hält dich im Bett, denn du kannst es hinten nicht gut schliessen, du weisst, da schaut dein Po raus.» Dies führe zu einer Bewegungsarmut.
Aber haben Sterbende nicht grössere Probleme als hübsche Kleidung? Sicherlich gebe es andere Sorgen, sagt Bitten Stetter. Gleichzeitig ärgert sie dieser Einwand. «Heisst das, ich darf mich in meiner letzten Lebensphase nicht mehr schön anziehen? Warum dürfen wir uns bei Krankheit und vor dem Tod nicht mehr zeigen?» In der Palliative Care gehe es um das Erleichtern von Leiden. Und dazu gehöre auch die Kleidung.
«Wie viel Menschlichkeit für Straftäter am Lebensende?»

Hat ein Mörder Anrecht auf ein humanes Sterben, wenn sein Lebensende naht? Diese Frage ist seit ein paar Jahren aktuell. Früher gab es vor allem junge Männer im Gefängnis, selten starb jemand hinter Gittern. Da die Gerichte heute aber längere Strafen und mehr Verwahrungen aussprechen, werden die Insassen immer älter. Viele Häftlinge mit lebenslänglicher Strafe sowie Gewalt- und Sexualstraftäter im Massnahmen- und Verwahrungsvollzug werden erst spät oder gar nicht mehr entlassen. So auch der 54-jährige C., der Krebs im Endstadium hat. Einst wog er 120 Kilogramm, heute noch 67. Die Metastasen im Unterleib beeinträchtigen seine Verdauung. «Ich müsste eigentlich längst tot sein», sagt C. im Gespräch mit einem Journalisten vom «Thuner Tagblatt». Aber C. lebt noch. Und er hat einen letzten Wunsch: er möchte zu Hause, in einem Pflegeheim oder in einem Hospiz sterben. Doch gegenwärtig wird er abwechslungsweise in der Justizvollzugsanstalt Thorberg und auf der Bewachungsstation des Inselspitals betreut. Er werde ständig hin- und hergeschoben, sagt C. «Ungefähr alle zwei Wochen.» Doch Sterben möchte er weder auf der Bewachungsstation noch in Thorberg. «Auch ein Verbrecher hat das Recht, in Würde zu sterben.»

Auch andere Straftäter in der Schweiz befinden sich in einer solchen Situation. Denn obwohl die Inhaftierten immer älter werden, hat die Gesellschaft bisher keinen geregelten Umgang mit dem Problem gefunden. Wie sollen Schwerverbrecher sterben? Wie viel Menschlichkeit wird ihnen am Lebensende gewährt? Bleiben sie auf jeden Fall hinter Gittern oder können sie in eine «normale» Spitalabteilung oder in ein Hospiz verlegt werden? In einem Interview nimmt Jurist und Experte Benjamin F. Brägger Stellung. Er spricht von einem «übergeordneten Vergeltungsbedürfnis» der Gesellschaft. Das Bundesgericht habe etwa im Fall eines heute 80-jährigen Vergewaltigers entschieden, dass man sich nicht leichtfertig durch Krankheit, Alter oder Schwäche der gerechten Strafe entziehen könne.

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Ab Januar stehen im ganzen Kanton Luzern Expertenteams für ambulante palliative Pflege zur Verfügung. Mit dem Projekt Palliativ Plus sollen Schwerkranke im letzten Lebensabschnitt vermehrt zu Hause bleiben können. Denn die meisten Personen mit chronisch fortschreitenden Krankheiten möchten möglichst lange in ihrer gewohnten Umgebung sein. Gegenwärtig werden die Betroffenen vor allem von der lokalen Spitex und ihren Hausärztinnen betreut. Doch es hat nicht genügend Fachpersonen in der spezialisierten Palliativ-Betreuung. Ab Januar soll diese Lücke geschlossen werden. Im Raum der Stadt Luzern ist die Abdeckung mit palliativer Versorgung schon heute gut– in den ländlichen Gebieten ist die Versorgung aber sehr unterschiedlich. Nun gibt es im ganzen Kanton Expertenteams. Dazu wurde das Gebiet in drei Regionen aufgeteilt: Stadt Luzern/Agglomeration/Seegemeinden, Wiggertal/Entlebuch/Willisau sowie Seetal/Sempachersee/Rottal. Von jedem Stützpunkt aus (Luzern, Reiden, Hochdorf) wird rund um die Uhr palliative Unterstützung angeboten.

Im Betrieb von Palliativ Plus arbeiten die Expertinnen und Experten wie bis anhin in ihrem Job bei der Spitex oder in einer Arztpraxis. Für die Patientinnen und Patienten sowie deren Angehörige sind die Expertenteams ein grosser Gewinn, wie Elsi Meier, Präsidentin von Palliativ Luzern gegenüber der «Luzerner Zeitung» sagte. Der Verein Palliativ Luzern war im Auftrag von Kanton, Stadt Luzern, dem Verband Luzerner Gemeinden und der Spitex verantwortlich, ein neues spezialisiertes mobiles Angebot aufzubauen. Angesichts des aktuellen Mangels an Fachpersonen sei hervorzuheben, dass für Palliativ Plus – zumindest zum Start – keine zusätzlichen Pflegefachpersonen nötig sind. Ausserdem könnte das Projekt andere Akteure im Gesundheitswesen entlasten, wie Elsi Meier sagt: «Wenn schwerkranke Patientinnen, die im Spital im Sterben liegen, gut zu Hause betreut werden können, dann hat es in den Spitälern und Pflegeheimen mehr Platz.»
«Es sind Prozesse des Loslassens und der Reifung»

«Wir haben mit Palliative Care viele Möglichkeiten, Menschen ganzheitlich zu begleiten, auch wenn sie schwer krank sind. So erfahren sie Respekt und Liebe.» Dies sagt der ehemalige Abt von Einsiedeln, Martin Werlen, in einem Gastartikel von kath.ch. Die Kirche habe im Wallis die Volksabstimmung verloren: Künftig sind alle Heime verpflichtet, Organisationen in ihre Räumlichkeiten zu lassen, die assistierten Suizid anbieten. «Wir sollten die Menschen im Leben so gut begleiten, dass sie den Weg in den assistierten Suizid gar nicht gehen wollen», schreibt Martin Werlen. Er selbst lebt seit 40 Jahren nicht mehr im Wallis. Trotzdem hat er Stellung zu diesem Volksentscheid genommen, etwa auf Twitter. Er habe schon viele Menschen in der letzten Phase ihres Lebens begleitet und dabei immer wieder beobachtet, was für Prozesse vor sich gehen. «Es sind Prozesse des Loslassens und der Reifung.» Die Gefahr sei gross, dass man alte und kranke Menschen abschiebe und vergesse. «Ich hoffe, dass ich in einem Zustand der Krankheit und Mutlosigkeit nicht Menschen begegnen werde, die mich darin bestärken, mein Leben abrupt zu beenden. Ich hoffe, dass ich dann auf Menschen treffen werde, die mir Hoffnung machen und mich im Leben begleiten, zu dem auch der Tod gehört.»

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Ebenfalls auf kath.ch lesen wir im Dezember ein Interview mit der promovierten Theologin und Psychologin Monika Renz. Im Zusammenhang mit dem Sterben von Papst Benedikt XVI erzählt sie, wie der Sterbeprozess verläuft und wie Palliative Care unterstützend wirken kann. «Schon bevor jemand stirbt, ändert sich die Wahrnehmung. Menschen scheinen gleichsam über sich hinauszugehen», sagt die Sterbeforscherin. Zuerst gehe es radikal um unsere menschliche Begrenzung, um Schmerzen, um den Verlust von Mobilität, um Endlichkeit. Je näher Menschen an das Geheimnis Tod herankämen, desto mehr schienen sie von etwas ergriffen zu sein, was für alle anderen unsichtbar ist. «Ich gehe von drei Stadien des Sterbens aus», erklärt Monika Renz. «Ich spreche vom «Davor», dem «Hindurch» und dem «Danach».» Im Davor schaue man an sein Ende heran und sehe nicht darüber hinweg. Im «Hindurch» schreite man über die Bewusstseinsschwelle. Und im «Danach» erlebe sie die Sterbenden tief friedlich, Raum und Zeit schienen wie aufgehoben. Viele Sterbende würden in der ersten Phase eine Art Bilanz über ihr Leben ziehen. «Es gibt Sterbende, bei denen man das richtig miterleben kann. Sie sehen gleichsam über sich hinaus. Was ist gelungen – und was ist nicht gelungen?»

In einem weiteren Teil des Interviews nimmt Monika Renz Stellung zur Palliative Care. Sterben bedeute auch heute noch oft physisches Leiden, zum Beispiel eskalierende Schmerzen an irgendeiner Stelle, Atemnot, Stress. «Dank Palliativmedizin wird immer wieder Schmerzlinderung bis hin zur Schmerzfreiheit erreicht. Doch dann entgleist wieder die körperliche Situation – und die Palliativmedizin muss erneut darauf reagieren.» Und was wirkt schmerzlindernd – ausser Medikamenten? Wichtig seien schöne Erfahrungen beim Sterben, sagt die Theologin. Etwa das stille Beisammensein mit den Nächsten, eine Segensspendung und innere Visionen. «Jedes Sterben ist persönlich.»

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Die Integration von Palliative Care in die geriatrische und im Besonderen in die Demenzversorgung beschäftigt Palliative-Care-Pionier Roland Kunz seit Jahren. Im gerontologieblog.ch schreibt er im Dezember einen interessanten Beitrag dazu. Palliative Care sei heute ein Begriff. «Eher zögerlich hat das Konzept im Laufe der Jahre auch in der Betreuung alter, multimorbider und oft von einer Demenzerkrankung betroffener Menschen Eingang gefunden.»

Lebensqualität sei immer ein subjektives Erleben, also sehr individuell. Und sie könne nur von jedem einzelnen selbst definiert werden – nicht von Qualitätsexpertinnen oder -experten. Kommunikation sei und bleibe die Basis einer guten Palliative Care. Doch im Laufe einer Demenzkrankheit wird die Kommunikationsfähigkeit der Betroffenen zunehmend eingeschränkt. «Das dürfte der Hauptgrund sein, weshalb sich Palliative Care für Menschen mit Demenz eher fragmentarisch, mit dem Hauptfokus auf Symptomlinderung, entwickelte», schreibt Roland Kunz. Weil man erkannt hatte, dass Menschen mit Demenz deutlich weniger Schmerzmittel erhielten als nicht demente, stieg die Verabreichung von Schmerzmitteln deutlich, auch von Opiaten. «Die Frage stellt sich, ob eine grosszügige Opiatverordnung gleichbedeutend ist mit besserer Lebensqualität», schreibt der ehemalige Chefarzt für Palliative Care und Akutgeriatrie. Er nennt Palliative Betreuungsansätze für Demenzpatienten, welche die Lebensqualität positiv beeinflussen können, wie etwa Sicherheit vermitteln, positive Emotionen ermöglichen oder die Stärkung des Selbstwertgefühls. «Palliative Care für Menschen mit Demenz ist viel mehr als die Implementation von Handlungsanweisungen für das Symptom-Management», zieht Kunz sein Fazit und gibt mancher Fachperson einen Denkanstoss mit auf den Weg.
Palliative zh+sh / Bettina Weissenbrunner