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Medienschau September 2020

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Die Medienschau von palliative zh+sh gibt Einblick in die Berichterstattung zu Palliative Care und verwandten Themen des vergangenen Monats. (Bild: gme)

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Die Medienschau ist eine Momentaufnahme eines Ausschnittes der öffentlichen Diskussion zum Thema und bietet kurze Zusammenfassungen, zeigt Verknüpfungen auf und soll nicht zuletzt unterhalten und zur weiteren Lektüre der besprochenen Beiträge anregen. Wo vorhanden werden die Links zu den Beiträgen deshalb unter «Links zu den Beiträgen» aufgelistet.

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12. Oktober 2020 / Medien
Corona hat einige Trends ausgelöst. Beispielsweise jenen, dass sich viel mehr Menschen Gedanken machen, wie sie im Falle einer schweren Krankheit behandelt werden möchten. Auch beim Sterben wollen viele ihre Selbstbestimmung nicht verlieren. Aber was heisst das? Und wann soll man beginnen, sich darüber Gedanken zu machen? Unser Blick auf die Medien im September beinhaltet kritische Töne, aber auch schöne Geschichten.
Auf dieses Papier hatte die Palliative-Care-Fachwelt lange gewartet: Am 18. September veröffentlichte der Bundesrat seinen Bericht zum Postulat «Bessere Betreuung und Behandlung von Menschen am Lebensende», was von sehr vielen Medien aufgenommen wurde. Mit den heutigen Strukturen im Gesundheitswesen werde es nicht möglich sein, die zunehmende Anzahl sterbender Menschen in der Schweiz angemessen zu behandeln. Zudem hätten nicht alle Menschen in allen Regionen einen gleichwertigen Zugang zu den Angeboten der Palliativmedizin, schrieb etwa der «Tages Anzeiger» (Artikel kostenpflichtig). Neben dem Wohnort seien auch die finanziellen Mittel der Patientinnen und Patienten ausschlaggebend, entsprechend müssten solche Ungleichheiten im Sterben behoben werden. Der Bundesrat schlägt dazu ein ganzes Paket an Massnahmen in den Bereichen Sensibilisierung, Unterstützung, Betreuung und Koordination vor. Weiter will er eine ständige Arbeitsgruppe «Gesundheitliche Vorausplanung» einsetzen sowie ein Projekt «Zugang zur allgemeinen Palliative Care» lancieren. Die Kantone sollen entsprechend Informations- und Beratungsstellen einrichten.
Weitere Massnahmen sind etwa der Ausbau von mobilen, ambulanten und stationären Angeboten, um allen Menschen in allen Regionen die Angebote der Palliative Care zu ermöglichen. Die Koordination aller Massnahmen soll auf nationaler Ebene durch die bereits existierende Plattform Palliative Care erfolgen. Über die Finanzierung macht der Postulatsbericht keine Angaben. Wie wichtig die Palliative Care ist, habe nach Ansicht des Bundesrates auch die Coronakrise gezeigt, liest man im «St. Galler Tagblatt». Am meisten Todesfälle habe es in der Altersgruppe der über 80-Jährigen gegeben. Dennoch seien Fachpersonen der Palliative Care in den Pflegeheimen zu wenig einbezogen worden, so die Kritik der Landesregierung. Man begrüsse die politischen Bemühungen, zitiert die Zeitung die Stellungnahme des Schweizerischen Dachverbands palliative ch. Nun müsse der Bundesrat Nägel mit Köpfen machen.

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Um eine andere Ungerechtigkeit beim Sterben ging es in der «Sonntagszeitung» (Artikel kostenpflichtig). Eine neue Studie der Schweizer Krankenkasse Helsana, veröffentlicht im «International Journal of Public Health», untersucht, weshalb es am Lebensende – wenn die Kosten grundsätzlich am höchsten sind – auch noch starke Kostenunterschiede nach Sprachregionen auszumachen sind. Dafür untersuchten die Studienautorinnen und -autoren die letzten sechs Lebensmonate von 9716 bei Helsana versicherten Menschen, die 2014 starben und dabei über 65 Jahre alt waren. Die gesamten Gesundheitskosten, die am Ende des Lebens anfallen, unterscheiden sich stark nach Sprachregion. In der Romandie lagen sie im Schnitt um 27 Prozent und in der italienischen Schweiz um 12 Prozent höher als in der deutschen Schweiz. Konkret betrugen die Durchschnittskosten pro Patient in der Deutschschweiz 30’910 Franken, in der italienischen Schweiz 34’640 und in der Romandie 39’160 Franken. Die Betreuung in Pflegeheimen und speziell in Spitälern treibt die Kosten in die Höhe. Jeder Tag im Spital erhöhte die Kosten um 1,8 Prozent. Intensive lebenserhaltende Massnahmen, die bei einem Drittel zum Einsatz kamen, verdoppelte die Gesamtkosten. Die Studie zeigt auf, dass weder Sterbeort – in der Romandie starben nur rund 15 Prozent zu Hause, in der Deutschschweiz 20 Prozent - noch die Todesursache entscheidend sind für die Kosten. Vielmehr ist es die Dauer des Spitalaufenthaltes. Lagen in der Deutschschweiz die Patienten im Schnitt 16 Tage im Spital, waren es in der Romandie 26 Tage, also anderthalbmal so lange. «Es ist nicht die Art der Behandlung, sondern die Dauer, die zu höheren Kosten führt», zitiert der Artikel die Studienautorin Caroline Bähler. Man vermute, dass sich hier kulturelle Unterschiede manifestieren, zum Beispiel die Einstellungen und Vorlieben von Patienten und Ärzten. Die Studie kommt zu weiteren interessanten Schlüssen. So spielt etwa die Dichte an Spitex-Diensten eine Rolle. Je mehr Personal, desto tiefer die Kosten. Doch auch hier liegt die Romandie am Schluss. Zudem sei zu empfehlen, die Patienten über mögliche Massnahmen und Behandlungen zu informieren, damit sie mitbestimmen können, was mit ihnen geschieht. Entsprechend wichtig sei eine vorausschauende Pflegeplanung.
«Es geht nie darum, was die Familienmitglieder für richtig halten, sondern was der mutmassliche Wille des Patienten ist.» Manuel Trachsel, Leiter der Klinischen Ethik am Universitätsspital Basel

Die Pandemie ist ein Stresstest für das Gesundheitswesen. Gerade Ethikfachpersonen müssen sich mit heiklen Fragestellungen beschäftigen. Im Gespräch mit der «NZZ» erklärt Medizinethiker Manuel Trachsel, dass sich ein sogenannter künstlicher «Cut-Off», beispielsweise, dass jemand über 80 kein Intensivpflegebetts mehr erhält, aus ethischer Sicht schwer rechtfertigen lassen würde. «Wäre ich 81 und abgesehen von Covid-19 kerngesund, würde ich mich zu Recht beschweren, wenn ich kein Intensivpflegebett bekäme, ein schwerkranker 70-Jähriger aber schon», so der Leiter der Klinischen Ethik am Universitätsspital Basel. Und doch: Wenn ein Patient um jeden Preis am Leben bleiben möchte, müssten sich die Ärzte nur dann danach richten, wenn die Behandlung auch wirksam und zweckmässig sei. Eine Behandlung könne nicht ultimativ eingefordert werden. Wichtig hält Trachsel, dass Ärzte die Patienten in Entscheidungen mit einbinden oder, wenn sie nicht bei Bewusstsein sind, deren Angehörige. «Es geht dabei aber nie darum, was die Familienmitglieder für richtig halten, sondern was der mutmassliche Wille des Patienten ist.» Auch zum Thema des assistierten Suizids äussert sich Trachsel. Zu einem Bilanzsuizid, wie ihn manche ältere, lebensmüde Personen Betracht ziehen, müsse man einige Fragen stellen: Etwa, ob jemand aus dem Leben scheiden will, weil er seinem Umfeld keine Bürde sein möchte, er sich schuldig fühlt, weil er pflegebedürftig sei? «Vielleicht», so Trachsel, «warten aber auch die potenziellen Erben sehnlichst auf das Geld und üben subtilen Druck aus?»

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Gestohlene Lebenszeit sei die Isolation während des Lockdowns gewesen. So lautet das Fazit einer über 90-jährigen Dame aus Basel. Kaum jemand habe begreifen können, wie kostbar ihre verbleibende Lebenszeit ihr noch sei und das Bedürfnis, diesen Rest des Lebens noch geniessen zu können. Und: Kein Politiker, keine Politikerin, die das verfügt habe, habe sie gefragt. Ein Artikel in der «Basler Zeitung» (Artikel kostenpflichtig) zeigt auf, wie die Spitex Basel versuchte, die richtige Balance zwischen Menschlichkeit und Schutz zu finden. Ihre Eltern, beide über 80, hätten sie gebeten «Komm uns wieder nah», erzählt Jutta von Thülen-Hirsch, Pflegefachfrau der Palliativ- und Onko-Spitex von Spitex Basel. Thülen-Hirsch stellt fest, dass sich ein Trend abzeichne. Mehr Menschen überlegten sich, wie ihr letzter Lebensabschnitt aussehen solle. Patientenverfügungen müssten allerdings immer wieder überprüft werden, damit die Behandlungswünsche auch immer dem aktuellen Willen und Zustand entsprechen. Die Pflegefachfrau erzählt von einer Frau, die vor Jahren verfügt hatte, dass sie mit einer Sterbehilfeorganisation aus dem Leben scheiden wolle. Nach einer überstandenen Krebserkrankung kam die Patientin zehn Jahre später, als der Krebs zurückkam zu einem ganz anderen Schluss: «Weshalb soll ich jetzt mit Exit gehen? Ich wurde noch nie so geliebt und umsorgt.» Sie starb an ihrer Krankheit, nachdem sie sich noch von allen verabschieden konnte.

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Im Kanton Zürich sollen Bewohnende von Alters- und Pflegeheimen Zugang zu assistiertem Suizid erhalten. Das will ein Vorstoss von SP, GLP und Grünen, der Mitte September im Kantonsrat behandelt wurde. «Es gibt ein Menschenrecht auf Selbstbestimmung», zitiert der «Landbote» einen der Initianten, Hanspeter Göldi (SP). In Langzeitinstitutionen, die von der öffentlichen Hand Geld erhalten soll erlaubt werden, mithilfe von Sterbeorganisationen aus dem Leben zu scheiden. Heute liege dies im Ermessen der jeweiligen Heimleitung. In der Stadt Zürich sind diese Organisationen seit 2001 zugelassen, schätzungsweise fünf bis sechs Personen nehmen deren Dienste pro Jahr in Anspruch. Diese Zahlen bewegten sich auf einem konstanten Niveau, betonten die Initianten. SP, FDP, CVP, Grüne, GLP und AL gaben der parlamentarischen Initiative ihre vorläufige Unterstützung. Nun muss sich die zuständigen Kantonsratskommission mit dem Geschäft befassen.
«Allein der Umstand der Inhaftierung kann auch meines Erachtens nicht dazu führen, dass man einen begleiteten Freitod erlaubt.» Urs Hofmann, Justizdirektor Kanton Aargau

Auch in Schweizer Gefängnissen ringt man seit längerem um eine Entscheidung bezüglich Sterbehilfe für Strafgefangene. Ausgelöst hatte die Debatte der verwahrte Sexualstraftäter Peter, der einen assistierten Suizid in Anspruch nehmen wollte und als Grund eine Lungenkrankheit und seine Persönlichkeitsstörung geltend. Nun haben die Justizdirektorinnen- und -direktoren der Kantone entschieden, dass dies möglich sein soll. Bei den Details seien sie sich aber noch uneinig, wie «SRF-Tagesschau» berichtete. «Es gibt den Grundsatz, dass die Freiheit der Gefangenen nicht weiter eingeschränkt werden soll, als dies aufgrund des Strafvollzuges notwendig ist», sagt der Aargauer Justizdirektor Urs Hofmann (SP), Präsident der Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektorinnen und -direktoren KKJPD. Das führe dazu, dass man auch Gefangenen, die schwer krank sind, krebskrank zum Beispiel, Sterbehilfe ermöglichen sollte. Uneinig sind sich die Kantone etwa bezüglich der Zuständigkeiten, also wer ein Sterbehilfegesuch bewilligt. Diskutiert wird auch, wie die Sterbehilfe ablaufen soll und ob dieser in der Anstalt oder extern sein soll. Doch welche Voraussetzungen sollen gelten, damit ein assistierter Suizid in Frage kommt? Genügt eine psychische Erkrankung? «Das ist, wie auch ausserhalb des Strafvollzugs, nicht gesetzlich geregelt», sagt Urs Hofmann. «Bei Gefangenen ist es besonders schwierig, der Staat hat hier eine zusätzliche Fürsorgepflicht und allein der Umstand der Inhaftierung kann auch meines Erachtens nicht dazu führen, dass man einen begleiteten Freitod erlaubt.»


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«Kann Sterbehilfe eine Handlungsoption in der Palliativversorgung sein?» Mit dieser Kontroverse beschäftigte sich der 13. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin vom 9. bis 12. September. Die gesellschaftliche Solidarität mit schwachen, schwerkranken, alten und isolierten Menschen sei mehr denn je gefordert, erklärte Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP) und Kongresspräsident Bernd-Oliver Maier zur Kongresseröffnung. «Es geht nicht nur darum, wie wir gefährdete Personengruppen vor einer Corona-Infektion schützen können. Ebenso wichtig ist es, Menschen mit einer weit fortgeschrittenen lebensbegrenzenden Erkrankung, einem schweren Covid-19-Verlauf oder Multimorbidität im Alter auch unter erschwerten Bedingungen Lebensqualität zu ermöglichen», fasst die Wissenschaftsplattform «IDW» die Eröffnungsreden zusammen. «Das Leitmotiv des Kongresses steht für die Themen, die uns in der DGP bewegen und für die es keine einfachen Lösungen gibt», erklärte DGP-Präsident Lukas Radbruch das Tagungsthema «Kontroversen am Lebensende». Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur deutschen Sterbehilfe ging es auf dem Kongress auch um die ethisch provokante Frage, ob Sterbehilfe nun eine Handlungsoption in der Palliativversorgung werden soll.

«Wir als Ärzte wünschen uns, dass die Patienten möglichst stark die Eigenverantwortung wahrnehmen und die Entscheidungen treffen, denn wenn die Angehörigen entscheiden müssen, wird es noch belastender.» Roland Kunz, Palliativmediziner und Geriater

Sterben wird immer mehr zu einer Verhandlungssache von Betroffenen, Angehörigen und dem professionellen Behandlungsteam. «Es ist eine Realität, dass Sterben oft nicht mehr einfach ein Schicksalsschlag ist, der einen irgendwann ereilt, wie das im Mittelalter und bis weit ins letzte Jahrhundert der Fall war», sagt Palliativmediziner und Geriater Roland Kunz im Interview mit der Online-Plattform «Seniorweb». Eine Lebensverlängerung sei fachlich gesehen oft machbar, ob dies die Lebensqualität fördert, sei eine andere Frage. Deshalb muss man laut Kunz immer häufiger die Entscheidung treffen, ob man einen Menschen sterben lassen oder sein Leben verlängern will. Bei der Frage, wann man das Sterben zulassen soll, sei der Wille des Betroffenen massgebend. Für ihn ist es nicht eine Frage des Alters, wann man sich mit dem Sterben befassen soll. Die Erfahrung zeige, dass viele Menschen diese Frage heute verdrängen. «Das ist auch verständlich und ermöglicht in gewissem Sinne ein sorgloses Leben. Auf der andern Seite gehört es zur Lebensreife, dass man auf das bisherige Leben zurückblickt und sich fragt, was man noch vom Leben erwartet und dabei auch das Ende des Lebens in den Blick nimmt.» Kunz, der gerade ein Buch über selbstbestimmtes Sterben publiziert hat, ist überzeugt, dass Sterben heutzutage nichts mehr ist, was sich einfach ereignet oder vom Schicksal bestimmt wird. Vielmehr müsse Sterben in vielen Fällen bewusst zugelassen werden, denn die Medizin verfüge über immer mehr Möglichkeiten, das Sterben eines Patienten zu verhindern oder hinauszuzögern. Dieser Prozess erfordere bewusste Entscheidungen. «Wir als Ärzte wünschen uns, dass die Patienten möglichst stark die Eigenverantwortung wahrnehmen und die Entscheidungen treffen, denn wenn die Angehörigen entscheiden müssen, wird es noch belastender. Es ist ein Appell von mir an jeden und jede in jedem Alter, dass man so viel Eigenverantwortung übernimmt und mindestens in groben Zügen sagt, was man wünscht und was nicht.»


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Zum Schluss eine schöne, zu Herzen gehende Geschichte: Die Photobastei in Zürich zeigte im September mit der Ausstellung «Stolen Moments» die Fotografien des Werbers und Fotografen Daniel Comte. Der heute 57-Jährige erhielt vor sechs Jahren die Diagnose Alzheimer-Demenz. Comte verspürte den Wunsch, ein Fotobuch mit den eigenen Fotografien zu publizieren. Unterstützt von seinen drei Söhnen und einer langjährigen Freundin gelang es ihm, dieses Projekt umzusetzen, wie ein Beitrag auf der Plattform «alzheimer.ch» zeigt. Drei Jahren war Daniel Comte auf den Strassen und Plätzen von Zürich unterwegs und fotografierte unermüdlich. Fast täglich postete er seine Schwarzweissbilder auf Facebook, seine Street Photography erreichte eine wachsende Community. Im Videobeitrag erzählt Comtes Sohn Anatol, wie er seinen Vater heute wahrnimmt und wie er ihn, trotz dessen Krankheit, in den letzten Jahren noch einmal ganz neu und in verschiedenen Rollen kennengelernt hat. Weil sein Vater nicht gewusst habe, wie viel Zeit ihm noch bleibe, habe er immer intensiver an seinem Projekt gearbeitet. In dem er Momente festhielt, kämpfte er gegen das Vergessen an. Inzwischen ist die Krankheit so weit fortgeschritten, dass Daniel Comte im Demenzzentrum Sonnweid lebt.
palliative zh+sh, Gabriela Meissner