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«Mir gefällt das Bild der Hofnärrin»

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Zu diesen schwankenden Skulpturen aus Draht namens «Moving Carer» geht Susanna Meyer Kunz auch mit Menschen, die sich in einer existenziellen Krise befinden. Sie können eine Schleife, eine Holzperle oder eine Feder daran befestigen. «Es hilft manchmal, etwas mit den Händen zu tun, wenn einem der Boden unter den Füssen weggezogen wird.»

Portrait

Zur Person

Susanna Meyer Kunz (54) leitet seit einem Jahr die evangelisch-reformierte Spitalseelsorge am Universitätsspital Zürich (USZ). Sie ist Teil des interprofessionellen Teams auf der Palliativstation und des spitalinternen Care Teams. Zuvor war sie 15 Jahre Spitalseelsorgerin am Kantonsspital Graubünden in Chur. Sie half beim Aufbau der Palliativstation mit und ebenso beim Care Team Grischun, bei dem sie auch zur fachlichen Leitung gehörte. Sie war ursprünglich Pflegefachfrau und studierte auf dem zweiten Bildungsweg Theologie. Sie absolvierte berufsbegleitend Weiterbildungen in Psychoonkologie und Notfallpsychologie. Sie ist verheiratet, hat zwei Töchter im Alter von 17 und 22 Jahren und lebt in Chur.

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02. März 2020 / Region
Susanna Meyer Kunz leitet seit einem Jahr die reformierte Spitalseelsorge im Universitätsspital Zürich (USZ). Vorher war sie am Kantonsspital Graubünden tätig. Neben vielfältigen Aufgaben rund um die Themen Abschied, Trauer und Krise hat sie auch ein offenes Ohr fürs Personal und kann der Direktion kritische Fragen stellen.
Was ist in deiner Arbeit in Zürich anders als in Chur?
Susanna Meyer Kunz: Das USZ ist ein sehr grosses Spital. Es braucht länger, bis man die zuständigen Personen kennt. Meine Aufgabe ist auch eine andere. Ich leite ein Team. Was mir hingegen sehr vertraut ist: Ich bin wieder für die Palliativstation zuständig, bin als Seelsorgerin und Verantwortliche für Spiritual Care Teil eines interprofessionellen Teams.

Gehörst du tatsächlich zum Team, oder holt man dich als Seelsorgerin erst, wenn man selbst nicht weiterweiss?
Nein, ich fühle mich gut in die Palliativstation integriert. Wir essen regelmässig zusammen Zmittag, wir führen interprofessionelle Teamsitzungen, Fallbesprechungen und Weiterbildungen durch. Wir Seelsorgenden gehören wirklich zu diesem Team, darauf ist die pflegerische und ärztliche Leitung bedacht. Das ist mehr als ein Lippenbekenntnis.

Wann ruft man euch als Seelsorgende denn an ein Spitalbett?
Viele Menschen haben das Gefühl, wir würden nur gerufen, wenn die Patientinnen beten oder über Gott sprechen wollen. Das ist nicht so. Als Spitalseelsorgerinnen haben wir zusätzlich zur Theologie eine weiterführende Ausbildung wie klinische Seelsorge, Palliative Care oder Psychoonkologie. Man ruft uns, wenn Themen wie Trauer oder Verarbeitung im Vordergrund stehen, Trauer zum Beispiel darüber, was nicht mehr möglich ist. Auch wenn Gefühle wie Unzufriedenheit, Wut oder Ablehnung vorhanden sind. Oder wenn Konflikte in den Familien bestehen. Bei ethischen Fragestellungen können wir die Menschen in der Entscheidungsfindung unterstützen, etwa in der Frage, ob noch eine Chemotherapie oder eine Bestrahlung gemacht werden soll.
«Wir sind niederschwellig, 24 Stunden am Tag, 365 Tage im Jahr abrufbar. Es ist immer jemand von uns da.»

Wie grenzt du dein Angebot von der Psychoonkologie ab? Ihr arbeitet beide gesprächsbasiert.
Das stimmt, und das muss auch immer wieder aufeinander abgestimmt werden. Zum Glück hat Psychoonkologin Beate Kaiser keine Berührungsängste zu mir als Seelsorgerin. Manchmal kann es sogar eine Chance sein, wenn beide im Spiel sind. Zum Beispiel teilten wir uns bei einer Patientin so auf, dass ich die Gespräche mit ihr führte – sie hatte eine besitzergreifende Art und wollte mich ganz für sich haben –, und die Psychologin vor allem mit dem Mann arbeitete. So wussten wir: Beide sind abgedeckt.

In Sachen Entscheidungsfindung kann die Pflege Patienten ebenfalls unterstützen. Was ist denn euer Alleinstellungsmerkmal?
Wir sind niederschwellig, 24 Stunden am Tag, 365 Tage im Jahr abrufbar. Es ist immer jemand von uns da. Man muss sich nicht mit einem Formular anmelden. Ich bin von der reformierten Kirche Zürich angestellt – sie sieht die Spezialseelsorge als eine Dienstleistung an der ganzen Gesellschaft –, und habe als Spitalseelsorgerin einen Leistungsauftrag vom USZ. Wir dokumentieren zwar die Gespräche, und tauschen uns im interprofessionellen Team aus. Wenn aber die Patientinnen wollen, dass etwas geheim bleibt, sind wir an die seelsorgerische Schweigepflicht gebunden. Wir beteiligen uns nicht an den medizinischen Entscheidungsprozessen. Mir gefällt das Bild der Hofnärrin. Ich bin zwar Teil des Teams, gleichzeitig gehöre ich nicht ganz dazu und bilde eine Brücke zum Patienten.

Was machst du als Verantwortliche für Spiritual Care im Palliativteam?
Ich bin an der Durchführung der regelmässigen Trauerrituale beteiligt, die aber schon vor meiner Zeit bestanden haben. Sie finden vier Mal im Jahr statt. Ich habe nun angeregt, den Einstieg auf die Jahreszeiten bezogen zu gestalten. Im Winter bietet sich das Thema Kälte an, Vieles ist erstarrt, auch in uns. Dann kann es sein, dass jemand von der Pflege einen Text vorliest, und es gibt einen musikalischen Teil. Meine Kollegen von der Seelsorge und ich führen jeweils durch das Ritual. Beteiligt ist das ganze Team.

Wie definierst du Spiritual Care?
Spiritual Care geht auf das vierdimensionale Menschenbild in der Palliative Care nach Cicely Saunders zurück, mit den Dimensionen Körper, Psyche, Soziales und Spiritualität. Wir von der Seelsorge sind die Spiritual-Care-Spezialistinnen. Die Spiritual Care geht aber alle Berufsgruppen an, und jede Profession hat eine eigene Perspektive darauf. Daneben, dass ich mit dem Patientinnen Gespräche führe, gestalte ich auch Abschiedsrituale mit ihnen. Dabei ist es mir wichtig mit dem Patienten zu schauen, was für ihn bedeutsam war und ist im Leben. Manchmal kommt auch aus der Pflege eine Idee, wie wir es machen könnten. Die Pflege hat oft noch einen anderen Zugang zu den Patientinnen und Patienten als wir.
«Palliative Care ist immer Teamarbeit. Deshalb ist es in der heutigen leistungsorientierten Zeit schwierig, die Seelsorge von anderen Bereichen abzugrenzen.»

Die Grenzen zwischen den verschiedenen Berufen verschwimmen?
Ja, in der Palliative Care geht es stark um Kompetenzen. Es kann zum Beispiel sein, dass in einem Moment ein Arzt die Aufgabe des Seelsorgers übernimmt, und ich als ehemalige Pflegefachfrau die Angehörigen bezüglich Morphium-Dosierung beruhigen kann. Palliative Care ist immer Teamarbeit. Deshalb ist es in der heutigen leistungsorientierten Zeit schwierig, die Seelsorge von anderen Bereichen abzugrenzen.

Du gehst bei allen Patientinnen und Patienten auf der Palliativstation vorbei. Kommt das gut an?
Nicht immer. Eine Patientin zum Beispiel hielt mir einen regelrechten, minutenlangen Vortrag: Sie halte nichts von Gott und der Kirche. Ich blieb und hörte ihr zu und überlegte, was ich jetzt sagen soll. Da grinste sie und sagte: «Test bestanden.» Daraus entwickelte sich eine intensive Begleitung mit tiefen Gesprächen. Zum Schluss ging ich bis zu zwei Mal pro Tag bei ihr vorbei. Sie bat mich sogar, am Bett für sie zu beten, und sie wurde ruhig dabei. Das hat mich berührt.

Triffst du häufig auf ablehnende Reaktionen?
Nein. Die Leute sind eigentlich froh, wenn wir vorbeikommen. Häufig laden die Gesprächspartner aber ihre negativen Erfahrungen ab, die sie mit der Kirche oder Pfarrpersonen gemacht haben, oder Vorurteile, die sie gegenüber der Institution hegen.

Sind es religiöse Fragen, die die Patientinnen und Patienten dir als Seelsorgende stellen, oder sind sie existenzieller und spiritueller Art?
Hier muss ich vorausschicken, dass wir im Auftrag des Spitals zu allen grossen Religions- und Konfessionsgemeinschaften Kontakt pflegen. Wenn die Betroffenen den Wunsch haben, einen Seelsorgenden ihrer eigenen Religion zu sehen, organisieren wir ihn. Ich habe sogar schon jemanden von einer Sekte organisiert, weil ein Palliativpatient dies wünschte. Die Gespräche, die sie mit mir führen, drehen sich um existenzielle Themen. Was habe ich falsch gemacht? Viele trauern um ihr Leben, das zu früh zu Ende geht. Häufig sind auch noch ungelöste Konflikte da. Bei muslimischen Patienten geht es oft um die Frage, ob sie sich kremieren lassen sollen oder sich in der alten Heimat erdbestatten. Wir bilden am USZ übrigens muslimische Seelsorgende aus. Und es gibt natürlich auch Leute mit religiösen Bedürfnissen. Sie wollen beten, singen oder ein Ritual gestalten.
«Es gibt Momente, in denen man nichts tun kann, ausser diese Trauer anzuerkennen. Die Menschen haben oft Mühe damit, dass ihnen alle sagen, es komme schon gut, sie aber insgeheim wissen, dass das nicht stimmt.»

Welche Art von Ritual?
Rituale helfen Menschen in Übergangssituationen, wenn auch nicht mehr unbedingt die herkömmlichen. Wir müssen kreativ sein und darauf eingehen, was ihnen wichtig ist. In meinen Begleitungen mache ich die Erfahrung, dass jeder Mensch ein Lebenssymbol hat. Kürzlich traf ich auf einen Schreiner. Von der Pflege hiess es, das Gespräch mit ihm könnte schwierig werden, er sei eher wortkarg. Er erzählte mir dann von einem alten Stall, den er in den Bergen zu einem Chalet umbaut. Er sprach viel von diesem Haus, das er nun nicht mehr vollenden kann. Als er vom Dach erzählte, das er nicht fertig decken kann, brach er in Tränen aus. Ich merkte, dass er eigentlich von sich selbst spricht, von seinem Sterben. Wir brauchen Gespür, Präsenz und Aufmerksamkeit, solche Dinge herauszufinden.

Wie tröstet man jemanden, der um sein eigenes Leben trauert?
Es gibt Momente, in denen man nichts tun kann, ausser diese Trauer anzuerkennen. Die Menschen haben oft Mühe damit, dass ihnen alle sagen, es komme schon gut, sie aber insgeheim wissen, dass das nicht stimmt. Ich arbeite mit dem, was die Menschen mitbringen oder versuche etwas Verschüttetes auszugraben. Eine portugiesische Patientin erzählte mir etwa, dass sie Fado liebe. Kurzerhand lud ich ein paar Stücke aufs Handy runter, die wir zusammen anhörten. Später bat sie ihren Mann, CDs ihrer Lieblingssängerin mitzubringen. Gemeinsam übersetzten wir die Texte und spürten dem nach, was für die Patientin bedeutsam ist. Im Fado geht es häufig um Sehnsucht. Das Sprechen über die sentimentalen Lieder – es geht darin oft um verlorene Liebe, die verlassene Heimat oder vergangene Zeiten – gab der Frau Kraft. Sie war kein Typ, der grossartig über sich selbst sprechen konnte. Trotzdem war das eine hochspirituelle Begleitung.
«Wenn man jedoch durch einen Schicksalsschlag aus dem Alltag herausgerissen wird, weiss man plötzlich nichts mehr. Wir helfen auch, dass sie sich im Spital zurechtfinden.»

Du bist auch noch Teil des interdisziplinären Care Teams des USZ. Was ist hier deine Aufgabe?
Im Team dabei sind neben Seelsorgerinnen auch Ärzte, Pflegende, Sozialarbeiterinnen, medizinische Therapeuten. Als Care Giver begleiten und unterstützen wir Menschen, die schreckliche Dinge erleben, die ihnen den Boden unter den Füssen wegziehen, damit sie wieder auf ihre Handlungsebene finden. Sie sollen zum Beispiel einen Plan haben, wer sie abends abholt, wo sie hingehen können oder sogar ans Nachtessen denken. Banale Dinge eigentlich. Wenn man jedoch durch einen Schicksalsschlag aus dem Alltag herausgerissen wird, weiss man plötzlich nichts mehr. Wir helfen auch, dass sie sich im Spital zurechtfinden.

Welche Aufgaben hast du sonst noch?
Als Seelsorgende haben wir auch ein offenes Ohr für die Sorgen des Personals. Das USZ steht unter einem enormen Druck in der Spitallandschaft. Es verändert sich viel, zum Teil in rasantem Tempo: Die Büro-Mitarbeitenden sind nach Stettbach umgezogen. Das USZ hat einen neuen zusätzlichen Standort am Flughafen. Es verfolgt das Ziel des papierlosen Spitals. Nicht alle kommen so unkompliziert klar mit den Veränderungen. Es gibt selbstverständlich auch Anlaufstellen beim HR. Die Leute kommen jedoch oft zuerst zu uns, weil wir sehr niedrigschwellig und unbürokratisch erreichbar sind.

Und das nützt?
Vom Organigramm gehören wir in die Spitaldirektion. Wir gehören einerseits dazu, andererseits dürfen wir in wohlwollender Art auch kritisch sein. Ich glaube, man hört uns auch zu. Wie gesagt: Mir gefällt das Bild der Hofnarren sehr gut. Wir haben eine gewisse Freiheit.

Weshalb machst du diesen Job gerne?
Ich möchte dazu ein Beispiel erzählen: Auf einer Intensiv-Station des USZ lag kürzlich eine Frau, die hatte eben ein Kind geboren, und litt an einer Fruchtwasser-Embolie Es sah nicht gut aus, und ihr Ehemann war ziemlich verzweifelt. Ich durfte ein paar Mal bei Arztgesprächen dabei sein, in denen negative Nachrichten überbracht wurden. Ich durfte ihn betreuen und begleiten, er nahm das gerne in Anspruch. Er war zwar religiös, haderte aber stark. Er fragte sich, weshalb sie als junge Eltern so bestraft werden. Die Begleitung dauerte fast drei Wochen, es war eine sehr traurige Geschichte, aber am Schluss war klar: Er hatte einen Prozess durchgemacht. Er entschied, dass man die Maschinen abstellt. Er musste das Schicksal annehmen, dass er nun allein ist als Vater. Wir sassen oft im Café zusammen und er erzählte mir von Erlebnissen mit seiner Frau. Sie sei seine grosse Liebe gewesen. Es ist für mich ein Privileg, jemanden so nah durch eine Krise zu begleiten.
palliative zh+h/Sabine Arnold