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Palliative-Care-Fachorganisation öffnet sich für die Bevölkerung

Palliative-Care-Fachorganisation öffnet sich für die Bevölkerung

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Sonja Flotron, Präsidentin von palliative ch, forderte am Kongress: «Less talk more action.» (Bild: Christian Ruch, palliative ch)

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Zwei Tage als Gradmesser
An den nationalen Palliative-Care-Tagen vom 2. und 3. Dezember in der Fabrikhalle 12 in Bern nahmen um die 640 Teilnehmerinnen und Teilnehmer teil. Der Kongress versuchte die Fragestellung «Wie kommt Palliative Care an?» zu beantworten. Der erste Tag, an dem die Referate wegen des Andrangs live in einen anderen Saal übertragen werden mussten, stand im Zeichen der Strategie: Der Kern bildete ein Podium, auf dem so viele Teilnehmende sassen, dass jeder quasi nur ein Eröffnungs- und ein Schlussvotoum halten konnte. Das war schade, denn die Teilnehmenden hätten alle viel zu sagen gehabt. Auf dem Podium sassen: Martin Bienlein (Geschäftsleitungsmitglied Spitalverbands Hplus), Marc Müller (Präsident Verband Hausärzte Schweiz), Emma Sayer (Angehörige), Marianne Pfister (Zentralsekretärin Spitex Verband), Markus Leser (Fachbereichsleiter Menschen im Alter Curaviva), Moderator Stefan Leutwyler (stv. Zentralsekretär Gesundheitsdirektorenkonferenz), Annette Jamieson (Gesundheitspolitik Helsana), Gian-Domenico Borasio (Palliativmediziner Uni Lausanne), Markus Loosli (Alters- und Behindertenamt Kanton Bern).

Am zweiten Kongresstag stellten Forschende ihre Projekte vor. Im Fokus standen die Angehörigen. Es wurden jedoch auch Studien über Palliative Care bei Kindern oder Menschen mit fortgeschrittener Demenz präsentiert.

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04. Dezember 2015 / Politik
Am Rande der nationalen Palliative-Care-Tage, die am Mittwoch und Donnerstag in Bern stattfanden, haben sich die Mitglieder von palliative ch entschieden, künftig auch eine Organisation für Betroffene und ihre Angehörigen zu sein.

Wie die Krebsliga oder die Alzheimervereinigung wird palliative ch neu neben einer Fach- auch eine Bevölkerungsorganisation sein. Das haben die Mitglieder des Vereins an der Generalversammlung (GV) vom Mittwochabend in Bern beschlossen. Sie sagten Ja zur bereits von mehreren Gremien überarbeiteten und abgesegneten Statutenänderung und dies ohne Gegenstimme. Der Organisation beitreten können künftig neben Personen oder Institutionen, die in der Palliative Care tätig sind, auch Menschen oder Organisationen, welche «die Arbeit von palliative ch unterstützen». Neben den bisherigen «Aktivmitgliedern» gelten sie als «Fördermitglieder».

Die GV hatte zuvor engagiert über den Wortlaut der neuen Vereinsgrundlagen diskutiert. Zu reden gab zum Beispiel das neue Leitbild. Darin heisst es, eines der Ziele von palliative ch sei, dass unsere Gesellschaft Sterben und Tod als natürliche Teile des Lebens verstehe. «Wenn sich dieser Passus gegen die Tabuisierung des Todes richtet, dann bin ich damit einverstanden. Doch wir sollten uns nicht gegen die Sterbehilfe stellen», sagte Hans Neuenschwander, ehemaliger Chefarzt Palliative Care im Tessin und Vorstandsmitglied der Krebsliga. Andere meinten, ein «natürliches Sterben» gebe es schon lange nicht mehr. So einigte man sich schliesslich auf den Satz: «Wir setzen uns dafür ein, dass Sterben als Teil des Lebens betrachtet wird.» Andere sprachliche Änderungen betrafen Unschärfen der Übersetzung.

«Bevölkerung sensibilisieren»

Die GV vollzog mit diesem Entscheid einen Strategiewechsel, der schon länger angekündigt und auch am ersten Kongresstag – dem «Strategietag» – von mehreren Referent_innen gefordert worden war. «Wir müssen unsere Rolle neu überdenken», sagte etwa Steffen Eychmüller, Vizepräsident von palliative ch. «Es gibt Themen, in denen wir den Lead übernehmen wollen. palliative ch muss in der Sensibilisierung der Bevölkerung einen Effort leisten.»
Ende Jahr läuft die nationale Palliative-Care-Strategie nach sechs Jahren aus. Es gehe aber danach trotzdem weiter, sagte Pascal Strupler, Direktor des Bundesamtes für Gesundheit (BAG), in seinem Schlussreferat. «Die Palliative Care wird auf der politischen Agenda weit oben stehen bleiben.» Man habe in den sechs Jahren Einiges erreichen können in punkto flächendeckender Angebote und hochwertiger Qualität, aber auch was die Forschung und Bekanntheit des Themas anbetrifft. Auf dem «Quality of Death Index» des «Economist» konnte die Schweiz dieses Jahr gegenüber 2010 vier Plätze gut machen und vom 19. auf den 15. Rang klettern. Offene Fragen existierten aber weiterhin, so Strupler. Der BAG-Direktor zeigte sich dennoch zuversichtlich. «Unser Land hat in der Palliative Care eher Aussichten auf einen Spitzenplatz als am Eurovision Song Contest.» Es würden noch etliche Fragezeichen bestehen, sagte auch Sonja Flotron, Präsidentin von palliative ch. Zum Beispiel im Bereich der spezialisierten Langzeitpflege gebe es noch viel zu tun, bei den mobilen Palliativdiensten, in der ambulanten Grundversorgung sowie in der zeitlich flexiblen Betreuung von Patient_innen, zum Beispiel nachts.

«Stigma der medizinischen Niederlage»

Die nationale Strategie wird in eine Plattform überführt, die den Austausch unter Fachpersonen und -institutionen fördert und Betroffenen beziehungsweise ihren Angehörigen den Zugang zu qualitativ guten Angeboten verschafft. Gute Projekte sollen als Vorbilder dienen, offene Fragen sollen beantwortet werden und auf Probleme soll flexibler reagiert werden können als bisher. Die Plattform wird im nächsten Jahr aufgebaut und 2017 definitiv lanciert. Palliative ch übernimmt dabei die Federführung und hat in der Folge mehr Aufgaben zu erledigen, etwa die Öffentlichkeit zu informieren und Betroffene zu beraten, und braucht dafür folglich mehr finanzielle Mittel. Denn der Begriff «Palliative Care» und die damit verbundenen Leistungen seien in der Bevölkerung grösstenteils immer noch unbekannt, schreiben Flotron und Eychmüller im Abstract zu ihrem Vortrag. Der Begriff «palliativ» trage weiterhin das Stigma der medizinischen Niederlage und Erfolgslosigkeit. «Dies erstaunt in Anbetracht der Tatsache, dass in den vergangenen fünf Jahren wissenschaftliche Belege dafür entstanden sind, dass Palliative Care richtig und frühzeitig in der Vorausplanung eingesetzt die Lebensqualität deutlich verbessert, Kosten spart und sogar die Lebenszeit potentiell verlängert.»

«Future of Death»

Mit einer erfrischenden Präsentation startete Stephan Sigrist, Chef des Thinktanks W.I.R.E., in den ersten Kongresstag (siehe Text in der Seitenleiste rechts). Er widmete sich dem Thema «Leben und Sterben lernen» (Programmheft) oder der «Future of Death», wie er es selber knackiger bezeichnete. Den Bedeutungszuwachs der Palliative Care leitete er aus folgenden Trends her: Die allgemeine Lebenserwartung steigt. Die Fortschritte in der medizinischen Diagnostik nehmen zu und ermöglichen die Früherkennung verschiedener Krankheiten. Beides führt zu einer grösseren Zahl von (chronisch) Kranken. Statt unser Gesundheitssystem aber wie bisher zu fragmentieren und den Fokus auf die Diagnose zu legen, forderte Sigrist, den Überblick nicht zu verlieren und den ganzen Menschen in den Fokus zu nehmen. Zudem müsse der Schwerpunkt der Medizin, der auf den ersten zwei Dritteln des Lebens liege, ebenfalls verschoben werden. «Wir müssen das Sterben neu denken. Und wir müssen früher damit beginnen, bereits ab zwanzig Jahren, wenn die Degeneration unseres Hirns beginnt».
Sigrist sprach von intelligenten Systemen wie Robotern oder Algorithmen, die in einzelnen Berufsbranchen Arbeitskräfte nach und nach ersetzten. Diese Gefahr droht der Palliative Care zwar nicht, da hier der Mensch gegenüber nicht fehlen dar. Gleichzeitig sollten technische Innovationen – wo sie sinnvoll sind – auch in der Palliativmedizin Einzug halten. In einer Befragung von älteren Menschen habe eine grosse Mehrheit gesagt, sie würde sich nie von einem Roboter pflegen lassen wollen. Wenn dieser jedoch den Einzug ins Altersheim verhindern könne, überlegten sie es sich anders.

«Gemeinden und Kantone schieben sich Kosten zu»

Der Kurzfilm von Stefan Rathgeb «Palliative Care – Umsetzung in der Praxis» zeigte am Strategietag fast am eindringlichsten auf, dass die Palliativpflege noch lange nicht da ist, wo sie sein müsste. Erwachsene berichteten vom Tod ihrer Eltern, von Spiessrutenläufen und letzten Lebensabschnitten, die man niemandem wünscht. Expert_innen im Film suchten nach Gründen dafür: Die Kommunikation funktioniere nicht. Es gebe zu wenig Menschlichkeit und zu viel Fragmentierung in der Medizin. Die Umsetzung der Palliative-Care-Strategie weise kantonal und regional grosse Unterschiede auf. Das Hauptproblem ortete Roland Kunz, Vorstandsmitglied von palliative zh+sh und Palliativmediziner in Affoltern a. A., in der Finanzierung: «Sie ist auf verschiedenen Ebenen geregelt. Kantone und Gemeinden versuchen, die Kosten dem anderen zuzuschieben.»
palliative zh+sh, sa