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Wenn man nicht mehr loslassen kann

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29. August 2016 / Medien
Häufig leiden Menschen, die sich um ihre schwer kranken Angehörigen kümmern, an Schlafstörungen. Um ihnen Hilfe zur Selbstsorge zu bieten, hat die ökumenische Fachstelle Begleitung in der letzten Lebensphase St. Gallen einen kostenlosen Ratgeber veröffentlicht. Er gilt für die gesamte Deutschschweiz.

Die Fakten sind alarmierend: Jeder dritte pflegende Angehörige zeigt Zeichen einer Depression, sagt eine dänische Studie. Eine britische Studie hat herausgefunden, dass jeder zehnte pflegende Angehörige diese verantwortungsvolle Aufgabe rückblickend nicht mehr übernehmen würde. «Man ist sehr alleine, wenn man einen Angehörigen pflegt», sagt auch Urs Winter. Für die Fachstelle Begleitung in der letzten Lebensphase (BILL) in St. Gallen hat er den Ratgeber «Nahe sein bis zuletzt» veröffentlicht.

Darin geht es um Fragen der täglichen Pflege, der Sterbebegleitung, aber auch um Anregungen im Umgang mit der eigenen Trauer. Das Buch zeigt, wie pflegende Angehörige sich selbst Sorge tragen und wo sie bei Bedarf um Unterstützung nachfragen können. Gegliedert ist der Ratgeber in die Themen Palliative Care, Selbstsorge, Pflege zu Hause, praktische Fragen der Pflege und Begleitung, die Begleitung im Pflegeheim oder Hospiz, die letzten Dinge regeln, die Begleitung unmittelbar vor dem Tod und die Zeit der Trauer. Die behandelten Fragen sind wichtig und anschaulich präsentiert. Es geht zum Beispiel darum, wie viel dem kranken Menschen über seine Krankheit erzählt werden soll. Dort heisst es dann, dass schwer kranke Menschen in der Regel über ihren Zustand informiert werden wollen. Es wird zudem ein Betroffener zitiert, der sagt: «Die Wahrheit kann weh tun, Unehrlichkeit tut noch mehr weh.»

Sich selber Sorge tragen

Winter ist Theologe und Psychologe. Er hat sich bei seinem kostenlosen «Büchlein», wie er es selbst nennt, auf das Werk des australischen Pflegewissenschaftler-Paars Peter und Rosalie Hudson gestützt. Er hat es übersetzt, an Schweizer Verhältnisse angepasst und erweitert. Er hat zum Beispiel das Thema Trauer noch etwas ausgebaut, oder den Teil «Der Tod ist eingetreten – was muss man nun tun?» auf Schweizer Bestimmungen ungemünzt.

Sein wichtigstes Ziel sei gewesen, «einen verlässlichen Begleiter in einer schwierigen und herausfordernden Situation» zu schaffen. Für Menschen, die ein Familienmitglied oder einen Freund pflegen, seien zwei Dinge wichtig: Erstens wie kann ich für jemanden da sein? Zweitens wie kann ich zu mir selber Sorge tragen?

Entstanden ist der Ratgeber, weil die Bedeutung der sogenannt pflegenden Angehörigen wächst. Winter bildet für BILL Freiwillige aus, die sich, zum Beispiel in einer Hospizgruppe, als Sterbebegleiter engagieren. Immer häufiger seien auch betroffene Angehörige in die Kurse zur Begleitung Schwerkranker am Lebensende gekommen. Auch der Bund hat erkannt, dass angesichts der alternden Bevölkerung und des sich abzeichnenden Fachkräftemangels die pflegenden Angehörigen immer wichtiger werden.
«Die Leistung der pflegenden Angehörigen könnte durch professionelle Pflege gar nicht abgedeckt werden, dazu fehlen die personellen und finanziellen Ressourcen. Es ist deshalb entscheidend, dass sie gut unterstützt werden.»
Bundesrat Alain Berset

Gesundheitsminister Alain Berset schreibt denn auch im Vorwort: «Diese Betreuung [durch Angehörige und Freunde] ist für den betroffenen Menschen sehr wichtig. Sie erlaubt ihm nicht selten, länger zu Hause in der gewohnten Umgebung zu leben und auch dort zu sterben. Diese Betreuung ist auch wichtig für unser Gesundheitswesen.»

Im Untertitel des neuen Buches fällt auf, dass neben den pflegenden Angehörigen auch Freunde angesprochen werden: Er heisst «Ein Ratgeber für (pflegende) Angehörige und Freunde». Autor Urs Winter definiert die pflegenden Angehörigen relativ weit: «Für mich fallen darunter alle, die sich einem schwer kranken Menschen verbunden fühlen.» Im engeren Sinne seien es in 90 Prozent der Fälle immer noch Frauen, also Gattinnen, Töchter oder Schwiegertöchter, die einen schwer kranken Menschen zu Hause pflegten. «Männer übernehmen eher administrative Aufgaben wie mit den Behörden zu verhandeln und Ähnliches», sagt er. Dennoch richte sich der Ratgeber auch an Männer. Und auch an solche, die sich tatsächlich «nur» emotional zugewandt fühlen und zum Beispiel ihre Eltern selbst nicht waschen könnten. Auch wenn jemand in einem Pflegeheim sei, könne man sich ihm noch verbunden fühlen. «Man soll immer das machen, bei dem einem wohl ist», so Winter.

Regionalisierbares Handbuch

Das Handbuch ist kostenlos, da es auch ein Dankeschön für das Engagement der pflegenden Angehörigen sein soll, sagt Urs Winter. Finanziert wurde es durch einen Fonds der Gesundheitsförderung Schweiz und die Ostschweizer Kirchen. Regional ist der Ratgeber auf die gesamte Deutschschweiz ausgerichtet. Er enthält eine herausnehmbare Beilage mit den wichtigsten Adressen von palliative ostschweiz. Das heisst er kann also von einzelnen Institutionen oder Organisationen auch an die eigene Umgebung angepasst werden.

Das Buch ist das erste von mehreren Angeboten, welche BILL für pflegende Angehörige im Sinn hat. Es sollen auch Schulungen für pflegende Angehörige folgen, aber die sollen kurz sein. «In der Regel haben diese ja neben ihrem pflegenden Engagement und der Arbeitstätigkeit keine freie Zeit für einen Kurs», so Winter.
BILL St. Gallen, palliative zh+sh