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«Was, wenn der Tod einen ähnlichen Stellenwert bekäme wie die Geburt?»

«Was, wenn der Tod einen ähnlichen Stellenwert bekäme wie die Geburt?»

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Andreas Weber und Isabelle Karzig vom Projektteam «ACP-NOPA» nahmen im Juni 2017 den Förderpreis des fmc am Symposium in Bern entgegen. Jetzt hat das fmc der Palliative Care eine Publikation gewidmet (Bilder: Forum Managed Care).

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23. Oktober 2017 / Medien
Das Forum Managed Care (fmc) widmet sein aktuelles Fachmagazin der Palliative Care. Darin hält Palliativmediziner Steffen Eychmüller ein flammendes Plädoyer für eine Revolution im Gesundheitswesen. Es solle, wenn es den Wert seiner Angebote definiere, nicht an den Bedürfnissen der Betroffenen vorbeiplanen.
Die Geburt hat sich einst gewandelt, weg von einem «ängstlich erwarteten Schicksalsereignis mit sehr unsicherem Ausgang für Mutter und Kind» hin zu einem «gut geplanten und freudig erwarteten Live-Event», schreibt Steffen Eychmüller in seinem Essay. Der Palliative-Care-Professor aus Bern zieht die Parallele zwischen Tod und Geburt an mehreren Stellen. Es sei überraschend, dass es unserer reichen Gesellschaft noch immer nicht gelungen sei, ein weniger erschreckendes und düsteres Bild von der letzten Lebensphase zu entwerfen und sie «ebenso ideenreich zu gestalten wie die erste».

Mehr als 80 Prozent aller Todesfälle kommen nicht überraschend. Deshalb wäre eigentlich genug Zeit vorhanden, das Lebensende vorauszudenken und zu -planen. Obwohl es ein grosses Bedürfnis ist, den Tod würdig und individuell zu gestalten, gelingt dies nur den wenigsten. Es gebe Ansätze, die sich mit einem «besseren Sterben» befassen, schreibt Eychmüller: Konzepte wie «Advance Care Planning» (ACP) oder die sogenannte «life and death education». Letztere bezeichnet den Tod nicht als Manko, sondern als sinnstiftende Existenzgrundlage.

Wenn sich Palliativpatienten um die Kostendeckung sorgen

Der Tod gehört also zum Leben. Diese Erkenntnis verschafft Gelassenheit am Ende des Lebens. Sie steht aber im Widerspruch zum wirtschaftlichen Wettstreit um Ressourcen. Viele Patientinnen und Patienten und ihre Angehörigen sorgten sich auf der Palliativstation, wie lange das Bett noch belegt werden könne oder wann die kostendeckende Phase auslaufe, schreibt Eychmüller. Viele Betroffene würden lieber schneller sterben als in eine neue Umgebung verlegt werden.

Studien hätten gezeigt, dass Betroffene – Patientinnen, Patienten, Familie und Freunde – sich am Lebensende vor allem Zeit, Ruhe, eine kompetente Leidenslinderung und wärmespendende Beziehungen wünschten – also alles Bedürfnisse, die nur teilweise medizinisch gedeckt werden müssen. In unserem Gesundheitssystem werde das Sterben aber als medizinischer Vorgang definiert.
«Die einzige medizinische Diagnose für das Lebensende ist der exitus letalis, und dieser ist definitionsgemäss der Endpunkt der Vergütung.»
Steffen Eychmüller

Der Palliativmediziner wird deutlich: «Ist es nicht eine Schande, dass in einem Vergütungssystem für stationäre Leistungen wie dem DRG-System eine würdige Begleitung und Behandlung in der Sterbephase als ‹Leistungsziffer› oder Code schlicht nicht vorkommt?» Das schweizerische Abrechnungssystem für stationäre Leistungen entlarve den Stellenwert, den das Sterben in unserer Gesellschaft habe: nämlich keinen. Das Problem sei, dass sich die Vergütung der Behandlung im Spital allein an medizinischen Diagnosen orientiere. «Die einzige medizinische Diagnose für das Lebensende ist der exitus letalis, und dieser ist definitionsgemäss der Endpunkt der Vergütung.»

Eychmüller plädiert also für ein Umdenken in der Gesundheitsversorgung. Die Leistungen müssten neu definiert werden und auf den Bedürfnissen von Patienten und Angehörigen beruhen.

Eine einfache App für schwierige Entscheidungen

In der fmc-Publikation kommen auch die Initiantinnen und Initianten des Zürcher Projekts ACP-NOPA zu Wort: Palliative- Care- und Ethik-Expertinnen und Experten von palliative zh+sh, Universitätsspital sowie der Universität Zürich haben eine Applikation sowie eine zertifizierte Fortbildung entwickelt. Fachpersonen werden so befähigt, Beratungen zum Thema vorausschauende Planung (Advance Care Planning) durchzuführen. Die Idee ist, dass die meisten schwer kranken Menschen eine klare Vorstellung davon haben, wie und wo sie behandelt werden möchten. «Das ACP-NOPA-Projekt hat zum Ziel, diese Wünsche am Lebensende durch einen gemeinsamen Gesprächsprozess klar zu dokumentieren und mit Hilfe einer individuellen Notfallplanung auch wirksam zu unterstützen.»

Im Mai 2017 begann die Weiterbildung von Beraterinnen aus verschiedenen spezialisierten Palliative-Care-Institutionen im Kanton Zürich. Nach Abschluss der Schulung steht die App, die ein strukturiertes Gespräch, anschauliche Entscheidungsgrundlagen sowie einen individuellen Notfallplan ermöglicht, den Teilnehmenden aus den Pilotinstitutionen zur Verfügung.
«Das komplexe Zusammenspiel verschiedener Akteure zeichnet die Palliative Care aus.»
Oliver Reich

Föderpreis für ACP-NOPA-Projekt

Das Forum Managed Care (fmc) hat dem ACP-NOPA-Projekt übrigens im Frühsommer einen Förderpreis verliehen. Es wurde aus total 84 eingereichten Projekten erkoren. Das fmc macht sich für eine integrierte Versorgung stark. Dieses Organisationsprinzip will einer zerstückelten Behandlung und Betreuung von vor allem schwer und chronisch Kranker entgegenwirken, weil die Fragmentierung weder effizient noch qualitativ befriedigend ist.

Die Palliative Care ist ein Paradebeispiel für integrierte Versorgung. Oliver Reich, Vorstandsmitglied von fmc und Leiter sante24, schreibt im Vorwort: «Das komplexe Zusammenspiel verschiedener Akteure, welche sich in überfachlicher Kooperation für die bestmögliche Betreuung der Patienten an deren Lebensende einsetzen, zeichnet die Palliative Care aus.»
«In allen Kantonen muss in naher Zukunft eine gute Finanzierungslösung gefunden werden.»
Monika Obrist

Monika Obrist, Präsidentin von palliative ch und Geschäftsleiterin von palliative zh+sh macht in ihrem Beitrag auf zwei Baustellen in der hiesigen Palliativversorgung aufmerksam: Besonders bei den Hospizen und im ambulanten Bereich, wenn Krisen auftreten, die von Hausärztinnen oder der Spitex nicht bewältigt werden können, fehle es an angemessener Versorgung.

Zwar gebe es vielerorts mobile spezialisierte Palliative-Care-Teams, deren Einsätze die Notfallhospitalisationen am Lebensende markant senken, Leiden wirksam behandeln und erst noch Kosten einsparen könnten. Doch leider müssten sie fast überall um eine kostendeckende Finanzierung ihrer Leistungen kämpfen. Ein möglicher Lösungsansatz könnte eine Kostenteilung zwischen Kanton und Gemeinden sein. «Es ist ein zentrales Anliegen von palliative ch, dass in allen Kantonen in naher Zukunft gute Finanzierungslösungen diskutiert und gefunden werden, damit Menschen, die zu Hause sterben wollen, auch in schwierigen Situationen eine gute integrierte Palliative Care erhalten.»