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Mit Fach- und Herzkompetenz: Palliative Care im Sune-Egge

Mit Fach- und Herzkompetenz: Palliative Care im Sune-Egge

Heute ist der Sune-Egge ein Fachspital für Sozialmedizin und Abhängigkeitserkrankungen und steht auf der Zürcher Spitalliste.

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18. Mai 2022
«Fach- und Herzkompetenz sind uns gleichermassen wichtig.» Dies sagte einst der Gründervater des Sozialwerk Sieber, Pfarrer Ernst Sieber. Der Sune-Egge war eine seiner Antworten auf die offene Drogenszene am Zürcher Letten und auf das Elend der späten 80er-Jahre. Hier wird Palliative Care gelebt.
Zuerst war da eine Notaufnahme in einer Garage an der Konradstrasse, dann eine Krankenstation im dazugehörigen Wohnhaus. Heute ist der Sune-Egge ein Fachspital für Sozialmedizin und Abhängigkeitserkrankungen und steht auf der Zürcher Spitalliste. Stationär verfügt das Spital über 30 Betten. Die meisten der sozial benachteiligten Patientinnen und Patienten leiden an unheilbar chronischen Krankheiten, viele haben gleichzeitig auch eine psychiatrische Erkrankung. Damit gehören diese Menschen am Rande der Gesellschaft zu der sogenannten «vulnerablen Patientengruppe».
Ich treffe Stefan Bucher, Leiter Sozialdienst im Sune-Egge. Er ist einer der Referierenden an unserer Fachtagung im Juni, und von ihm möchte ich mehr erfahren über den Alltag in diesem nicht alltäglichen Spital. Wie lebt man hier Palliative Care? Wie wichtig ist Spiritual Care in der Betreuung der Randständigen? Und ist der Tod überhaupt ein Thema?

Vertrauen ist zentral

Bald wird mir klar: das, was in anderen Institutionen hochmoderne Medizin leistet, erarbeitet man sich hier mit Vertrauen. Vertrauen innerhalb des Teams, vor allem aber das Vertrauensverhältnis zwischen Betreuenden und Randständigen. Es ist nicht einfach, an die Menschen heranzukommen, ihnen die Hilfe zu geben, welche sie gerade brauchen. In erster Linie kommen sie aufgrund von körperlichen Beschwerden ins Fachspital. Viele Patientinnen und Patienten haben zwischen 10 und 20 Jahren Erfahrung mit massiven Suchterkrankungen, einige von ihnen waren damals in der offenen Drogenszene am Platzspitz. Nach dieser langen Zeit der Sucht reagiert der Körper immer stärker, somatische Probleme wie chronische Wunden, Lebererkrankungen oder nötige Amputationen mehren sich. Sie sind der Auslöser, weshalb jemand hier Hilfe sucht – unter psychischen Problemen leiden die meisten Randständigen ebenfalls.

Niemand verlässt den Sune-Egge gesund. Viele hoffen, dass sich ihre Situation verbessert mit einem Aufenthalt an diesem geschützten Ort. Hoffnung ist generell ein grosses Thema. «Das hat aber in erster Linie mit Verdrängen zu tun. Viele unserer Klienten wollen nicht so genau hinschauen, während die Betreuer spüren, dass es nicht mehr lange so weitergehen wird», sagt Stefan Bucher in unserem Gespräch. Das Thema Tod steht zwar im Raum, wird aber von den Betroffenen selten angesprochen. Mit viel Gespür und Feingefühl begleiten die Betreuer ihr Gegenüber, schaffen Vertrauen. Was hilft ihnen? Was möchten sie noch machen, bevor das Leben zu Ende ist? Manch einer hat in seinem letzten Lebensabschnitt noch Wünsche, hat Pläne, die er umsetzen möchte. So wünschte sich ein schwer krebskranker Mann, noch einmal ins Tessin zu reisen. Ein schwieriges Unterfangen, denn der Patient konnte nicht mehr längere Zeit sitzen. Aber die Sozialarbeiter vom Sune-Egge bauten kurzerhand ihren VW-Bus zu einem provisorischen Ambulanzfahrzeug um und legten eine Matratze auf den Boden. Bis zum Gotthard-Tunnel lag der Mann im Bus und die Begleiter wussten nicht, ob er überhaupt etwas von seiner Reise mitbekam. Doch nach einem kurzen WC-Stopp am Gotthard-Süd-Portal wollte der Mann sich partout nicht mehr hinlegen, sondern setzte sich neben den Fahrer. Er genoss die Reise, sein Wunsch war in Erfüllung gegangen. In der folgenden Woche starb der Patient.

Ein letztes "Tschüss" an den Kumpel

Der Tod ist allgegenwärtig und doch wird er von den Patientinnen und Patienten im Sune-Egge ignoriert. So wie vieles, das belastend sein könnte, einfach zur Seite geschoben wird. Ob ihnen eine Betreibung droht oder ein Gefängnisaufenthalt – solche Nachrichten lassen sie kalt. Diskussionen über den Tod ebenfalls. Erst in dem Moment, in dem ein Mitpatient stirbt, zeigt sich Betroffenheit. Wenn ein Kumpel für immer geht, wird das sehr wohl registriert. Deshalb wird der Abschied mit einem Ritual begangen: Eine Kerze brennt, ein Foto wird auf dem Stammtisch aufgestellt, dort wo Pfarrer Sieber immer wieder sass mit den Sune-Egge-Bewohnern und heute noch ein Kreuz hängt. Es wird Anteil genommen, und in einem Gottesdienst sagen die Mitarbeitenden und Patienten ein letztes Mal «tschüss».

Körperlich, psychisch und sozial schwer verletzt

Spirituelle Begleitung ist im Sune-Egge wichtig. «Unsere Patienten sind körperlich, psychisch und sozial schwer verletzt», sagt Stefan Bucher. Viele von ihnen sind hochsensible, spannende Menschen, die nicht die Chance gehabt haben zu lernen, mit ihrer Sensibilität umzugehen. Sie haben ein paar falsche Abzweigung genommen und den Weg von Substanzmissbrauch gewählt, um mit dieser Feinfühligkeit, vielleicht auch Dünnhäutigkeit umzugehen. Gleichzeitig sind sie nicht fähig, sich anzupassen. Für den Alltag im Sune-Egge nicht einfach. «Bei uns ist ein hohes Chaospotential. Wir Begleiter im interprofessionellen Team müssen in einem gewissen Mass mit dem Chaos mitgehen, sonst erreichen wir die Menschen nicht», sagt Stefan Bucher. Zum Glück hat die Offenheit für Spirituelles auch im Chaos ihren Platz. Das, was Pfarrer Sieber eingebracht hat, lebt weiter. Rituale und Andachten werden begangen und sind wichtig. Auf der anderen Seite will man die Leute nirgendwo hindrängen, auch in der Religion nicht. Wenn ein Patient mit dem Seelsorger beten möchte, dann beten die beiden. Will die Patientin lieber ein Glacé essen, dann gehen sie Glacé essen. Die Menschen werden dort abgeholt, wo sie im Moment sind.

Beim Verlassen des Hauses an der Konradstrasse ist mir klar: Wer einen Job im Sune-Egge annimmt, der begibt sich auf eine Expedition. Wie hat Stefan Bucher gesagt? «Wir haben keine Landkarte, auf der eingezeichnet ist, wie der Weg verläuft. Wir müssen den Weg selbst finden, indem wir ihn mit den Betroffenen gemeinsam gehen und damit selbst ein Stück weit zu Betroffenen werden.» Vielleicht ist Palliative Care genau eine solche Expedition, auf welcher die Helfenden immer wieder überprüfen müssen, in welche Richtung es geht, was situativ zu tun ist und was im Moment für den Patienten am hilfreichsten ist.



Die Fachtagung von palliative zh+sh zum Thema «Palliative Care für vulnerable Gruppen» findet am Donnerstag, 16. Juni 2022 von 13.00 bis 17.30 Uhr im Alterszentrum Hottingen statt. Weitere Informationen und Anmeldung auf unserer Webseite www.pallnetz.ch




palliative zh+sh / Bettina Weissenbrunner