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Eintauchen in die Lebenswelt von Sterbenden

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Fotos: Mina Monsef, Design: Bitten Stetter

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18. Juli 2022
Bis jetzt haben in der Öffentlichkeit vor allem die Designerin Bitten Stetter und ihre Überlegungen zum Pflegehemd das interdisziplinäre Forschungsprojekt «Sterbesettings» bekannt gemacht. Nun vereint eine erste gemeinsame Publikation weitere Erkenntnisse über die Situation, in der sich Sterbende befinden.
Wir kennen das Pflegehemd, das viele Patientinnen und Patienten im Spital tragen: Es ist weit geschnitten, sein heller Baumwollstoff mit einem beliebigen Muster bedruckt. Hinten aufklaffend, wird es an drei Stellen geknüpft. Klar ist, es ist die «Uniform des/der Kranken», wie Bitten Stetter in ihrem Beitrag in der Publikation «Kontext Sterben. Institutionen – Strukturen – Beteiligte» schreibt. Die Designerin und Forscherin hat bereits erreicht, dass sich eine Öffentlichkeit ausserhalb des Gesundheitswesens mit dem Phänomen Pflegehemd auseinandersetzt. In verschiedenen Medien, vom Frauenmagazin bis zur Tageszeitung, wurden ihre überraschenden Ideen besprochen.

Empfinden es einige als entwürdigend in diesem Kleidungsstück über Krankenhaus-Gänge zu gehen, ohne die Kontrolle zu haben, ob das eigene Hinterteil sichtbar wird, finden es die anderen nicht wichtig, was sie als Kranke tragen, oder sie geniessen es gar, ein eigens zum Liegen gestaltetes Kleidungsstück anzuziehen.

«Zwangsjacke der Fürsorge»

Was unbestritten ist: Das Pflegehemd ist – ganz im Gegensatz zu anderer Mode – nicht für diejenigen gemacht worden, die es tragen, sondern für diejenigen, die es öffnen, an- und ausziehen müssen, also für die Pflegenden. Stetter bezeichnet es deshalb als «Zwangsjacke der Fürsorge», denn nur sehr bewegliche Personen sind in der Lage, das Kleidungsstücks selbst zu öffnen oder zu schliessen. Selbstbestimmung ist das wahrlich nicht.

Bitten Stetter, die «Trends & Identity» an der Zürcher Hochschule der Künste lehrt, ist nicht nur Forscherin, sondern auch Designerin. In der Tradition des «Resarch Through Designs» hat sie das Pflegehemd untersucht, zerteilt, anders zusammengesetzt und neu erfunden: «Im nächsten Schritt entwickelte ich die Liegemode weiter, als ich zufällig verkehrt herum in die «Zwangsjacke» einstieg.» Der gleiche Schnitt habe dadurch wie ein Morgenmantel gewirkt, ein Kimono, Kaftan oder ein mantelähnliches Kleid. Sie nennt die entstandene Kollektion «Travel Wear» und schlägt vor, dass dieses Kleidungsstück einen durchs Leben begleiten, am Strand oder zu Hause getragen werden solle, damit es einem am Ende als «Sterbeding» bereits vertraut ist.

Unbequeme Fragen

Im Sammelband «Kontext Sterben», in dem übrigens auch Bilder der entworfenen «Reisemode» zu sehen sind, kommen andere Forschende zu Wort, die sich aus unterschiedlicher Perspektive mit dem Thema «Sterbesettings» beschäftigen, also mit den «institutionalisierten und vielseitig gestalteten Lebens- und Arbeitswelten, in denen Menschen miteinander, aber auch mit ihrer dinghaften Umgebung interagieren». Das gleichnamige interdisziplinäre Forschungsprojekt untersucht Sterbesettings in den Bereichen Pflege, Sprache, Religion und eben Produktdesign. Neben den beteiligten Forscher*innen wurden auch andere Fachperson eingeladen, ihre Erkenntnisse in diese Publikation einzubringen. Die Einleitung zum Beispiel stammt von Palliativmediziner Roland Kunz.

Das sorgfältig gestaltete und bei Scheidegger & Spiess in Zürich erschienene Buch sollte für Fachpersonen der Palliative Care Pflichtlektüre sein. Denn es hält ihnen den Spiegel vor und stellt unbequeme Fragen, die so erfrischend anders, aber naheliegend sind. Die Fragestellungen sind von den Räumen und Orten her gedacht, in der sich Palliativpatientinnen und -patienten befinden und den Dingen, die sie umgeben. Zum Beispiel:
  • Ist es exhibitionistisch oder enttabuisierend, wenn eine Person ihr Sterben in Videos auf Social Media öffentlich macht?
  • Wie unterscheidet sich bildhaftes Erleben in Todesnähe von einem Delirium?
  • Inwiefern hat die Wohnform Pflegeheim die Pandemie gefördert, und was müsste in Zukunft bei ähnlichen Ereignissen mitbeachtet werden?
  • Welche Rolle haben Sterbende im Hospiz, und welche Erwartungen müssen sie erfüllen?
  • Wie gehen Pflegende auf der Palliativstation mit Widersprüchen zwischen den Logiken des Akutspitals und ihrem Wissen aus der Palliative Care um?
  • Welche Rolle spielt Religion heute noch in Transzendenzerfahrungen vor dem Tod?

Videostills der Video- und Performance-Künstlerin Eva Wandeler runden das Buch ab. Sie ist im Projekt Sterbesettings Artist in Residence, das heisst, sie nimmt an Gesprächen und Workshops der Forschungsgruppe teil und entwickelt daraus künstlerische Arbeiten. In der fünfteiligen Werkreihe «nor here nor there» hat sie grosse, mit Farben, die auf Wärme reagieren, bemalte Tücher mit ihrem eigenen Körper «bearbeitet». Wo der Körper den Stoff berührte, wurde die Farbe durch die Körperwärme transparent. Auf Video hat sie die bewegten Körperformen festgehalten, die von «Zerfall, Schmerz und körperlicher Entgleisung» berichten.

Dank der Unterstützung durch den Nationalfonds ist das Buch auch gratis in einer Open-Access-Version downloadbar.


Caduff, Corina, Afzali, Minou, Müller, Francis, Soom Ammann, Eva (Hg.). Kontext Sterben. Institutionen – Strukturen – Beteiligte. 2022, Scheidegger & Spiess, Zürich. ISBN 978-3-03942-050-6 (Print-Version)

Ebenfalls neu: Caduff, Corina. Sterben und Tod öffentlich gestalten. Neue Praktiken und Diskurse in den Künsten der Gegenwart. 2022, Brill / Fink, Paderborn. ISBN 978-3-7705-6666-2 (Print-Version, auch als Open Access verfügbar)
palliative zh+sh / Sabine Arnold