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«Palliative Care muss wieder umlernen und neu lernen»

«Palliative Care muss wieder umlernen und neu lernen»

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Die Thematik Palliative Care ist nicht nur eine medizinische, sondern eine gesellschaftliche, weil sie eine Frage der Haltung unserer Gesellschaft ist. (Symbolbild: StockAdobe.com)

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Quellenangaben:

Quellenangaben:
(1) www.who.int/news-room/fact-sheets/detail/palliative-careAchtung Link öffnet sich in einem neuen Fenster

(2) Standards und Richtlinien für Hospiz- und Palliativversorgung in Europa: Teil 1[1], Weissbuch zu Empfehlungen der Europäischen Gesellschaft für Palliative Care (EAPC)White Paper on Standards and Norms for Hospice and Palliative Care in Europe: Part 1Recommendations of the European Association for Palliative Care, L. Radbruch, S. Payne et al., Kap. 6. Krankheitsstadien.

(3) www.palliative.ch/de/palliative-care/wann-beginnt-palliative-care/Achtung Link öffnet sich in einem neuen Fenster

(4) Zimmermann, Markus, Dr. theol.: Das Lebensende in der Schweiz, individuelle und gesellschaftliche Perspektiven, Schwabe Verlag 2019.

(5) Wild, Thomas: Mit dem Tod tändeln, 2016 Radius Verlag.

(6) Thoonsen B, Groot M, Verhagen S, van Weel C, Vissers K, Engels Y (2016). Timely identification of palliative patients and anticipatory care planning by GPs: practical application of tools and a training programme. BMC Palliative Care: 15:39. Walsh RI, Mitchell G, Francis L, Van Driel ML (2015). What diagnostic tools exist for the early identification of palliative care patients in primary care: a systematic review. Journal of Palliative Care. Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina und Union der deutschen Akademien der Wissenschaften (2015). Palliativversorgung in Deutschland. Perspektiven für Forschung und Praxis. Stellungnahme 2015. Halle (Saale): Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina [verfügbar unter: www.leopoldina.org/uploads/tx_leopublication/2015_Palliativversorgung_LF_DE.pdfAchtung Link öffnet sich in einem neuen Fenster ]. Schneider N, Oster P, Hager K, Klindtworth K (2011). Identifying elderly patients with advanced heart failure at the end of life. Int J Cardiol. 17;153:98–99 31:118–123. Weijers F, Veldhoven C, Verhagen C, Vissers K, Engels Y (2018). Adding a second surprise question triggers general practitioners to increase the thoroughness of palliative care planning: results of a pilot RCT with cage vignettes. BMC Palliat Care. 2018; 17: 64.

(7) Rosa, Hartmut, in: Mit dem Tod tändeln, Thomas Wild, 2016 Radius Verlag.

()8 Herrndorf, Wolfgang: Arbeit und Struktur, 2013 Rowohlt.

(9) The impact of advance care planning on end of life care in elderly patients: randomised controlled trial Karen M Detering, respiratory physician and clinical leader,1 Andrew D Hancock, project officer,1 Michael C Reade, physician,2 William Silvester, intensive care physician and director1. Tolle SW, Teno JM. Lessons from Oregon in embracing complexity in end-of-life care. N Engl J, Med 2017;376:1078–82. DOI: 10.1056/NEJMsb1612511.

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20. Mai 2021 / Wissen
Der Begriff Palliative Care wird eng mit Sterben und Tod verknüpft. Studien zeigen, dass es in der Praxis oft an der zu späten oder gänzlich fehlenden Identifikation von Palliative-Care-Patient*innen. Obwohl der Diskurs in der breiten Gesellschaft angekommen ist, scheint sich die Auseinandersetzung wieder mehr in den privaten Rahmen zurückzuziehen.
I. Was ist gemeint mit «Early Palliative Care»?

A. Haltung und Absicht von «Early Palliative Care»

Palliative Care spricht bewusst das Leben, die Lebensqualität, den Lebenssinn, die Würde und die Freude am Leben an – und kommt dennoch nicht umhin, diese Begriffe in Beziehung zum Lebensende, zum drohenden Verlust von Qualität, Sinn, Würde und Freude zu setzen. Mit einem frühen Einbezug von Palliative Care soll, neben einer möglicherweise belastenden kurativen Therapie, eine bestmögliche Lebensqualität gewährleistet werden. Zugleich sollen die Endlichkeit des Lebens und damit verbundene Entscheidungen antizipiert werden – selbstverständlich mit aller gebotenen Professionalität und Sorgfalt.
Die WHO publizierte im August 2020 Schlüsselfaktoren zu Palliative Care. Als Erstes stellt sie fest: «Palliative Care verbessert die Lebensqualität von Patienten und ihren Familien, die mit physischen, psychischen, sozialen oder spirituellen Herausforderungen im Zusammenhang mit lebensbedrohlichen Krankheiten konfrontiert sind. Auch die Lebensqualität der Pflegekräfte (Angehörige, Anm. der Verfasserin) verbessert sich.» Weiter schreibt die WHO, dass «die frühzeitige Bereitstellung von Palliativversorgung unnötige Krankenhauseinweisungen und die Inanspruchnahme von Gesundheitsdiensten reduziert».(1)*

Die europäische Gesellschaft für Palliative Care EAPC hält in ihrem Weissbuch fest, dass Palliative Care ab der Diagnosestellung einer unheilbaren Krankheit einsetzt und über einen kurzen oder langen Zeitraum begleitend und die Lebensqualität fördernd zur Verfügung stehen soll.(2)

Die Schweizerische Gesellschaft palliative ch formuliert es so: «Die Diagnose ‹unheilbar krank› verändert das ganze Leben. Für die Betroffenen, aber auch für ihre Angehörigen folgt oft eine belastende, schwierige Phase des Lebens. Schmerzen, andere körperliche Beschwerden und seelische Belastungen prägen den Lebensalltag. Die heilende (kurative) Medizin und die Palliative Care, die sich als Bestandteile der modernen Medizin sinn- und wirkungsvoll ergänzen, verfolgen in dieser Lebensphase ein gemeinsames Ziel: die Linderung von Schmerzen und anderen belastenden Beschwerden sowie eine psychologische und spirituelle Begleitung der Patientinnen und Patienten. Idealerweise geschieht dies unter Einbezug der nächsten Angehörigen. Damit profitieren viele schwer kranke Menschen schon in einem frühen Krankheitsstadium von Palliative Care. Also dann, wenn die heilende und lebensverlängernde Medizin die Hauptrolle spielt. Somit findet Palliative Care zu grossen Teilen in der Grundversorgung statt: beim Hausarzt, bei der Hausärztin, durch die Spitex, im Akutspital und im Alters- und Pflegeheim.»(3)

B. Forderung und Überforderung

Der Sozialethiker und Theologe Markus Zimmermann weist auf die grosse damit verbundene Herausforderung und die Grenzen zur Überforderung hin: «Die Auseinandersetzung mit dem eigenen Sterben ist anspruchsvoll und setzt ein hohes Mass an Bereitschaft zu persönlicher Auseinandersetzung mit den eigenen Werthaltungen voraus. Zudem ist es nur teilweise möglich, sich in gesunden Jahren in die Situation einer schweren Krankheit oder des Sterbens zu versetzen.» (4) Thomas Wild, Theologe und Systemtherapeut aus Bern, formuliert es in seinem Buch «Mit dem Tod tändeln» für sich selbst als gesunden Menschen so: «Ich plane früh genug mit der Umsetzung meines letzten Willens. Obwohl ich weiss, dass gerade im Alter und im Ableben häufig Dinge mit einem geschehen, die man nicht erahnt oder ein Leben lang verpönt hat. Dennoch erhoffe ich mir eine letzte Lebensphase, während der ich von meinem Selbstbestimmungsrecht ultimativen Gebrauch machen kann. Ich möchte nicht erst dann Verfügungen erlassen, wenn ich ans Bett gebunden und der Palliation ausgeliefert bin.»(5)
Woran die Praxis scheitert, ist zum einen die trotz qualifizierten Indikatoren (surprise question, infauste Diagnosen) fehlende oder zu späte Identifikation von Palliative-Care-PatientInnen, dies wurde in zahlreichen Studien untersucht und belegt.(6) Zum anderen ist es die enge Verknüpfung des Begriffes «Palliative Care» mit Sterben und Tod. Es ist zu hoffen, dass sich die Bemühungen der Fachgesellschaften, Begriffe wie Lebensqualität, würdevolles und selbstbestimmtes Leben mit dem Begriff «Palliative Care» zu verbinden, in Zukunft durchsetzen.

II. Gesundheitliche Vorausplanung – ein Muss?

A. Die gesellschaftliche Debatte über das Sterben

Der Diskurs über den Umgang mit der Endlichkeit des Lebens, über Abschiedlichkeit und Sterbeprozesse findet weit über die Grenzen der natur- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen statt, er ist auf einer breiten gesellschaftlichen Ebene angekommen.
Dabei wird deutlich, dass die Fragen schon immer da waren, die Antworten jedoch immer wieder neu und sowohl individuell als auch gesellschaftlich gefunden werden müssen. Viele Menschen wünschen sich heute einen Exitus ohne Vorgeschichte, ohne Vorbereitung, gleich einem Stromausfall. Dies im Gegensatz zu früher, als darum gebetet wurde, vor einem allzu raschen oder überraschenden Tod bewahrt zu werden, um das Vermächtnis seines Lebens geordnet hinterlassen zu können. «Dieser Paradigmenwechsel muss nicht allein der allgemeinen sozialen Beschleunigung oder einer individuellen Selbstentfremdung angelastet werden», sagt Hartmut Rosa in seiner kritischen Theorie spätmoderner Zeitlichkeit.(7) Der Mensch traut sich und seinen Mitmenschen das Sterben häufig nicht mehr zu, er möchte niemandem zur Last fallen. Das kann man als Selbstentwertung deuten, aber auch Überlegungen zu Bedeutung und Qualität des sozialen Umfeldes anstellen. Neue Antworten wie die Entwicklung und Umsetzung von «Caring Communities» sind in diesem Zusammenhang vielversprechend.
Auf die Stichwortsuche «Sterben lernen» bei Google erscheint eine Fülle von Publikationen, Ratgebern, Erfahrungsberichten, mehr oder weniger fundierten Studien und Anleitungen. Einige sind sehr bemerkenswert. Wolfgang Herrndorfs «Arbeit und Struktur» (8) ist ein eindrückliches Zeugnis einer radikalen Auseinandersetzung mit der infausten Prognose und des verzweifelten Bemühens, gegenüber dem Tod souverän zu bleiben. Herrndorfs Bekenntnis «Ich muss wissen, dass ich Herr im eigenen Haus bin» und zugleich die radikale Offenlegung der inneren Abgründe versteht sich als Rechenschaft des gleichermassen gedemütigten wie sarkastischen Mannes in der verlorenen Blüte des Lebens.

Es ist auch bereits ein gewisser Überdruss spürbar, ein Zuviel von Zumutungen an die Leserschaft, sich mit den persönlichen Prozessen der Bewältigung von Sterben und Tod auseinanderzusetzen. Die in den 90er-Jahren aufgekommene Offenheit der persönlichen und öffentlichen Auseinandersetzung scheint sich wieder mehr in den privaten Raum zurückzuziehen. Palliative Care muss wieder umlernen und neu lernen.

B. Wo findet die gesundheitliche Vorausplanung statt – und weshalb?

Die gesundheitliche Vorausplanung ist vielerorts zu verorten: in den Debatten zu Selbstbestimmung und existenziellen Fragestellungen der Lebensführung, aber auch zum gesellschaftlichen Miteinander. Sie beinhaltet einen ganz neuen Ansatz der prozesshaften Auseinandersetzung mit dem individuellen eigenen Lebensentwurf, dessen Perspektiven und Grenzen, und – darum werden wir nicht herum kommen – ebenso dem Kontext der aktuellen gesellschaftlichen Entwicklung. Da haben wir wiederum eine Parallele zur Entwicklung der Palliative Care. In der Schweiz führte die Einsicht, dass die nationale Strategie Palliative Care 2010–2012, die sich auf die Professionalisierung im klinischen Setting fokussiert hat, eben nicht genügt hat. Weshalb? Weil die Thematik nicht nur eine medizinische, sondern eine gesellschaftliche ist, weil sie eine Frage unserer Haltung als Gemeinschaft ist. Was ist es uns wert, dass die Menschen in unserem Land ein würdiges Sterben erleben dürfen? Die nationale Strategie Palliative Care wurde deshalb um drei Jahre und den Einbezug der Grundversorgung und des gesellschaftlichen Engagements verlängert.

C. Hilft die gesundheitliche Vorausplanung dem Individuum oder der Gesellschaft?

Was könnte das heissen in Bezug auf die Entwicklung der gesundheitlichen Vorausplanung? Ist sie nur als individuelles Thema zu sehen? Viele Studien, z.B. aus Australien oder Oregon9, haben untersucht, wie sich die gesundheitliche Vorausplanung auf die Befindlichkeit von hinterbliebenen Angehörigen oder die Anzahl Hospitalisationen am Lebensende auswirkt. Das Resultat ist deutlich: Es geht den hinterbliebenen Angehörigen besser, die Anzahl posttraumatischer Belastungsstörungen, Depressionen oder Krankheiten nach dem Tod von nahen Angehörigen haben deutlich abgenommen. In Oregon konnten im Vergleich mit den anderen Bundesstaaten signifikant mehr PatientInnen bis zum Tod zu Hause betreut werden. Die Gewissheit, dass der Sterbeprozess im Sinn des sterbenden Angehörigen verlaufen ist, wirkt sich also entlastend aus auf begleitende und pflegende Angehörige.

Es wird also deutlich, dass es nicht nur eine Frage des Individuums, sondern der Gemeinschaft ist, wie wir es schaffen, mit der Endlichkeit des Lebens umzugehen. Selbst wenn wir als Individuen entscheiden, uns dieser Auseinandersetzung zu verweigern und mit den Konsequenzen auf unsere individuelle Art umzugehen, ist dies eine Entscheidung, die zu respektieren ist, aber von der Gemeinschaft mitgetragen werden muss.

In der Zeit der Pandemie ist die Frage, wie die Interessen der Individuen und diejenigen der Gemeinschaft zu gewichten sind, eine brennende geworden. Die Antwort kann keine triviale sein, wir stehen mitten in einer gesellschaftlichen Debatte, die wir dringend führen müssen.

*Die Quellenangaben finden sich unter «Weitere Infos»
Monika Obrist, RN, MSc, Geschäftsleiterin palliative zh+sh und Advance Care Planning – ACP Swiss
Dieser Text ist bereits erschienen in der Zeitschrift Pflegerecht