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«Eine Patientenverfügung entlastet nicht nur die Ärzte, sondern auch die Angehörigen»

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Die Corona-Pandemie ist eine besondere Situation, die bei vielen Menschen den Gedanken an Patientenverfügungen mehr in den Vordergrund stellt als sonst. (Bilder: Archiv)

Barbara Loupatatzis

Barbara Loupatatzis ist Belegärztin Palliative Care am GZO Spital Wetzikon und Ausbildnerin ACP

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01. April 2020 / Region
Die Corona-Pandemie lässt die Rufe nach Patientenverfügungen lauter werden. Doch: Wie sinnvoll ist es, sich unter Druck über Behandlungen Gedanken machen zu müssen? Und: Eignet sich jede Vorlage, um seinen Willen klar festzuhalten? «Es lohnt sich so oder so, wenn man mit den Angehörigen oder einer Vertrauensperson bespricht, wie man behandelt werden möchte», sagt Palliativärztin Barbara Loupatatzis.
Überall in den Medien heisst es, wie dringend es angesichts der Corona-Pandemie nun sei, eine Patientenverfügung zu machen. Wie sehen Sie das grundsätzlich?
Barbara Loupatatzis: Auch unabhängig von der aktuellen Situation ist es sinnvoll, sich Gedanken zu machen, wie man bei einer Urteilsunfähigkeit behandelt werden möchte. Die Pandemie führt uns einfach vor Augen, wie schnell man in eine Situation geraten kann, in der es wichtig wäre, dass Ärzte und Angehörige über den Patientenwillen Bescheid wissen. Wer jung und gesund ist, dem sind solche Gedanken häufig «zu früh, bis es zu spät ist». Aber ein Notfall kommt immer überraschend. Dann geraten die Angehörigen enorm unter Druck, weil sie dann in einer Notsituation über den Patientenwillen mutmassen müssen. Ein gesunder, junger Mensch muss nicht zwingend eine komplette Patientenverfügung ausfüllen. Es genügt häufig, sich zu überlegen, wer einen im Notfall gut vertreten könnte und dann mit diesem Menschen zu besprechen, was man möchte. «Ich lebe sehr gerne, bin jung und gesund, ich will alles, was es an Behandlungen gibt», das wäre bereits eine hilfreiche Aussage. Eine Vertrauensperson festzulegen und sie zu informieren, halte ich für jeden für sehr lohnend. Chronisch kranke oder schwer kranke Menschen haben bereits mehr Erfahrungen mit medizinischen Behandlungen gemacht. daher wissen sie vielleicht, dass sie gewisse Situationen nicht mehr erleben möchten oder dass sie auf Grund ihrer Erlebnisse eben gerade bereit sind diese Behandlung nochmals in Kauf zu nehmen. Es fällt ihnen daher manchmal leichter, sich spezifischer in ihren Behandlungszielen festzulegen.
«Die vorhandenen Ressourcen sinnvoll einzusetzen fällt viel leichter, wenn wir genau wissen, was die Patienten wollen.»

Für welche Bevölkerungsgruppen, macht das Erstellen einer Patientenverfügung derzeit besonders Sinn?
Es lohnt sich sicher für alle Menschen, sich Gedanken zu machen. Auch unter jungen Menschen gibt es solche, die sich gegen bestimmte Massnahmen entscheiden. Oder kranke Menschen, die gewisse Belastungen nicht in Kauf nehmen möchten. Wer dies festhält, erleichtert es nicht nur den Angehörigen, sondern auch den Ärztinnen und Ärzten und den Pflegenden, dass sie ohne schlechtes Gewissen auf bestimmte Behandlungen verzichten. Sie können, dann zeitgleich sicher sein, dass sie dem Patientenwillen folgen, und es kommt in der aktuellen Situation auch dem Kollektiv zu Gute im Sinne von Ressourcenschonung, denn so kommen nur jene Patientinnen und Patienten auf die Intensivstation, die das auch wirklich möchten. Ich erlebe aber umgekehrt immer wieder, dass Menschen in palliativen Situationen eine grosse Lebenslust verspüren und möglichst viele Massnahmen möchten. Wenn sie das in ihrem Patientenwillen festhalten, wissen die Verantwortlichen, dass dieser Patient kämpfen will und können die entsprechenden Behandlungen einleiten. Die vorhandenen Ressourcen sinnvoll einzusetzen fällt viel leichter, wenn wir genau wissen, was die Patienten wollen.


Es gibt verschiedene Patientenverfügungen zum Download im Internet. Sinnvoll oder zu ungenau?
Wie ich bereits gesagt habe: Es ist grundsätzlich sinnvoll, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen, unabhängig vom Formular. Im Internet finden sich sehr gute Formulare, aber auch solche, die Probleme in der Umsetzung machen können. Um zu verhindern, dass man Massnahmen verfügt, die nicht umgesetzt werden können oder die sich aus medizinischer Sicht wiedersprechen, bespricht man seine Vorstellung im besten Fall mit jemandem, der eine medizinische Ausbildung hat. Es gibt in der Schweiz auch extra dafür ausgebildete Berater. In jedem Fall wichtig ist aber, dass man mit seinen Angehörigen, insbesondere der vertretungsberechtigten Person spricht, damit diese die Wünsche kennt und die Patientenverfügung in dem Moment, in dem man sie braucht, vor Ort ist. Also nicht irgendwo in einem Safe gelagert wird, zu dem niemand anderer einen Zugang hat. Ich kann nur jeden ermutigen die Corona-Pandemie als Anlass zu nehmen um über die eigenen Wünsche zu sprechen, diesen eine schriftliche Form zu verleihen und dieses Schriftstück zugänglich zu machen, am besten natürlich mit Hilfe von speziell geschulten Beratern.
«Der grösste Druck entsteht dann, wenn jemand bereits urteilsunfähig ist und die Angehörigen - ohne vorher mit der Person gesprochen zu haben - nun gemeinsam mit dem Arzt über den Willen mutmassen müssen.»

Sich unter Druck Gedanken über lebenserhaltende Massnahmen und Behandlungen im nicht urteilsfähigen Zustand zu machen – führt das zu einem für Ärzte verwendbaren Resultat?
Es ist jetzt sicher eine besondere Situation, die bei vielen Menschen den Gedanken an Patientenverfügungen mehr in den Vordergrund stellt als sonst. Generell denke ich aber, dass der grösste Druck dann entsteht, wenn jemand bereits urteilsunfähig ist und die Angehörigen - ohne vorher mit der Person gesprochen zu haben - nun gemeinsam mit dem Arzt über den Willen mutmassen müssen. Diesen Druck erleben wir auf Intensivstationen häufig, und teilweise können solche Situationen bei den Angehörigen sogar zu posttraumatischem Stress führen. Es kann auch vorkommen, dass beispielsweise die Geschwister diametral anderer Meinung sind, was der Vater oder die Mutter tatsächlich wünscht, da sie unterschiedliche Aussagen von ihm/ihr gehört haben. Es ist dann häufig unklar welche gelten soll, die Person selbst kann dann nicht mehr gefragt werden, und das macht eine Entscheidungsfindung erst recht extrem schwierig. Doch trotz dieser Probleme müssen dann zeitnah schwerwiegende Entscheide gefällt werden.
Um solche Situationen zu verhindern sprechen wir mit allen unseren Patientinnen und Patienten frühzeitig über ihre Behandlungsziele und erarbeiten sogenannte Notfallpläne, die genau auf ihre Krankheiten und Wünsche ausgerichtet sind. Ich habe noch nie jemanden erlebt, der das abgelehnt hätte. Es sind ein paar wenige Fragen, die uns helfen, sie und ihre Wünsche genauer kennen zu lernen. Letzte Woche führte ich in einem Pflegeheim solche vorausschauenden Gespräche. Die Bewohner waren alle sehr dankbar, dass wir uns die Zeit genommen haben und ihre Fragen und Behandlungsziele gemeinsam mit ihnen besprochen haben. Doch auch für die Teams ist es bereichernd und gibt uns mehr Ruhe und Sicherheit. So lange ein Patient urteilsfähig ist und sich ausdrücken kann, darf er sich natürlich jederzeit wieder umentscheiden. Aber wenn nicht, haben wir eine Richtschnur und können jene Behandlung einleiten, die seinem Willen entspricht.

Ein Beratungsgespräch zu einer Gesundheitlichen Vorausplanung, auch bekannt als Advance Care Planning (ACP) mit einer medizinisch geschulten Person ist in der momentanen Situation nicht flächendeckend möglich. Welche Alternativen gibt es?
Diese Gespräche werden auch in der aktuellen Situation von verschiedenen Institutionen, Organisationen und auch privaten Anbietern angeboten und durchgeführt. Bei Interesse kann man sich zum Beispiel an die Geschäftsstelle palliative zh+sh wenden, die solche Beratungen durchführt und vermittelt.
Gerade haben wir einen Gesprächsleitfaden mit Wegleitung entwickelt. Er bietet sich an für das Gespräch zwischen Patienten und ihren Angehörigen oder Gesundheitsfachpersonen. Bei den zu beantwortenden Fragen steht auch immer ein «Warum». Die Begründungen sind sehr wichtig, denn so werden die Entscheide wirklich verständlich und nachvollziehbar.
Inhaltlich fokussiert der Leitfaden auf derzeit wichtige Fragestellungen. Doch was man nicht vergessen darf: Auch während der Corona-Pandemie kann man einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall erleiden. Nach meiner Erfahrung geht es darum, sich für ein bestimmtes, realistisches Therapieziel zu entschieden, das dann unabhängig von der Ursache des aktuellen Problems oder einer spezifischen Krankheit gültig ist.
«Man kann sehr wohl auch ohne Herzstillstand beatmungspflichtig werden.»

Hilft es, sich einen No-CPR-Kleber auf die Brust zu kleben, um zu signalisieren, dass man nicht an ein Beatmungsgerät will? (CPR = Cardio-Pulmonary Resuscitation, Herz-Lungen-Wiederbelebung)
Bezüglich der Entscheidung, ob ein Beatmungsgerät angeschlossen werden soll, hilft dieser Kleber leider nicht wirklich. Die Herz-Lungen-Wiederbelebung ist eine Massnahme, die nur dann zum Tragen kommt, wenn das Herz stillsteht. Man kann aber sehr wohl auch ohne Herzstillstand beatmungspflichtig werden. Generell gilt jedoch, dass die Beachtung solcher Kleber oder Tattoos in der Schweiz sehr unterschiedlich gehandhabt wird. Problematisch ist eben, dass man nicht nachvollziehen kann, warum die Person diesen Kleber verwendet. Weiss derjenige tatsächlich, welche Konsequenzen es für ihn/sie hat, wenn auf eine Herz-Lungen-Wiederbelebung verzichtet wird? Und: Wurde der Kleber von der Person selbst aufgeklebt oder war das jemand anderer? Für Rettungssanitäter in der Notfallsituation ist es fast unmöglich das abzuschätzen.

Welche Überlegungen müssen sich PalliativpatientInnen angesichts von Covid-19 zu ihrer Patientenverfügung machen?
Das Wichtigste ist, dass wir mit ihnen anschauen, wie eine Infektion für sie ablaufen könnte, zu welchen Beschwerden und Problemen die zusätzliche Erkrankung führen kann. Welche Chancen haben sie? Welche Behandlungen möchten sie auf sich nehmen? Verfolgen sie das gleiche Therapieziel in Bezug auf Corona wie in allem anderen auch? Unsere Palliativpatienten haben den Vorteil, dass sie wissen, wie die Palliativmedizin funktioniert und dass auch schwerwiegende Symptome gut gelindert werden können, was Ruhe und Klarheit in die derzeitige Situation bringt. Einige von ihnen haben auch noch viel Lebenslust und sind bereit zu kämpfen, sie haben das entsprechend aufgeschrieben. Viele Menschen, die Palliative Care nicht kennen, haben grosse Angst vor dem Ersticken und glauben, dass dies nur im Spital und auf der Intensivstation verhindert werden kann. Deshalb erarbeiten wir derzeit eine Entscheidungshilfe spezifisch auf Atemnot in Zusammenhang mit dem Corona-Virus ausgerichtet. Darin werden in patientenverständlicher Sprache der Verlauf von Covid-19 und die verschiedenen Behandlungsmöglichkeiten von Atemnot erklärt, auch wie Atemnot gelindert werden kann, wenn man nicht auf eine Intensivstation möchte und was Palliative Care in diesem Zusammenhang bewirken kann.

An wen können sich PalliativpatientInnen oder deren Angehörige bei Unsicherheiten oder Fragen am besten wenden?
Wenn die Patienten schon bei spezialisierten Teams in Betreuung sind, dann können sie direkt dort um Auskunft bitten. Für alle anderen sind wir gerade im Aufbau einer Zusammenarbeit mit dem Ärztefon/Pallifon. Die spezialisierten mobilen Palliative-Care-Teams im Kanton Zürich sind bereit, bei spezifischen Fragen telefonische Unterstützung zu leisten oder in ganz speziellen Einzelfällen sogar vor Ort zu gehen.
palliative zh+sh, Gabriela Meissner