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Reden, bevor sich das Fenster der Urteilsfähigkeit schliesst

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Das Demenz Meet ist kein trockener Fachanlass, sondern zeichnet sich dadurch aus, dass die Teilnehmenden während und zwischen den Panels überaus engagiert diskutieren (Bilder: sa).

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10. August 2018 / Region
Am Demenz Meet drehte sich eine der Podiumsdiskussionen um die Frage, wie man mit Demenz gut sterben kann. Die Fachpersonen und Betroffenen auf der Bühne waren sich einig: Reden über die Krankheit und das Sterben hilft. Aber nicht alle wollen und können es – das gelte es ebenfalls zu akzeptieren.

Beni Steinauer ist an Lewy-Body-Demenz erkrankt: Der Mann mit dem roten «Super Dry»-Shirt, den Sneakern und der modernen Brille wirkt nicht alt. Die neurodegenerative Krankheit ist nach Alzheimer dennoch die zweithäufigste Demenzform im Alter. Zusammen mit seinem Lebenspartner ist er am Freitag an die Vernetzungsveranstaltung für Demenzbetroffene, Angehörige und Fachpersonen im Zürcher Kulturmarkt gekommen. Der erste Tag war den eher ernsteren Themen gewidmet. Am Samstag, dem zweiten Tag, findet ein etwas leichteres, sinnlicheres Programm statt.

Für ihn sei klar, was «gut sterben mit Demenz» bedeute, sagte Steinauer der Moderatorin Karin Frei, bekannt als langjährige Gastgeberin des «Clubs» auf SRF. «Wenn mein Hirn einen gewissen Grad an Verfall erreicht hat, will ich keine lebensverlängernden Massnahmen mehr erhalten, nicht mehr essen und trinken.» Ihm werde dann ein Mittel verabreicht, das seine Schmerzen lindere. «Dann will ich einfach rüberschlafen.»
«Sogar Fachpersonen ist es häufig nicht bewusst, dass eine Demenz eine tödliche Krankheit ist.»
Roland Kunz, Geriater und Palliativmediziner

Die Fachleute auf dem Podium zeigten sich unisono beeindruckt, wie dieser Mann und sein Lebenspartner mit der Krankheit umgehen, wie sie sich über das Lebensende, die Werte und Wünsche des Erkrankten immer wieder austauschen. In einer Patientenverfügung und einem Vorsorgeauftrag hielten sie alles Wichtige fest.

Roland Kunz, Chefarzt Akutgeriatrie und ärztlicher Leiter des Palliative Care Zentrums im Stadtspital Waid, sagte, das sei keinesfalls die Regel. Denn viele würden nicht ans Sterben denken, wenn er ihnen die Diagnose Demenz eröffne. Es tauchten eher Fragen nach der Behandlung und dem Verlust der Selbstständigkeit auf. Auch Fachpersonen sei es häufig nicht bewusst, dass eine Demenz zum Tod führe, sagte der Palliativmediziner, der auch im Vorstand von palliative zh+sh sitzt. «Natürlich stirbt man nicht an der Demenz selbst, sondern an einer Komplikation wie zum Beispiel einer Lungenentzündung. Aber das ist beim Krebs auch so: Die Krebszellen wandern auch nicht ins Herz und führt zu einem Stillstand.»

Das Besondere an der Demenz ist, dass man nicht sehr viel Zeit hat, um festzulegen, wie das Lebensende gestaltet sein soll. Könne man mit einem Erkrankten oder seiner Familie nicht darüber sprechen, «verpasst man ein wichtiges Fenster der Urteilsfähigkeit, das sich langsam schliesst», sagte Kunz.
«Vergessen sie das Pokerface. Unsere Gesichtsmuskeln kommunizieren, ohne dass wir das bewusst steuern.»
Marlis Lamers, Expertin für Mikromimik

Hat man verpasst zu reden, kommt vielleicht jemand wie Marlis Lamers ins Spiel. Sie ist Expertin für Mikromimik in Pflegeeinrichtungen und Hospizen. Sie erklärt ihre Technik so: Das Gesicht bestehe aus 44 Muskeln. Jede Emotion schlage sich im Gesicht nieder, das könnten wir nicht bewusst steuern. «Es gibt kein Pokerface.» Der Augenringmuskel stelle seine Funktion als letzter ein, deshalb sei Kommunikation auch mit Menschen möglich, die nicht mehr verbal kommunizieren können und kurz vor dem Tod stehen.

Lamers erzählte das Beispiel eines 28-jährigen, verunglückten Motorradfahrers, der auf der Intensivstation lag. Es gab keine Patientenverfügung, und die Eltern quälten sich mit der Frage, ob man mit den lebenserhaltenden Massnahmen weiterfahren sollte. Sie holten Lamers hinzu. Als diese ihm die Frage stellte, ob er in diesem Zustand weiterleben wolle, sei deutlich eine «emotionale Ladung» sichtbar gewesen. Sie habe dies nun aber nicht klar als «Nein» interpretieren können. Aber im Gespräch mit den Eltern habe sie die Werte, die ihr Sohn in gesunden Tagen wichtig waren, herausschälen können. Drei Tage später habe die Familie die Maschinen abgestellt.
«Ich hätte gerne gewusst, wie mein Vater sterben will. Ich wollte es richtig machen. Ich weiss bis heute nicht, ob wir das geschafft haben.»

Daniel Wagner, Initiant Demenz Meet

Demenz-Meet-Initiant Daniel Wagner erzählte die persönliche Geschichte seines an Demenz erkrankten Vaters, der nach der Diagnose weder über die Krankheit noch über das Sterben sprechen wollte. Als die Familie zwölf Jahre danach an seinem Sterbebett sass, habe es sie gequält, dass er niemals gesagt hatte, wie er sterben will. Wagner sagte: «Ich wollte es richtig machen. Ich weiss bis heute nicht, ob wir das geschafft haben.»

Wolle ein Patient partout nicht über seine Krankheit oder den bevorstehenden Tod sprechen, müsse man das akzeptieren, sagte Roland Kunz, auch wenn dies sehr schwer für die Angehörigen sei. Und Lamers ergänzte: Patientinnen und ihre Angehörigen seien wie die Elemente eines Mobiles. «Wenn es allen gut geht, ist auch das Sterben gut.»
«Bei der Demenz läuft einem die Zeit davon.»
Erika Preisig, Hausärztin und Stebehelferin

Schliesslich drehte sich das Gespräch dann noch um «den Griff nach dem Giftbecher», wie Moderatorin Frei es formulierte. Also darum, wie dem Wunsch eines Menschen mit Demenz nach Sterbehilfe begegnet werden kann. Denn damit eine Sterbehilfeorganisation wie Exit einen assistierten Suizid überhaupt begleitet, muss die betroffene Person den Wunsch in urteilsfähigem Zustand äussern und vollziehen.

Podiumsteilnehmerin Erika Preisig, Hausärztin im Kanton Basel-Land, die eine eigene Freitodorganisation inklusive zugehöriger Stiftung führt, erhielt dann ziemlich viel Zeit und Raum im Rahmen des Podiums, um ihre Überzeugungen kundzutun. Sie begleitet auch Ausländer in den Tod, in deren Heimat der assistierte Suizid verboten ist. Immer wieder gerät sie in die Schlagzeilen, zuletzt verunmöglichte ihr die Staatsanwaltschaft, das todbringende Medikament selbst zu beziehen. Das müssten die betroffenen Personen oder Angehörige tun, hiess es. Sie habe auch Schwierigkeiten, weil sich verschiedene Ärzte weigerten, die Urteilsfähigkeit von jemandem festzustellen, wenn es um einen begleiteten Suizid gehe, sagte sie in der Diskussion.

Preisig zeigte sich am Demenz Meet zwar offen für alle Wege und Wünsche von erkrankten Personen. Sie zeichnete gleichzeitig ein düsteres Bild von der Demenz, in dem Betroffene ihre Menschenwürde vollends verlören. Auch sie sagte, das Problem bei Demenzerkrankungen sei, «dass einem die Zeit davonläuft».

Geriater Roland Kunz hat auch immer wieder mit Patienten zu tun, nicht wie ihre Eltern enden wollten, die dement waren. «Erhalten sie ebenfalls die Diagnose, leben sie im totalen Stress, die Phase der Urteilsfähigkeit nicht zu verpassen, anstatt dass sie ihr Leben noch geniessen könnten.» Es sei wichtig, das Thema begleiteter Suizid offen zu diskutieren, sagte Kunz, ohne das Problem aber «vereinfacht darzustellen».

Eine Frau im Publikum berichtete denn auch von der Erfahrung, ihre demente Mutter durch einen assistierten Suizid verloren zu haben. Diese sei stets ambivalent gewesen in der Frage. «Aus einer Wut heraus» habe sie den Schritt schliesslich vollzogen. Für sie als Tochter sei es sehr schwierig, damit fertigzuwerden.

Zweites Treffen in der realen Welt

Das Demenz Meet fand zum zweiten Mal statt und wurde von «Demenz Zürich» ins Leben gerufen. Die Online-Plattform hat mehr als 10 000 Fans, auf Facebook tauschen sich über 1000 Mitglieder in geschlossenen Gruppen aus. Der Initiant dahinter, Kommunikationsprofi Daniel Wagner, verlor seinen Vater ebenfalls an einer Demenz. Seine Idee war über die sozialen Medien, die Krankheit zu enttabuisieren, die Hürden im Austausch und im Umgang mit der Krankheit zu senken. Letztes Jahr traf sich die Community zum ersten Mal in der realen Welt.
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