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Reste eines anderen Alltags

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Die Polizei fand die Verstorbene auf dem Bett liegend. Auf dem Nachttischchen befanden sich die Zeugnisse der letzten Lebensstunden (Bild: Vivianne Berg).

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Vivianne Berg: Das Hinterbliebene. Der Nachlass – Anregungen zur Triage. Zocher & Peter. Zürich, 2020. ISBN 978-3-907159-26-2

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04. Mai 2021 / Wissen
Kulturwissenschaftlerin und Journalistin Vivianne Berg hat ein Buch über ein heikles, aber wichtiges Thema geschrieben: über die Wohnungsräumung nach einem Todesfall.

Dieses Buch könnte ein Ratgeber sein, aber wenn man ihn braucht, ist es eigentlich fürs Lesen schon zu spät. Vivianne Berg schreibt im Vorwort man solle «Das Hinterbliebene. Der Nachlass – Anregungen zur Triage» quasi als Vorbereitung für die bevorstehende Aufgabe lesen. Das Buch sei «für die Zeit gedacht, da Sie eines Tages in naher oder ferne Zukunft eine Wohnung räumen müssen».
Denn wer vor der Pflicht steht, das Haus, die Wohnung oder das Zimmer einer nahestehenden Person ausräumen zu müssen, die plötzlich oder auch vorhersehbar gestorben ist, hat weder Zeit noch Energie, zuerst ein Buch darüber zu lesen. Gut also, wenn man diesen schmalen Band bereits kennt. Er geht über einen praktischen Räumungs-Ratgeber hinaus, weil er die Lesenden auch auf emotionaler Ebene anspricht.

Die Autorin geht von der eigenen Erfahrung aus, die sie bei der Auflösung der Wohnung ihrer 80-jährigen Mutter gemacht hat. Ausserdem sprach sie mit Betroffenen und Fachpersonen. Für juristische, administrative oder religiöse Fragen im Zusammenhang mit einem Nachlass gebe es bereits viele Bücher, Checklisten oder Artikel, schreibt Vivianne Berg, vor allem, was Vermögenswerte betreffe. «Doch der weitaus grösste Teil von Hinterbliebenem besteht aus abgenutzten Möbeln, gebrauchten Geräten, Kleidern und weiteren Alltagsresten.»

Die Kulturwissenschaftlerin regte mit ihrer Recherche übrigens die Ausstellung «Die letzte Ordnung» 2018/2019 im Friedhof Forum der Stadt Zürich an, die wegen grosser Nachfrage sogar verlängert wurde.

Zeitdruck, Emotionen und Spannungen
Das erste Problem bei einer Wohnungsräumung besteht darin, dass ich unter Zeitdruck entscheiden muss, was mit jedem einzelnen Gegenstand geschehen soll. Nur vermögende Personen können sich Zeit lassen, wenn die Miete weiterbezahlt werden muss.

Dazu kommt zweitens, dass an diesen Möbeln, Kleidern, Bildern und Gegenständen vermutlich viele Erinnerungen haften, wenn ich dem verstorbenen Menschen nahestand. Ich kann die sogenannte Triage – also die Entscheidung darüber, was ich behalten, verschenken/verkaufen, entsorgen will – nicht einfach cool durchziehen. Hinter allem steckt eine Geschichte. Man steht vielleicht unter Schock, wenn man die Wohnräume zum ersten Mal nach dem Todesfall betritt. Zudem dringt die Räumungscrew mit dem Wühlen in den privaten Dingen auch in die Intimsphäre der verstorbenen Person ein.

Drittens sind häufig mehrere Personen involviert, zum Beispiel alle Erben, und die sollten sich bezüglich Tempo und Vorgehen einig sein. «Andere zur Eile zu drängen, kann in dieser belastenden Situation massive Spannungen verursachen und der Beziehung langfristig schaden», heisst es im Buch.

Hat man den zeitlichen Rahmen der Räumung einmal geklärt, helfen einem die vielen Tipps beim praktischen Vorgehen. Zum Beispiel rät Vivianne Berg, die ganze Wohnung, vor allem die grossen Möbel und Arrangements aus verschiedenen Winkeln zu fotografieren. Viele Gegenstände würden schliesslich nur auf diesen Fotografien überdauern. An die sperrigen Möbel muss zuerst gedacht werden, wenn es ums Verkaufen, Verschenken oder Wegwerfen geht.

Der Triage-Algorithmus
Die konkrete Räumung findet meistens nach dem Begräbnis statt. Stift und Papier sind laut der Autorin nützlich. Mit Post-It-Zetteln markieren die Räumenden, was wegkommt oder bleiben soll. Lampen sollen nicht zu früh abmontiert, und noch nicht alle Teller und Gläser zwecks Verpflegung weggeschafft werden.

In welchem Zimmer ich beginne, sei nicht so wichtig, schreibt Vivanne Berg. Wichtig sei hingegen ein zielgerichtetes Vorgehen, zum Beispiel das Leeren einer Schublade nach der anderen, bis das Möbelstück leer ist. Die kleinen Erfolgserlebnisse motivieren. Ich solle zuerst Dinge aussortieren, die keine lange Bedenkzeit erfordern. Was einmal im Müll liege, bleibe dort. Gewisse wichtige Dinge, die nicht viel Platz benötigten, wie Schmuck, Briefe, Belege, Ausweise, Zeugnisse, Steuerunterlagen, Adressbücher sowie Fotos aller Art solle man aber auf jeden Fall behalten. Diese könnten später aussortiert werden.

Das Herzstück des Buches ist eine Art Triage-Algorithmus, ein über zwei Seiten gedruckter Frage-und-Antwort-Plan, den Berg als «Entscheidungswege der Triage» bezeichnet. Die drei zentralen Fragen, die ich mir beim Räumen stellen muss, lauten:

  • Ist dieses Ding für mich nützlich (funktionaler Wert)?
  • Gefällt es mir (ästhetischer Wert)?
  • Hat es eine grosse Bedeutung für mich (emotionaler Wert)?

Beantworte ich mindestens eine der Fragen mit Ja, geht die Frage-Kaskade weiter mit «Habe ich den geeigneten Platz für dieses Ding?». Wenn die Antwort wiederum Ja lautet, kann man es behalten. Wenn Nein, hängt es davon ab, ob ich es zwischenlagern kann.

Werden die zentralen Fragen mit Nein beantwortet, besteht noch die Möglichkeit, dass das Ding einen wirtschaftlichen Wert hat oder für andere bedeutungsvoll sein könnte. Je nachdem kann ich es verschenken oder zu verkaufen versuchen. Eine Auskunftsperson, eine Wohnungsräumende also, sagte sinngemäss, sie habe für den Verkauf der ihrer Ansicht nach soliden Möbel nicht zu viel Aufwand betreiben wollen.
«Das Boot ist bis zum Rand mit Dingen gefüllt»

Neben diesen ganz handfesten Ratschlägen werden in Vivianne Bergs Buch auch Themen wie Sammeln und Horten oder der Ekel vor zu viel Besitz angeschnitten. Die ausgewählten Zitate von Betroffenen beeindrucken. Eine Tochter, die den Messie-Haushalt ihrer Mutter räumen musste, sagte: «Wir sitzen alle im selben Boot, jeder Einzelne von uns, und dieses Boot ist bis zum Rand mit Dingen angefüllt.» Der Polizist, der immer wieder Wohnungen von Verstorbenen als Erster betritt, sagte: «So etwas lässt niemanden unberührt.»

Das Büchlein entwickelt sogar eine gewisse Poesie dank der Fotografien, die zeigen, was Sterbende zurücklassen: Nippes, Bücher, Bündel von Briefen, angebrochene Lebensmittel, Brillen, Geräte, Geschirr, Fotografien, ein altmodischer Schulthek. Die Leserin blickt in fremde Leben.

Berg formuliert achtsam und ohne zu werten. Sie verurteilt weder diejenigen, die jeden Gegenstand zwei Mal umdrehen, noch jene, die sofort eine Mulde bestellen wollen. Zwei Sätze, die eher beiläufig fallen, stehen aber stellvertretend fürs ganze Buch: «Sie können nicht alles behalten. Sie sollten nicht alles wegwerfen.»
palliative zh+sh, Sabine Arnold