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Spotlight Region: Experten für die Seele

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Alberto Dietrich vom Kantonsspital Winterthur und Anne-Marie Müller vom Pflegezentrum Dielsdorf kümmern sich um die Seelsorge.

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27. März 2012 / Region
Palliative Care hat Körper, Geist und Seele im Blick. Seelsorgende sind darum wichtiger Bestandteil eines Palliative-Care-Teams. Aber was machen sie eigentlich? palliative zh+sh hat zwei Seelsorgende in verschiedenen Institutionen besucht.

In den Spitälern und Pflegezentren sind sie wie Satelliten, die um den Betrieb kreisen. Immer auf der Suche nach Begegnungen, hellhörig für Seelennöte von Bewohnern, Personal und Patientinnen. Die Seelsorgenden werden zwar von aussen wenig wahrgenommen, doch spielen sie eine wichtige Rolle. Sie versuchen, Menschen in schwierigen Situationen aufzufangen. Wenn der Arzt das Patientenzimmer nach Bekanntgabe einer schlimmen Diagnose bald wieder verlassen muss, ist oft jemand gefragt, der Zeit hat, am Bettrand Platz nimmt und einfach da ist.

Beziehungen aufbauen

«In Ausnahmesituationen versuche ich, soweit es geht, Ruhe zu schaffen. Dazu lasse ich der Person erst einmal viel Raum.» Alberto Dietrich steht in der Spitalkirche des Kantonsspitals Winterthur (KSW) vor dem modernen, hellblauen Bild hinter dem Altar. Obwohl im Untergeschoss, ist die Kirche hell und freundlich. Eine «Ausnahmesituation» kann beispielsweise das Erfahren einer schwerwiegenden Diagnose sein. «Nach der Diagnose einer schweren Krankheit muss man das Leben oft vollkommen umstellen. Sie bedeutet eine grosse Veränderung, einen gewaltigen Eingriff ins Leben. Da muss die Seele nachkommen. Dafür braucht es Zeit und Raum. Mit einem einzigen Gespräch ist es darum nicht getan», sagt der katholische Seelsorger. Deshalb versuche er, zu den Menschen Beziehungen aufzubauen.

Der Klingelton seines Telefons erfüllt plötzlich die Spitalkirche. Ein Patient ist gestorben, Dietrich muss zur Familie. «Leider habe ich den Verstorbenen vorher nie getroffen. Es kommt manchmal vor, dass der Erstkontakt erst am Sterbebett oder sogar nach dem Tod stattfindet.» Dietrich eilt zur Familie, um zu erfahren, was sie in diesem Moment braucht.

Der Schritt in ein Pflegezentrum

Den Einschnitt in ihr Leben erfahren Bewohner und Bewohnerinnen eines Pflegezentrums meist beim Einzug. Das grosse Thema ist die fundamentale Veränderung. Das bisherige eigene Zuhause hinter sich zu lassen und in ein Pflegeheim zu ziehen, ist für alle eine grosse Herausforderung. In dieser Situation hätten viele Bewohner das Gefühl, es sei ihnen alles genommen worden und sie seien nichts mehr Wert, sagt die reformierte Pfarrerin Anne-Marie Müller. «Dieses Gefühl gilt es zu würdigen. Das ist erst einmal meine Hauptaufgabe.» Gleichzeitig zeigt Müller den Betroffenen auf, dass nicht alles weg ist, dass es noch viel gibt, das viel Wert ist. «Nämlich alles, was die Person an Erfahrungen mitbringt, wer sie ist und was sie hier noch erleben wird.» Nach diesem Credo arbeitet Müller. «Die Persönlichkeiten der Menschen bleiben bis zum Ende und darüber hinaus kostbar und einzigartig», sagt die 48-Jährige.

Sie arbeitet seit zwei Jahren am Pflegezentrum Dielsdorf zu 60 Prozent. Sie bewegt sich frei im Pflegezentrum, das 220 Betten umfasst, und nimmt Kontakt zu den Bewohnern und Mitarbeitenden auf. Sie ist Teil des Kernteams der Palliativ-Abteilung und für die seelischen und spirituellen Nöte zuständig. Im Pflegeheim bleibt zum Beziehungsaufbau meist etwas mehr Zeit als im Spital. Doch kommt es auch hier vor, dass der Erstkontakt am Sterbebett stattfindet. Müller hat aber die Möglichkeit, im Leben der Bewohner zu einer festen Vertrauensperson zu werden und damit bei manchen eine langfristige Begleitung zu leisten.

Dem Gespür vertrauen

Der Beziehungsaufbau wird oft durch eine anspruchsvolle Kommunikation erschwert. Viele Bewohner leiden an Demenz, daher ist ihre Sprachfähigkeit manchmal stark eingeschränkt. «Um mich mit den Betroffenen verständigen zu können, musste ich den Mut finden, meinem Gefühl zu vertrauen», sagt Müller. Denn selten sagen ihr die Bewohner konkret, was sie sich von ihr wünschen. Müller setzt sich regelmässig zu ihnen, versucht auf Gefühle und Äusserungen einzugehen, spricht manchmal ein Gebet, manchmal einen Psalm, schweigt oder plaudert über Alltägliches. Manchmal nimmt sie auch durch Berührung Kontakt auf. Sie folgt Impulsen und wartet die Reaktionen ab.

Eine Begegnung, die sie am Anfang ihrer Tätigkeit am Pflegezentrum machte, erfüllt sie bis heute mit Freude. Nach einem Besuch segnete sie einen Mann zum Abschied. Er reagierte darauf vorerst nicht, was sie verunsicherte. «Ich will ja niemanden religiös vereinnahmen. Dieser Mann gehörte aber bisher zu den regelmässigen Gottesdienstbesuchern, weshalb ich mich getraute, ihn zu segnen. Doch als keine Reaktion kam, wurde ich unsicher.» Die Unsicherheit löste sich beim nächsten Besuch: Als Müller zu ihm kam, schaute er sie direkt an, ergriff entschieden ihre Hand und legte sie sich selber auf die Stirn. Solche Begebenheiten nennt Müller «Sternstunden» in ihrem Alltag.

Die Zwischentöne hören

Dietrich ist wieder zurück in der Spitalkirche. Er zündet eine Kerze für den Verstorbenen an und erzählt, wie er ihm den Segen erteilt hat und den Angehörigen Trost zu spenden versuchte. Zwar wusste man, dass der an Darmkrebs erkrankte Mann nicht mehr sehr lange zu leben hat, «aber es ist trotzdem immer eine sehr schwierige Situation, wenn ein Familienmitglied stirbt», so Dietrich. Er kennt diese Situation aus eigener Erfahrung. Er verbrachte viel Zeit am Krankenbett seines Vaters, bis dieser starb. «Ich musste lernen, loszulassen», sagt er.

Auch Dietrich erlebt seine Sternstunden. Und jede ist einzigartig. Seit dreizehn Jahren ist er am KSW als Seelsorger beschäftigt und kein Tag war wie der andere. Der 51-Jährige weiss nie, was auf ihn zukommt. «Ich gehe immer wieder neu auf die Menschen zu, lasse mich auf deren Situationen ein, lasse mich berühren von den Geschichten der Menschen.» Oft, sagt Dietrich, nennen auch im Spital die Patienten ihre Wünsche nicht explizit. «Man muss die Zwischentöne hören. Und manchmal auch einfach direkt fragen.» Sehr oft wünschen sich die Patienten und ihre Angehörigen Sakramente wie die Krankenkommunion, die Krankensalbung oder eine Segnung mit Weihwasser. Oft wollen sie auch gemeinsam mit dem Seelsorger beten. «Rituale sind sehr geeignet, um in eine Situation Ruhe zu bringen», sagt Dietrich. Er gehört zum interdisziplinären Team der Palliative-Care-Station am KSW, doch kümmert er sich auch um die Patienten aus anderen Stationen. Am KSW ist Dietrich als Seelsorger nicht allein. Die Pfarrämter der reformierten und der katholischen Kirche beschäftigen dort insgesamt neun Personen. Die meisten Teilzeit, nur Dietrich arbeitet 100 Prozent.

Seelsorge in Erinnerung rufen

Das Abschiednehmen von Bewohnern und Patienten, nachdem die Seelsorgenden eine Beziehung zu ihnen aufgebaut haben, wird nie zum Alltag. «Es braucht viel Kraft. Ich lasse mich immer wieder voll und ganz auf Menschen ein und muss sie dann wieder ziehen lassen», sagt Dietrich. Und Müller sagt: «Das viele Abschiednehmen macht manchmal müde.» Neben diesen Herausforderungen treffen die Seelsorgenden aber auch ganz alltägliche, strukturelle Schwierigkeiten an: Ausserhalb der Palliative-Care-Abteilungen müssen sie sich im Haus ständig selber in Erinnerung rufen. Die Seelsorge hat üblicherweise keinen festen Platz im Organigramm eines Spitals oder Pflegeheims. Die Theologen sind zwar Mitglieder der Palliative-Care-Teams, doch werden sie von den Kirchen bezahlt und geführt. Diese Mischform bringt einen wesentlichen Vorteil mit sich: «Wir geniessen eine gewisse Narrenfreiheit», sagt Dietrich. Die Seelsorgenden können sich frei in den Strukturen der Häuser bewegen und sich auf das Zwischenmenschliche konzentrieren, das sich nicht an medizinische Sachlagen, definierte Arbeitsabläufe oder Stellenprofile hält. So können sie die Gefühle der Menschen ins Zentrum ihrer Aufmerksamkeit rücken. Müller wie Dietrich schätzen diese Freiheit sehr. Doch birgt die lose Position der Seelsorgenden eben auch Nachteile. «Natürlich geht man im Haus manchmal vergessen, wenn man nicht explizit in die Organisation eingebunden ist», sagt Dietrich.

Im Zentrum ihrer Arbeit steht immer der persönliche Kontakt zu den Betroffenen. Und der kann viele Formen haben. Müller sagt: «Manchmal, wenn ich auf die Menschen zugehe, geht es einfach darum, Small Talk zu machen. Und das meine ich ganz und gar nicht despektierlich.» Dies sei nämlich ein Stück «normales Leben» und eine Fertigkeit, die auch Menschen mit Demenz noch haben. Auch Dietrich spricht mit Patientinnen und Patienten nicht immer nur über die grossen Fragen des Lebens. «Nicht alle wollen in Gesprächen sehr tief gehen. Ich habe auch schon mit Patienten über Fussball gesprochen. So etwas ist oft ein guter Einstieg und manchmal bleibt es auch dabei. Aber die Person weiss dann, dass ich da bin», sagt er. Und er fügt an: «Hin und wieder ist man als Theologe bei jemandem auch schlicht nicht erwünscht. Damit muss man umgehen können.» Wer die Seelsorge im Spital oder Pflegezentrum aber in Anspruch nehmen will, kann dies ganz unabhängig von seiner Konfession oder Religion tun.

Menschliche Zuwendung

Small Talk, enge Begleitung, Unterstützung bei der Sinnsuche... Was ist denn nun Seelsorge? «Seelsorge ist eine menschliche Zuwendung im Namen von Gott», sagt Dietrich. Und ergänzt: «Seelsorge ist aber auch ein Handwerk, das man lernen muss. Dafür reicht das Theologiestudium nicht. Es braucht die Kunst, sich auf sein Gegenüber so einzulassen, dass er zu deinem Lehrmeister wird und dir zeigt, was er von dir braucht.» Für Müller ist Seelsorge, Zeit zu haben. «Zeit für die Bewohnenden und ihre Angehörigen. Zeit für ihre Fragen, für Gefühle. Zeit zum Reden und Schweigen, zum Zweifeln und Beten.»
Foto: Reto Klink, palliative zh+sh