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Sterben hinter Gittern

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Bis 2030 verbüssen drei Mal so viele Gefangene, die älter als 60 Jahre sind, in Schweizer Gefängnissen ihre Strafe. Immer häufiger werden sie auch dort sterben. (Bild: Filmstill aus «Schweiz Aktuell»)

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19. August 2016 / Medien
Die Bevölkerung altert. Deshalb und weil in der Schweiz der Trend zu immer längeren Haftstrafen besteht, werden auch die Gefängnisinsassen immer älter. Es existieren wenige Angebote für alte und kranke Gefangene. Eine erste Pflegeabteilung ist am Entstehen. Von Palliative Care nicht zu reden.
Die Sendung «Schweiz Aktuell» berichtete gestern Abend aus der Strafanstalt Pöschwies in Regensdorf. Der knapp 60-jährige «Herr B.», wie er im Beitrag genannt wird, leidet an Krebs, an Herz- und Rückenproblemen. Er wurde kürzlich in die Abteilung Alter und Gesundheit verlegt, wo er etwas mehr Freiheiten hat als im normalen Strafvollzug. Herr B. muss noch sehr lange einsitzen und werde eventuell im Gefängnis sterben, heisst es in der Reportage. Für Herrn B. selbst ist jedoch klar: Er möchte nicht hinter Gefängnismauern, sondern draussen sterben.

Eine im Rahmen des Nationalfondsprogramms 67 «Lebensende» durchgeführte Studie widmete sich dem Thema «Lebensende im Gefängnis». Sie ist vor dem Hintergrund entstanden, dass der Wind im Schweizer Strafvollzug gedreht hat: Es besteht ein Trend zu härteren Strafen – zum Beispiel durch die neue Möglichkeit der lebenslangen Verwahrung. Zudem spiegeln die Insassen der Schweizer Gefängnisse die Bevölkerung draussen: Sie wird immer älter. Das Bundesamt für Statistik schätzt, dass sich die Gruppe der Über-60-Jährigen in Schweizer Gefängnissen bis 2030 noch verdreifachen, bis 2040 vervierfachen und bis 2050 sogar verelfachen wird.
«Gerade jene Menschen, die nicht frei bestimmen können, wie und wo sie sterben, bedürfen spezieller Aufmerksamkeit.» Studienautoren von «End-of-Life in Swiss Prisons»

Diese Faktoren führen nicht nur in der Schweiz dazu, dass das Gefängnis – zumindest für einige Insassen – nicht nur ein Platz zum Leben, sondern auch zum Sterben wird. «Die laufende Diskussion zu gutem Sterben und palliativer Medizin zeigt, dass gerade jene Menschen, die nicht frei bestimmen können, wie und wo sie sterben, spezieller Aufmerksamkeit bedürfen», heisst es im Projektbeschrieb. Wenn die Schweizer Stimmbürger Gefangene lebenslänglich wegsperrten, seien sie auch für die nötigen humanen Bedingungen am Lebensende verantwortlich.

Das Forschungsteam analysierte die rechtlichen und institutionellen Grundlagen für Lebensende und Sterben im Strafvollzug sowie die bisherigen Praktiken. Es rekonstruierte konkrete Fällen aus der Perspektive betroffener Akteure wie Gefangene, Angehörige und Personal. Es wollte herausfinden, was sich in den Gefängnissen diesbezüglich verändert und fragte nach beispielhaften Projekten. In den Schweizer Gefängnissen entstehen immer mehr Abteilungen für ältere Gefangene. Die Studienautoren bezeichnen dies als «ersten Schritt hin zu einer menschlichen Behandlung alternder und möglicherweise sterbender Gefangener». Gleichzeitig sind diesen Initiativen wortwörtlich enge Grenzen gesetzt. Sie befinden sich alle innerhalb der Gefängnismauern und unterliegen dem üblichen Haftregime.

«Kein humaner Weg zu sterben»

Alte und schwer kranke Insassen würden häufig zwischen Gefängnis und Gefängnisspital hin- und hertransportiert; je nach Allgemeinzustand. Dies sei die Folge von sich widersprechenden Positionen. Einige Akteure äussern starke humanitäre Bedenken, während andere daran festhalten, dass für gefährliche Gefangene mit lebenslanger Verwahrung strikte Regeln gelten. Dritte meinen, dass Schwerkranke im Spital die beste medizinische Infrastruktur und Behandlung vorfinden. «Dennoch waren sich die meisten Akteure einig, dass dieses Hinundher keine menschenwürdige Art zu sterben ist», heisst es in den Schlussfolgerungen der Studie.

In den Strafanstalten selbst fehlt es an für Palliative Care nötiger Infrastruktur und speziell ausgebildetem Personal. «Der natürliche Tod ist in den normalen Gefängnisregeln, -prozessen und –praktiken nicht vorgesehen. Es gibt zwar Protokolle, die das nötige Vorgehen nach einem Todesfall regeln. Aber natürliche und vorhersehbare Todesfälle werden immer noch zu spät realisiert.» Bemerkenswert: Es gibt kein rechtliches Hindernis, das der Palliative Care im Gefängnis im Weg stehen würde.

Die Forschenden geben den Praktikern im Justizvollzug folgende Empfehlungen ab:
  • In Modellversuchen sollen zusammen mit anderen Institutionen neue Praktiken in Bezug auf das Lebensende getestet werden.
  • Auf dem interkantonalen Level soll ein Leitfaden erarbeitet werden.
  • Alle involvierten Entscheidungsträger sollten Handelsspielräume in solchen End-of-Life-Situationen ausloten.
  • Häftlinge, die auf unbestimmte Zeit verwahrt werden, sollten nicht im Gefängnis zusammen mit den regulären Insassen und unter dem regulären Regime einsitzen müssen. Die Entwicklung in Deutschland könnte als Beispiel dienen.

Gefängniswärter cremen Gefangene ein

In der Abteilung Gesundheit und Alter, in der sich auch Herr B. befindet, übernimmt das Gefängnispersonal zunehmend pflegerische Aufgaben. Zum Beispiel cremen dort Mitarbeiter älteren Gefangenen nach dem Duschen den Rücken ein oder helfen beim Rasieren. Die Berührungen sind laut dem Abteilungsleiter Roger Huber nicht unproblematisch. «Einerseits müssen die Mitarbeiter Vertrauen zum Gefangenen aufbauen, damit sie ihn pflegen können. Andererseits müssen sie dieses Vertrauen wieder missbrauchen, etwa bei einer Kontrolle in der Zelle», sagte Huber in «Schweiz aktuell».

Einzelne Gefängnisse haben sich auf älter werdende Insassen eingestellt. Neben Pöschwies gibt es auch in Lenzburg eine entsprechende Abteilung. Eine Sektion für stark pflegebedürftige Gefangene gibt es hingegen noch nicht. Im neuen Gefängnis im bündnerischen Cazis, das sich noch im Bau befindet, entstehen immerhin zehn Plätze für Pflegebedürftige.
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