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Über Abschied, Trost und Rituale

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Das dritte Zürcher Fachsymposium Palliative Care wurde veranstaltet von den Pflegezentren Mattenhof und Irchelpark, palliative zh+sh sowie dem Schulungszentrum Gesundheit SGZ. Es fand im Pflegezentrum Mattenhof statt und wurde von rund 150 Teilnehmenden besucht. Das nächste Zürcher Fachsymposium Palliative Care wird am 11. Oktober 2018 durchgeführt.

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29. September 2017 / Region
«Den Abschied leben»: Das 3. Zürcher Fachsymposium Palliative Care vom 28. September 2017 bot Gelegenheit zur Reflexion und zeigte «Best-Practice-Beispiele» aus verschiedenen Bereichen. Durch das Symposium führte die Demenzbeauftragte der Alterszentren der Stadt Zürich Gabriele Kaes.
«Abschied leben hiesst Abschied gestalten», sagt Stadträtin Claudia Nielsen, die das Symposium Palliative Care mit einem Grusswort eröffnet. «Und dazu muss man wissen, was man sich wünscht und welche Möglichkeiten es gibt.» Das herauszufinden sei wichtig und dazu brauche es Gespräche über Abschied und Sterben. «Das sind wir uns in unserer Gesellschaft aber nicht gewohnt, viele wollen solche Gespräche lieber nicht führen.» Dabei könnten diese Gespräche Klarheit bringen und Abschiede erleichtern. Darum sei es eine wichtige Aufgabe der Fachpersonen und eine wichtige Verantwortung der Institutionen, sich damit zu befassen. «Sterben braucht vor allem Zeit und Raum, weniger Medizin», so Nielsen. Sie bedankt sich deshalb bei allen Mitarbeitenden, die sich in ihrem Berufsalltag mit den Themen Abschied und Sterben befassen. «Danke auch an die Teilnehmenden dieses Symposiums, dass sie sich Zeit nehmen, dem Thema Raum zu geben.»

Tröstende Gedanken an den Kreislauf

Das Thema erhält an diesem Nachmittag Raum, auch für eine philosophische Annäherung. «Wenn ein Mensch stirbt, den wir geliebt haben, entsteht ein riesiger, metaphysischer Schmerz. Was kann da helfen? Ein metaphysischer Trost», sagt der Philosoph Prof. Dr. Wilhelm Schmid am Ende seines Referates. «Die Überlegung, dass die Energie im Kosmos unsere ‘Heimat’ ist, wo die Seele, die Energie einer verstorbenen Person hingeht, kann dieser Trost sein.» Warum, fragt Schmid, sollte der Mensch als einziges Lebewesen vom natürlichen Kreislauf ausgeschlossen sein? Warum soll nach seinem Tod tatsächlich nichts übrigbleiben – nichts? «Alles wird und vergeht und wird wieder – wir auch!» Was den Toten vom Lebenden unterscheide, sei nämlich einzig dies: «Beim Toten sind keine Energien mehr drin! Keine Wärme, keine Elektrizität.» Bis zur letzten Sekunde könne die Elektrizität im Menschen mit EKG und ähnlichen Instrumenten gemessen werden – und dann sei da nichts mehr. «Das ist der Tod. So einfach: Die Energie ist weg.» Aber: «Elektrizität lässt sich nicht auslöschen, nur umwandeln.» Die Energie, die aus einem Menschen in der Stunde seines Todes entweiche, müsse also irgendwo hingehen, sie löse sich nicht auf, so Schmid. Beim Vorgang der Kremation oder der Verwesung beispielsweise, würden Energien freigesetzt und alle Bestandteile gingen über in eine andere Form, ohne dass etwas verloren ginge. «Das Gefühl, dass ein verstorbener Mensch noch da ist, kann also ganz reale Gründe haben», sagt Schmid. Das sei selbstverständlich keine letzte Wahrheit, sondern es seien – hoffentlich plausible – Überlegungen. «Die Menschen, die wir gehen lassen müssen, leben vielleicht weiter im Himmel», sagt Schmid und blickt mit einem Schmunzeln ins Publikum. «Ja, Sie haben richtig gehört: Im Himmel. – Denn was ist Himmel anderes als die Unendlichkeit der Möglichkeiten?»
«Die Liebe kann dem Leben bis zuletzt Sinn geben. Sie ermöglicht Beistand bis zum Schluss.»
Prof. Dr. Wilhelm Schmid

Zu Beginn seiner Ausführungen hat Schmid ausführlich von der Liebe gesprochen, die eng mit dem Leben verbunden sei. Es sei wohl das Schlimmste, einen geliebten Menschen gehen lassen zu müssen. Die Frage, ob und wie wir nach dem Tod eines geliebten Menschen noch eine Beziehung zu ihm leben könnten, beschäftige uns alle. Die Überlegung, dass die Energie eines verstorbenen Menschen nach wie vor existiere, ermögliche eine solche Beziehung. In jedem Fall aber könne der Tote ein «imaginärer Gesprächspartner» sein. Das könne sehr hilfreich sein, weil wir dann den «Blick von aussen», den wir diesem Gesprächspartner zuschreiben, für uns übernehmen könnten. «Im Wege steht dem nur die Überzeugung unserer hiesigen, aktuellen Kultur, wonach ein Toter tot ist, ganz tot. Aber: Was, wenn dem nicht so ist? Wir können uns lösen von dieser Annahme. Wir können so tun, als wäre er da.» Vielleicht sei er wirklich nur ein imaginärer Gesprächspartner, -«aber das ist ja nicht nichts!»

Die Liebe, so Schmid, könne dem Leben bis zuletzt Sinn geben. Sie ermögliche Beistand bis zum Schluss. Palliative Care sei unbedingt als «Ummantelung» zu verstehen, wobei die Schmerzbehandlung – obwohl oft mit Palliative Care gleichgesetzt – zwar einen wesentlichen Bestandteil ausmache, aber nicht der wichtigste von allen sei. Es gehe darum, Sterbende und ihre Angehörigen «menschlich zu umsorgen». Dabei sei auch die Gestaltung der Umgebung wichtig – sowohl räumlich als auch zeitlich. Schmid spricht von «Rhythmus». «Gewohnheiten trösten uns! Auch im normalen Leben.»

Rituale für Angehörige und Mitarbeitende

Gewohnheiten und Alltagsrituale können Halt geben – gerade in einer Zeit, in der einiges ins Schwanken kommt. Die Palliativstation «Villa Sonnenberg» am Spital Affoltern setzt gerade darum auf Rituale, wenn es darum geht, Abschied zu nehmen. Man will dort die Abschiede leben. Carmen Kissling, die Leiterin Pflege in der Villa Sonnenberg, stellt die Abschiedsrituale vor, die in ihrer Station gepflegt werden – solche für hinterbliebene Angehörige und solche für Mitarbeitende der Station. Das Wichtigste, so Kissling, sei es für sie, dass sie gerade den Nahestehenden einer verstorbenen Person genug Raum geben könnten für den ersten Abschied. «Wir sind da für sie, bleiben bei ihnen im Zimmer des Verstorbenen und tun alles ohne Eile.» Im Treppenhaus wird eine Kerze entzündet. Angehörige können den Pflegenden beim Waschen und Kleiden der verstorbenen Person helfen, wenn sie möchten. «Das ist immer etwas sehr Bewegendes und gibt viel Raum für persönliche Gespräche, für wichtige Erinnerungen.» Das Zimmer wird geschmückt mit Blumen und Bildern und wird den Trauernden für 24 Stunden überlassen.
Einmal monatlich findet ein Abschiedsritual statt. Dort wird den Verstorbenen gedacht, man erinnert sich gemeinsam, erzählt einander Anekdoten und redet auch über das, was belastend war.

Wichtig sind auch die Trauerkarten direkt nach dem Tod und am ersten Jahrestag – nicht nur für die Angehörigen, sondern auch für die Mitarbeitenden, für die das Schreiben der Karten auch ein Abschiedsritual ist. Einmal im Jahr – jährlich versterben in der «Villa» rund 100 Personen – kommt das Team zusammen und gedenkt den Verstorbenen mit einem Feuerritual, bei welchem die Karten dem Feuer übergeben werden und die Teammitglieder den Abend miteinander verbringen. Einmal monatlich findet ein Abschiedsritual für alle statt, die teilnehmen möchten. Dort wird im Team den Verstorbenen gedacht, man erinnert sich gemeinsam, erzählt einander Anekdoten und redet auch über das, was belastend war. «In dem Moment, in dem eine Patientin oder ein Patient verstorben ist, ist es wichtig, dass wir für die Angehörigen da sind, das gehört zur Begleitung», sagt Kissling. Deshalb brauchen die Mitarbeitenden eigene Rituale und Rituale im Team, um selber persönlich Abschied nehmen zu können. Den Angehörigen begegnen die Mitarbeitenden oft auch lange nach dem Tod eines Patienten oder einer Patientin wieder, im «Care Café», bei dem Trauernde nach Wunsch regelmässig zusammenkommen.

Die Lebensgeschichten festhalten

Ein Projekt, das dabei helfen kann, Abschiede zu leben, stellt die Seelsorgerin Johanna Wegmann vor. Sie arbeitet im Pflegezentrum Mattenhof und schreibt seit einiger Zeit mit Bewohnenden an deren «Lebensbuch». «Es geht uns um die Lebensgeschichten der Bewohnenden und darum, sie in eine schriftliche Form zu bringen – ohne Vorgaben», so Wegmann. «Die Bewohnenden diktieren, ich schreibe auf. Und schon beim Aufschreiben der Namen kommen zahlreiche Geschichten zum Vorschein.» Bei ihren Gesprächen mit den Bewohnenden gehe es sehr oft darum, Rückschau zu halten. «Im Erzählen werden Erinnerungen geweckt – wer dabei auf Resonanz stösst, geht weiter, tiefer, erkennt neue Perspektiven.» Im Erzählen leben darum viele Bewohnende auf. Als Marcel Meier, Beauftragter für Palliative Care am Pflegezentrum, mit der Idee vom «Lebensbuch» auf sie zukam, sprang Wegmann deshalb sofort auf. Sie kaufte leere Notizbücher und bot das «Lebensbuch» Bewohnenden an. Meier hatte die Idee vom Nationalen Palliative Care Kongress in Biel «mitgebracht».
«Das Leben wird mit dem Lebensbuch gewürdigt, es entsteht Vertrauen.»
Johanna Wegmann, Seelsorgerin

«Frau X diktiert. Wir haben viel über die Familie gesprochen, haben Fotos ins Buch geklebt, den Stammbaum aufgezeichnet. Das Buch bleibt bei der Bewohnerin im Zimmer. Sie entscheidet, wer es sich ansehen darf, wer hineinschreiben darf.» Wegmann berichtet von vielen Geschichten mit den Lebensbüchern. «Die Arbeit am Projekt macht mir grosse Freude», sagt sie. Es gebe aber durchaus einiges zu bedenken: Der Zeitaufwand ist relativ hoch, besonders zu Beginn. Es braucht eine gute Sprachkompetenz und es sei von Vorteil, wenn man wisse, wie in den 50er-Jahren gelebt wurde, auch in ländlichen Gegenden der Schweiz. Es sei zudem nicht möglich, mit allen ein Lebensbuch zu machen – aber es sei auch nicht unbedingt für alle das Richtige. «Das Leben wird mit diesem Projekt gewürdigt, es entsteht Vertrauen», so Wegmann. Besonders schön sei es, wenn ein «Raum» entstehe, in dem sie und die Erzähler_innen sich «begegnen». Gespräche können aktivieren, anregen und bündeln, findet Wegmann. «Das Leben wird quasi geordnet.» Das könne viel Trost spenden – und darum gehe es oft beim Abschiednehmen.
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