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Tina Ruisingers Fotos erzählen vom Leben

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Ruisinger, Tina, Raniszewska, Dorota (2021). Photography in Palliative Care. Using Photography to support patients in palliative care. 51 Seiten [auf Englisch; das Büchlein kann bei Tina Ruisinger bestellt werden]

Fotografien von Tina Ruisinger sind in der Ausstellung «Tod, radikal normal. Über das, was am Ende wichtig ist» im Vögele Kultur Zentrum in Pfäffikon SZ zu sehen, die am 17.5.2022 startet: www.voegelekultur.ch/Achtung Link öffnet sich in einem neuen Fenster

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27. April 2022
Fotografin Tina Ruisinger hat ein in der Schweizer Palliative Care bisher einzigartiges Angebot entwickelt. Mit Fototherapie will sie Menschen dabei unterstützen, ihr Leben abrunden zu können.
Weniger ist mehr. Das hat Tina Ruisinger in den eineinhalb Jahren erfahren, in denen sie ihr fototherapeutisches Angebot namens «Lebensbild» in der Palliativstation im Spital Zollikerberg bisher angeboten hat. Zu Beginn brachte sie viel Material mit: Bücher, Zeitungsartikel, Postkarten. «Aber ich merke je länger je mehr, wie wenig es braucht, um ein Gespräch über das Leben meines Gegenübers in Gang zu bringen. Es sind eigentlich nur Achtsamkeit und Zeit nötig.»

Die meisten Patientinnen und Patienten haben bei ihrem Aufenthalt auf der Palliativstation kein Fotoalbum dabei. «Aber ein paar Bilder auf dem Handy haben fast alle», sagt Ruisinger. Sind keine vorhanden, knüpft sie an Gegenstände an, zum Beispiel an einen Fingerring oder ein Foulard. Sie erzählt von einer Patientin, zu deren wichtigsten Fotos, die sie immer wieder betrachtete, eine Fotografie der Urne ihres Mannes gehörte.

Würde stärken, Selbstwert steigern

Die Fototherapie will Menschen, die schwerkrank oder hochaltrig sind, ein Rückblick aufs Leben ermöglichen. Dabei soll ihr Selbstwertgefühl, ihre Selbstwirksamkeit gesteigert und ihre Würde gestärkt werden, ähnlich wie dies die Dignity Therapy, die würdezentrierte Therapie, beabsichtigt. Tina Ruisinger hat sich auch mit der von Psychiater Harvey Max Chochinov entwickelten Therapieform beschäftigt. «Dieses Konzept erscheint mir aber zu streng. Man darf dem Bedürfnis, das eigene Leben nochmals zu erzählen und festzuhalten, auch offener und kreativer begegnen.»

Die Fototherapeutin steigt mit einfachen Fragen ins Gespräch ein wie «Welche Erinnerung weckt dieses Bild in Ihnen?» oder «Was war zur Zeit, aus der dieses Bild stammt, wichtig in Ihrem Leben?» Das Teilen von Erlebtem weckt meist gute Gefühle in den Patientinnen und Patienten. Die gemeinsame Reise in die Erinnerungen steigert das Wohlbefinden der schwerkranken Personen, lenkt sie ab. «Ich rege sie an, sich an die vielen Facetten ihrer einzigartigen Biografie zu erinnern. Das spendet auch Trost und hilft vielleicht mit, ihr Leben abzuschliessen.»

Die Fototherapie ist ein mit der Biografiearbeit verwandtes Werkzeug aus der Psychotherapie. Bisher fokussierte man damit nicht ausschliesslich auf Palliativpatientinnen und -patienten. Neben der reinen Bildbetrachtung – das können auch Bilder im Kopf sein – bietet Tina Ruisinger weitere Möglich-keiten an: Personen, die mögen, können zum Beispiel ein Lebensbild, eine Collage mit den wichtigsten Stationen, Menschen und Themen ihres Lebens gestalten, oder auch ein Lebensbuch mit persönlichen Fotos und Gedanken – als Vermächtnis für die Hinterbliebenen.

Gesichter, Spuren, Aschen

Ruisinger kommt aus der Kunstfotografie, hat in Hamburg, New York und Zürich Fotografie studiert. Sie ist Autorin namhafter Bücher wie «Faces of Photography», in dem sie fünfzig berühmte Fotografinnen und Fotografen porträtierte. «Das waren alles alte Menschen, die ich in ihrem Zuhause besuchte, und sie erzählten mir von ihren Berufsleben, aber auch von kleinen Dingen.» Im darauffolgenden Projekt «Traces» untersuchte sie Erinnerungsstücke, die für jemanden eine verstorbene Person verkörpern. Und in «Asche» schliesslich fotografierte sie die kremierten Überreste von fünfzig Verstorbenen und stiess auf körperfremde und skurril anmutende Objekte, die das Feuer überstanden haben wie Implantate oder Herzschrittmacher.

Tina Ruisinger hat sich am Institut für Palliative Care und Organisationsethik bei Matthias Mettner in interdisziplinärer Palliative Care ausbilden lassen. Er sieht ihr fototherapeutisches Angebot als grosse Chance: «Die Fototherapie, wie sie sie Tina Ruisinger in der Schweiz etablieren will, umfasst ein grosses Potenzial würdebewahrender Ressourcen und Interventionen», schreibt er. Die Fototherapeutin bietet ihr Angebot neben der Palliativstation auch in Pflegeheimen und bei Menschen zu Hause an. Bis jetzt verlangt sie für ihren Einsatz einen Stundenlohn – angepasst auf die finanziellen Verhältnisse des Gegenübers. Mit Organisationen will sie pauschale Finanzierungslösungen aushandeln.

Album versus Cloud

Warum kreist Tina Ruisinger als Fotografin und Therapeutin stets um die Themen Endlichkeit, Erinnerung, Trauer? Das habe sicher an Todesfällen gelegen, die sie erlebt und sich stets gefragt habe, was sie gegen den Schmerz, das Vergessen oder das Verdrängen tun könne, sagt sie. Mit ihrer Kunst und ihrem Projekt Lebensbild will sie der Endlichkeit etwas entgegen-setzen. «Schliesslich halten Fotos die Verstorbenen lebendig.» Sie hat beobachtet, dass die heutige Enkel-Generation, also die Kinder, wieder an Fotoalben der Grosseltern interessiert sind. Die Digital Natives kennen die in hochwerte Bücher eingeklebten Abzüge nämlich oftmals gar nicht mehr. Heute schlummern digitale Fotografien meist irgendwo in einer Cloud und werden womöglich nie mehr angeschaut.

Tina Ruisinger stört das Tabu, das den Tod in einer breiten Öffentlichkeit immer noch umgibt. Und zwar vor allem, was die Endlichkeit jedes Einzelnen betrifft. Daran will sie rütteln und schlägt vor: «Lass uns doch einfach mal darüber reden und fragen: Wie ist es, alt zu sein? Wie ist es, am Lebensende zu stehen?» Wie viel zufriedener dürfte die Antwort ausfallen, wenn diese Gespräche beim Betrachten alter Fotografien stattfinden.


palliative zh+sh / Sabine Arnold