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Zwischen Patientenautonomie und Besuchsverbot

Zwischen Patientenautonomie und Besuchsverbot

Fehlende soziale Kontakte während der Pandemie haben das Wohlbefinden von Bewohnenden von Alters- und Pflegeheimen stark beeinträchtigt. (Bild: stock.adobe.com/Anke Thomass)

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15. Mai 2020 / Politik
Gleich zwei Organisationen haben sich in den letzten Tagen zur Situation der Bewohnenden von Langzeitinstitutionen während der Pandemie geäussert. Sowohl die Nationale Ethikkommission, als auch der Schweizerische Berufsverband für Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner kritisieren die scharfen Regeln wie etwa das Besuchs- und Ausgehverbot und fordern Massnahmen, die nebst dem Infektionsschutz auch den Schutz der Persönlichkeitsrechte ermöglichen.
Im Zuge der Corona-Pandemie haben sich zahlreiche Brennpunkte ergeben. Etwa jenes, das ich mit der Verschärfung der Regeln in Langzeitinstitutionen ergab. Die Massnahmen, die ergriffen werden mussten, um den Infektionsschutz der Bewohnenden zu gewährleisten, zeigten sich schnell als immense Beschränkung der Persönlichkeitsrechte. Zudem war auch schnell klar, dass trotz strikten Besuchsverbots dennoch Bewohner an Covid-19 erkrankten und etliche auch daran starben. Seit dem 30. April ist das Besuchsverbot gelockert. Unter strengen Auflagen dürfen die Bewohner von Alters- und Pflegeheimen wieder nächste Angehörige empfangen.

Soziale Kontakte für psychische Gesundheit
Praktisch gleichzeitig haben sich die Nationale Ethikkommission im Bereich Humanmedizin (NEK) und die Ethikkommission des der Schweizerischen Berufsverbands für Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner (SBK) mit einer jeweiligen Stellungnahme zu den ethischen Herausforderungen zu Wort gemeldet. Beide Organisationen kritisieren die im Rahmen der Pandemie ergriffenen Massnahmen. Zwar hätten diese zum Ziel, die durch Covid-19 am meisten gefährdeten Menschen vor einer Infektion zu schützen. Doch würden die Verbote dazu führen, «dass soziale Kontakte, die Menschen als soziale Wesen dringend für ihr Wohlbefinden, ihre Entwicklung und letztlich für ihre psychische Gesundheit benötigen, stark bis komplett eingeschränkt werden», hält die SBK in ihrem Schreiben fest.
«Der Zugang zu urteilsunfähigen Personen muss gewährleistet werden, da deren Vertretungspersonen die persönlichen Rechte der Betroffenen wahrnehmen». Nationale Ethikkommission

Die NEK warnt aufgrund der ungewissen Entwicklung des weiteren Verlaufs der Corona-Pandemie und «der daher bestehenden Möglichkeit der nochmaligen Verschärfung der Regelungen». Dadurch behielten die Fragen betreffend Zweckdienlichkeit, Verhältnismässigkeit und Konsequenzen eines Besuchs- und Ausgehverbots ihre Aktualität.
Weiter wird kritisiert, dass den älteren Bewohnenden in Bezug auf massgebliche persönliche Entscheidungen die Selbstbestimmung abgesprochen werde. Die Verunmöglichung von freier, körperlicher Bewegung und sozialer Kontakte durch ein Besuchs- und Ausgehverbot übe einen immensen Einfluss auf das Wohlbefinden und die körperliche und geistige Gesundheit aus. «Diese Verbote tangieren daher nicht nur den Anspruch auf die Achtung des Privat- und Familienlebens, sondern auch das Recht auf ausreichende, allen zugängliche medizinische Grundversorgung von hoher Qualität», hält die Nationale Ethikkommission fest und fordert, dass insbesondere der Zugang zu urteilsunfähigen Personen gewährleistet werden müsse, da deren Vertretungspersonen die persönlichen Rechte der Betroffenen wahrnehmen. Doch auch bei urteilsunfähigen Personen brauche es eine Güterabwägung zwischen Besuchsverbot und Wahrnehmung sozialer Kontakte.

Auch das Schutzmaterial fehlte
Der SBK zitiert verschiedene Studien, wonach die häufigste Ursache für das Einschleppen der Epidemie und deren Weiterverbreitung nicht gut instruierte und sich an die Regeln der sozialen Distanzierung haltende Angehörige sind. Stattdessen sind es Personen, die in Pflegeinstitutionen arbeiten und täglich ein und aus gehen und moniert gleichzeitig, dass bis anhin in Institutionen der Langzeitpflege wenig getestet worden sei. Zudem hätten viele Heime in der Schweiz grosse Mühe gehabt, über die Kantone an Schutzmaterial zu kommen. Es stelle sich die Frage, so der SBK, ob mit dem Besuchsverbot das knappe Schutzmaterial für die Pflegenden und Betreuenden zurückbehalten zu können. Als weiteres Spannungsfeld zieht der SBK die Frage der Fürsorge heran. Zum einen soll aufgrund einer fürsorglichen Haltung gefährdete Personen vor jeglichem Schaden geschützt werden. Auf der anderen Seite beruhe gerade der Kern der Caring-Haltung auf engem Kontakt und zeitintensiver Beziehung zwischen pflegender und gepflegter Person.
«Die Autonomie des Patienten oder Bewohners muss über das Besuchsverbot gestellt werden». SBK-Ethikkommission

In beiden Stellungnahmen finden sich Vorschläge, wie die Persönlichkeitsrechte der Bewohnerinnen und Bewohner von Langzeitinstitutionen besser geschützt werden können. Der SBK schlägt vor, Bewohner in möglichst kleine Wohneinheiten aufzuteilen und möglichst wenig Personalwechsel vorzunehmen. Innerhalb der staatlichen Vorgaben sollen die Verantwortlichen ihren individuellen Spielraum für humane Lösungen nutzen, die gemeinsam mit Bewohner und den An- und Zugehörigen gesucht werden sollen. Zudem müsse die Autonomie des Patienten oder Bewohners über das Besuchsverbot gestellt werden.
Ähnlich die Empfehlungen der NEK: Auch sie fordern den Einbezug der Angehörigen, die zudem transparent über vorgesehene Massnahmen und ihre Rechte informiert werden sollen. Zudem soll die gesundheitliche Vorausplanung (Advance Care Planning, ACP) als wichtige Ressource zur Wahrung der Persönlichkeitsrechte, konsequent institutionalisiert werden. Auch müsse das Personal gestützt und dessen Schutzbedürfnisse gewährleistet werden.
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