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Mehr Zeit, mehr Gespräche, mehr Menschlichkeit

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Fachleute mit Leidenschaft (v.l.): Oberarzt Mirko Thiene, stv. Stationsleiterin Belinda Trötschler, Chefarzt Nic Zerkiebel, Palliative-Care-Beraterin Claudia Gohrbandt und Stationsleiter Markus Loosli. (Foto: Patrick Gutenberg)

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23. Dezember 2015 / Region
Das Kompetenzzentrum Palliative Care am Spital Bülach hat kürzlich das Qualitätslabel von qualitépalliative erhalten. Ein Besuch.

Besucht man im Spital Bülach die Palliativstation, überschreitet man eine fast unsichtbare Grenze. Die Unterschiede sind klein, aber wichtig. Es ist derselbe Spitalkorridor wie in der medizinischen Abteilung, doch während dort die Wände kahl sind, hängen hier grossformatige Naturfotografien. In den Nischen stehen Zimmerpflanzen, die in den übrigen Stationen nicht erlaubt sind. Eine Lounge mit Sesseln, Kaffeemaschine und Kühlschrank bietet Raum für Gespräche. Ein wichtiger Punkt, in dem sich das Kompetenzzentrum Palliative Care ausserdem von anderen Stationen unterscheidet, ist: Zeit. «Für die Visite auf der Palliativstation plane ich statt eineinhalb meist zwei Stunden ein», sagt Oberarzt Mirko Thiene.

Zudem steht im Kompetenzzentrum Palliative Care des Spitals Bülach jedem Patienten mehr Personal zur Verfügung als auf einer anderen Abteilung. Auf acht bis zehn Betten kommen hier 1200 Stellenprozente. Das entspricht einem Betreuungsschlüssel von 1,2 Stellen pro Bett.

Thiene sagt von sich, er sei mit Leib und Seele Internist. Ihn habe aber schon immer gestört, einem Patienten zu sagen, er könne nichts mehr für ihn tun. Ins Thema Palliative Care sei er nach seiner Assistenzzeit «reingerutscht», er half vor sechs Jahren beim Aufbau des Kompetenzzentrums mit. Nun hat die Palliativmedizin ihm den Ärmel definitiv reingenommen und beeinflusst sogar seinen privaten Alltag. «Sie hat mich Demut vor dem Leben gelehrt. Mir wurde zum Beispiel klar, dass es sich nicht lohnt, über Alltagsprobleme zu streiten.» In der Palliative Care müssten Fachpersonen der verschiedenen Berufe als Team arbeiten. «Als Doktor muss ich also das hohe Ross verlassen.»

Arbeiten im Team

Die Interprofessionalität bezeichnet Stationsleiter Markus Loosli als wichtigsten Unterschied zum Alltag auf anderen Stationen. Neben Pflege und Medizin spielen in der Palliative Care auch der Sozialdienst, die Psychotherapie sowie die Seelsorge eine wichtige Rolle. «Wir führen viel mehr Gespräche mit den Patienten und ihren Familien als das auf einer normalen Akutstation üblich, beziehungsweise notwendig ist.» Das sogenannte Familiengespräch findet innerhalb der ersten drei bis fünf Tage nach Eintritt statt. Im zweiten, dem Rundtischgespräch, wird geplant, wie die Behandlung weitergeht.

Im Herbst hat die Palliativstation das Qualitätslabel von qualitépalliative erhalten. 56 Kriterien wurden intensiv geprüft, darunter Punkte wie das Stationskonzept, die Begleitung durch andere Berufsgruppen oder der Einbezug der Angehörigen. Alle Kriterien seien erfüllt und 92 Prozent des Punktemaximums erreicht worden, heisst es in einer Medienmitteilung des Spitals. Besonders aufgefallen ist den Auditoren, dass der Präsenz am Bett und der Nachbetreuung entlassener Patientinnen und Patienten in Bülach viel Wert beigemessen wird.

Wenn ein Guetslirezept bleibt

Die Zimmer auf der Palliativstation sind grosszügig und in freundlichen Farben gestrichen, die laut einer Expertin das Wohlbefinden steigern sollen. Der Stuhl für Besucher ist ausserdem bequemer als in einem normalen Spitalzimmer. «Bei uns können Angehörige rund um die Uhr zu Besuch kommen oder auch mal Übernachten», sagt Belinda Trötschler. Die stellvertretende Stationsleiterin und ihr Team ermöglichen Patientinnen und Patienten Einiges: Zum Beispiel dass sie ihr Haustier noch einmal sehen können. Ein Wunsch, der relativ häufig vorkomme. «Oder wir haben auch schon mal Tische aufgestellt in der Lounge, damit ein Patient dort mit seiner Familie an Weihnachten essen konnte.»

Auf der Palliativstation steht jedem Patient das sogenannte Begleitbuch zur Verfügung. Das Notizbuch regt mit entsprechenden Fragen an, Gedanken, Gefühle oder Nicht-Gesagtes zu notieren, und sei es so etwas Einfaches wie ein Kochrezept («Was darf nicht in Vergessenheit geraten, wenn ich sterbe?»). Diese einfache, aber rührende Idee kommt vor allem bei den Angehörigen gut an. Die vielen Dankeskarten würden sie immer wieder bestätigen, dass sie ihre Arbeit gut machten, sagt Trötschler.

Endstation Palliativstation?

Die maximal zehn Betten auf der Palliativstation sind unterschiedlich gut belegt. Wichtig ist Oberarzt Thiene, dass es keine längeren Wartezeiten gibt. 150 Patientinnen und Patienten betreuen er und sein Team pro Jahr. Die Diagnosen sind zu zwei Dritteln Krebserkrankungen, zu einem Drittel terminale Organerkrankungen wie zum Beispiel Herzinsuffizienz. Wer sich die Palliativstation aber als Endstation vorstellt, liegt falsch: Die Mortalitätsquote liegt zwischen 50 und 60 Prozent. Ein Viertel der Patientinnen und Patienten geht nach Hause zum Sterben, ein Viertel wird für die letzte Lebensphase in ein Hospiz verlegt. Denn Bülach ist ein Akutspital, und auch die Kranken auf der Palliativstation können in der Regel maximal zwei, in Ausnahmefällen drei Wochen bleiben. «Wir kommunizieren diese Bestimmung offensiv und thematisieren sie mit Patienten und Angehörigen auch», sagt Thiene.

Die Palliativstation könne man auch als Drehscheibe für ein Case Management verstehen, sagt Claudia Gohrbandt. Die Palliative-Care-Expertin hilft, im Kompetenzzentrum in Bülach Prozesse zu optimieren und weiterhin Aufbauarbeit zu leisten. Das Team arbeitet nach dem sogenannten SENS-Modell. Die Abkürzung steht für Symptommanagement, Entscheidungsfindung, Netzwerkorganisation und Support. Die körperlichen Beschwerden eines Patienten sollen stabilisiert und die Entscheidung getroffen werden, wie und wo seine Behandlung weitergeht. Das Team legt zusammen mit Patient und Angehörigen in einem ausführlichen Notfallplan fest, wie sich mögliche Krisensituationen kontrollieren lassen. Dieser Plan bilde dann auch die Richtschnur für die «Akut-Kollegen». Ein Palliativpatient befinde sich bei einem Spitaleintritt häufig in einer instabilen und gleichzeitig komplexen Situation. «Diese Patienten kommen dann nicht auf den Notfall, sondern wieder direkt zu uns», erklärt Oberarzt Thiene.

Schwierige Fragen stellen

Im Kompetenzzentrum regelt man auch, wer allenfalls die Betreuung zuhause übernehmen kann. Zudem fragt das Team 48 Stunden nach dem Austritt nach, wie es daheim laufe. In diesem Zusammenhang steht unter der Pallihelp-Nummer 044 863 29 92 rund um die Uhr telefonische Beratung zur Verfügung, nicht nur für ehemalige Patienten, sondern für alle Betroffenen und ihre Angehörigen.

Stationsleiter Loosli sagt, ihn fasziniere an der Palliative Care am meisten, dass man aus einem sozialen Chaos eine geordnete Situation machen könne, in der sich nachher alle wohler fühlten. Zwei Erlebnisse in seinem privaten Umfeld hätten ihn hautnah miterleben lassen, wie sensibel Pflegende in der Palliative Care auf die Menschen zugehen. «Ich finde es zudem wichtig, dass wir auf Fragen aufmerksam machen, die sonst häufig unausgesprochen bleiben, etwa was die Beerdigung oder die Hinterlassenschaft betrifft.»

Auf den Lorbeeren des Qualitätslabels ausruhen will sich Palliativteam in Bülach nun aber nicht. Es nimmt die Empfehlungen der Auditoren von qualitépalliative ernst, sagt Loosli, zum Beispiel die Weiterbildung oder die Mitarbeiterbindung seien wichtige Punkte. Wobei Loosli zu bedenken gibt, dass bereits die Ernennung zum Kompetenzzentrum teambildend gewirkt habe. «Hier arbeiten passionierte Fachpersonen, die sich mit der Ausrichtung Palliative Care identifizieren.»