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Verfehlt die moderne Medizin den Menschen?

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02. September 2014 / Medien

Sendung «Passage», SRF2 Kultur


Eine sehr hörenswerte Sendung wurde kürzlich auf Radio SRF2 Kultur ausgestrahlt. Über die Frage nach dem Faktor Mensch in der modernen Medizin diskutierten Kathryn Schneider Gurewitsch, Internistin und Psychotherapeutin, sowie Christian Hess, langjähriger Chefarzt Innere Medizin des Spitals Affoltern und Gründer der Akademie Menschenmedizin mit Angelika Schett. Die Sendung kann in voller Länge online nachgehört werden (siehe Link auf der rechten Seite).

Dem medizinischen Fortschritt haben wir sehr viel zu verdanken. Aber, so formuliert es Gurewitsch, durch diese Fortschritte hat die Komplexität in der Medizin so sehr zugenommen, dass vermutlich die menschliche Dimension etwas auf der Strecke geblieben ist. Wir haben – im Gegensatz zu früher – eine Medizin, die viel kann. «Aber wir haben die Tendenz, den Menschen auf das Symptom zu reduzieren. Und da geht sehr viel verloren», so Gurewitsch, die selber seit Jahren an Krebs leidet. Über diese Tendenz wird in der rund einstündigen Sendung intensiv und angeregt diskutiert.

Was ist die ärztliche Kunst?

Der Mediziner Christian Hess sagt: «Ich glaube, dass wir den Menschen zu wenig Zeit lassen, ihren Weg in ihrem Kranksein zu finden. Unsere Aufgabe ist es, Informationen so zu vermitteln, dass sie verstehbar sind, zu spüren, was im Moment dem Menschen zumutbar ist und ihm dann auch Zeit zu lassen, bis der definitive Entscheid gefällt ist.» Es gebe natürlich die naturwissenschaftlichen, harten Fakten. Und da stelle sich durchaus die Frage, wie man die kommuniziere, dass die Informationen verständlich rüberkommen – dies sei eine wichtige Aufgabe. Die ärztliche Kunst aber beginne jenseits dieser Fakten, sagt Hess. Die ärztliche Kunst versuche wahrzunehmen, wo der betroffene Mensch steht, wie sein Kontext aussieht und wie er mit einer Diagnose umgehen möchte. «Jeder hat einen sehr eigenen Umgang mit Kranksein. Das vergessen wir sehr oft», so Hess. Auch Gurewitsch findet: «Die Naturwissenschaft, die fortgeschrittene Medizin braucht es auf jeden Fall! Nur ist es ein Irrtum zu glauben, dass die Medizin eine exakte Wissenschaft sei. Der Mensch ist an sich so komplex, dass wir ihn vermutlich nie ganz erfassen werden.» Neben diesen Grundlagen der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse bräuchten Medizinerinnen und Mediziner darum auch ganz wichtige Fähigkeiten wie Empathie und Intuition.

Im Supermarkt der Therapiemöglichkeiten

Die moderne Medizin habe ausserordentlich viel zu bieten, sind sich Hess und Gurewitsch einig. In einzelnen Situationen gebe es heute für Betroffene deshalb aber auch Angebote, die für ihn oder sie persönlich keinen Sinn machten, findet Hess. «Jetzt sind wir quasi in eine Supermarkt-Situation geraten.» Und dies vereinfache es den Patienten und Patientinnen nicht unbedingt, ihren Weg zu finden. Viele Betroffene würden zu wenig Informationen verlangen, um ihre Entscheidungen fundiert fällen zu können. «Wir sollten daran arbeiten, dass Menschen befähigt werden, vernünftige Entscheide für ihren spezifischen Lebenskontext zu fällen.»

Der «Denkfehler» beim Kosten Sparen

Diskutiert wird in dieser Sendung auch über den Faktor Zeit. «Wir müssen vermeiden, dass der Eindruck entsteht, es sei ineffizient, wenn man sich als Arzt Zeit nimmt für einen Menschen, ihn zu verstehen, emphatisch mit ihm in seine Krankengeschichte einzutauchen», sagt Hess. Heute bestehe politisch gesehen die Idee, man könne alles durch Rationalisierung effizienter machen und damit die Kosten senken. «Und man realisiert nicht, dass man dabei die Zeit rationiert. Wir haben heute eine Zeitverdichtung im Alltag, die es gar nicht mehr erlaubt, sich mit Betroffenen so intensiv auseinander setzen.» Dabei sei das eigentlich nötig, so Hess. Gurewtisch bezeichnet es als «Denkfehler», dass man glaube, das Gesundheitswesen werde billiger, wenn man bei den Gesprächen sparen würde. Denn nicht selten würden Betroffene auf teure Eingriffe verzichten, wenn sie zuvor ein ausführliches, intensives Gespräch mit einem Arzt oder einer Ärztin geführt hätten. Hess stimmt zu: «Gefragt ist in erster Linie Zeit.» Langfristig könnte man so Kosten sparen, ist auch er überzeugt.

Über den Verzicht auf bestimmte Therapien sei auch am Lebensende nachzudenken, bringt Gurewitsch ein. Dieses Thema sei ein grosses Tabu, weil man glaube, man wolle am Lebensende einfach nur sparen. Dabei zeige sich, dass Betroffene oftmals nicht nur besser und länger lebten, wenn sie auf gewisse Therapien am Lebensende verzichteten, sondern dass sie in jedem Fall auch besser stürben. «Dass es dann auch noch günstiger ist, ist eine Nebenwirkung. Dieses Tabu müsste man endlich brechen und darüber sprechen können», so Gurewitsch.
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