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Interview mit Spitalseelsorgerin Lisa Palm

Interview mit Spitalseelsorgerin Lisa Palm

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«Stirbt ein Säugling, ist das schon etwas vom Traurigsten», sagt die katholische Theologin, die am Universitätsspital Zürich an der Frauenklinik arbeitet. (Bild: sa)

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Lisa Palm (58) ist Spitalseelsorgerin am Universitätsspital Zürich. Nach ihrer Ausbildung zur Pflegefachfrau und Erwachsenenbildnerin studierte sie Theologie und unterrichtete an der Pflegefachschule Theodosianum. Seit zehn Jahren arbeitet die katholische Theologin als Spitalseelsorgerin. Zuerst am Spital Zollikerberg, seit fünf Jahren am Uni-Spital. Sie ist Beauftragte für Palliative Care der katholischen Klinik- und Spitalseelsorge im Kanton Zürich und ist im Vorstand von palliative zh+sh. Ihre Themenschwerpunkte sind die interprofessionelle Vernetzung sowie die Sensibilisierung und Ausbildung in Palliative Care. Lisa Palm ist verheiratet, hat zwei erwachsene Töchter und wohnt in Weisslingen ZH.

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21. September 2015 / Region
Spiritual Care ist derzeit in aller Munde. Spitalseelsorgerin Lisa Palm arbeitet schon länger nach modernen Massstäben und macht auch mal mit einer schwangeren Frau, der eine Frühgeburt droht, Atemübungen. Der Tod eines Neugeborenen macht der katholischen Theologin immer schwer zu schaffen.

Sie sind Spitalseelsorgerin am Universitätsspital Zürich. Mit welchen Anliegen kommen die Patientinnen und Patienten zu Ihnen?
Lisa Palm: Ich bin für die Frauenklinik zuständig und dort auf zehn verschiedenen Stationen tätig. Je nach Bereich unterscheiden sich die Fragen. Auf der Gynäkologie zum Beispiel sind die Patientinnen häufig ältere Frauen, die an Brust- oder Unterleibskrebs leiden. Für sie stehen existenzielle, palliative Fragen im Zentrum. Ich arbeite aber auch auf der Pränatalabteilung und lerne dort schwangere Frauen kennen, die wegen einer drohenden Frühgeburt Monate lang liegen müssen. Ihre Kinder kommen tatsächlich manchmal als Frühchen auf die Welt, werden in der Neonatologie behandelt. Die Eltern bangen, ob ihr Kind überleben wird oder mit welchen Komplikationen sie leben lernen müssen.

Was, wenn das Kind nicht überlebt?
Leider kommt immer wieder ein Kind so früh zur Welt, dass es nicht lebensfähig ist. Dann begleite ich die Eltern ebenfalls, etwa wenn sie ihr verstorbenes Baby kennenlernen, es in den Arm nehmen wollen. Heute weiss man aus der Forschung, was Eltern helfen könnte, den Abschied von einem Neu- oder Frühgeborenen zu bewältigen. Das ist schon etwas vom Traurigsten. Lebensbeginn und -ende können auf eine einzige Woche fallen oder gar auf wenige Stunden oder Minuten.

Ist ein allzu früher Tod schwieriger zu akzeptieren als jener, der ein erfülltes Leben abschliesst?
Ja, ich finde schon, auch für die Angehörigen. Sie fragen mich in solchen Situationen: Was ist das für ein Gott? Viele Menschen, auch Nichtkirchengänger, sind der Meinung, dass für die Zeugung eines Kindes nicht nur Mann und Frau nötig sind, sondern auch eine schöpferische Kraft. Ganz viele Schwangere haben irgendeine spirituelle Überzeugung, auch wenn sie keiner Kirche angehören. Viele möchten vor der Geburt einen Segen erhalten und Gott bitten, dass ihr Kind von einem starken Schutzengel beschützt ist.

Was baut Sie nach schwierigen Erlebnissen wieder auf?
Auf jeden Fall meine Familie! Zum Beispiel aber auch unsere Neo-Dank-Gottesdienste: Die Seelsorge lädt alle Eltern von Früchchen nach drei Jahren zu einer Feier ein. Das ist eine Art Krabbelgottesdienst, in dem wir Geschichten erzählen und die Eltern ihre Kinder segnen. Der Andrang ist gross: Pro Gottesdienst befinden sich dann 60 bis 70 Familien in der Kirche…

… mit 60 bis 70 Dreijährigen!
Oder noch mehr Kindern. Es gibt am Uni-Spital viele Mehrlingsgeburten, und die Geschwister kommen meistens auch mit. Das ist eine einzige grosse Party. Die Kinder auf der Neonatologie sind zum Teil ja noch sehr, sehr klein, wiegen erst 600 bis 700 Gramm, werden beatmet, ihre Haut gleicht Seidenpapier. Diese Kinder dann nach drei Jahren herumspringen zu sehen, ist wie ein Wunder. Ich habe in den Jahren, in denen ich hier arbeite, grosse Achtung vor den Ärzten und der Pflege der Neo entwickelt.

Sie sind katholische Seelsorgerin. Kümmern Sie sich auch um Frauen, die eine andere Konfession oder eine andere Religion haben?
Ja, am Uni-Spital haben wir viele Frauen, die einer anderen oder keiner Religion angehören. Letztes Jahr haben knapp 2000 Katholikinnen im USZ geboren. Das macht ungefähr ein Drittel aller Geburten aus. Das ist die grösste Gruppe, weil darunter relativ viele Südländerinnen, Spanierinnen oder Italienerinnen sind. Die Gruppe der Muslima und jener «ohne Bekenntnis» ist mittlerweile gleich gross wie die der evangelisch-reformierten Frauen. Sie machen alle je ein Fünftel aus.

Wie gehen Sie mit einer muslimischen Frau um?
Wenn eine Muslima eine Frau wünscht, mit der sie sprechen kann, passt das gut. Da bin ich jederzeit gerne für sie da. Schwieriger ist folgende Situation: Die Pflege findet, dass eine Patientin – eine strenggläubige Muslima, mit schlechten Deutschkenntnissen – meine Hilfe benötigt, weil sie eine schwere Geburt hatte. Ich versuche dann einen Zugang zu ihr herzustellen, was nicht immer einfach ist. Ich stelle mich als Lisa Palm, als Theologin und Seelsorgerin vor und dass ich mir sehr gerne Zeit nehme, sie oder die gane Familie zu begleiten. Da taucht aber bereits das erste Problem auf: Im Islam gibt es keine Seelsorge, diese Funktion übernimmt die Familie. Der Imam ist nur für die Predigt zuständig. Wenn eine muslimische Familie jedoch auf eine muslimische Begleitung besteht, gehört es zur Aufgabe der Seelsorge, diese zu organisieren. Ich akzeptiere aber, wenn jemand partout keine Hilfe will.

Haben Sie schon Musliminnen begleitet?
Ja, und schon wundervolle Situationen erlebt. Ein Beispiel: Eine muslimische Frau verlor in der 18. Schwangerschaftswoche ihr Kind – und das bereits zum zweiten Mal. Sie wollte eine Frau als Ansprechsperson haben. Ich sass also bei ihr. Irgendwann kamen ihre Schwestern, ihre Freundinnen, ihre Landsfrauen. Wir redeten, erzählten von eigenen Erfahrungen. Wir weinten zusammen, lachten aber auch. Es gab zu Essen. Zwischen diesen Frauen bestand eine unglaubliche Solidarität und Kraft und sie nahmen mich ganz selbstverständlich in ihrer Mitte auf.

Inwiefern hat Ihre Arbeit mit Spiritual Care zu tun?
Spiritual Care ist ja eine relativ neue Disziplin innerhalb des Gesundheitswesens. Ihre Ursprünge liegen in der Pflege und in der spirituellen Tradition der Religionen. Vor dem Theologiestudium absolvierte ich eine Ausbildung als Pflegefachfrau. Die Pflege ging bereits in den 70er-Jahren von einem ganzheitlichen Menschenbild aus, von einem Ganzheit des Menschen also, der nicht nur aus Körper, sondern auch aus Seele, Sozialem und Spirituellem besteht. Die Palliative Care tut das laut offizieller Definition ebenfalls. Deshalb hat sich die Spiritual Care etabliert. Ganz klar umrissen ist der Begriff jedoch nicht. Die Forschung sagt, Spiritual Care habe mit der Verwurzelung des Menschen zu tun, mit den Sinnfragen, dem Existenziellen, der Identität, den letzten Fragen – woher komme ich, wohin gehe ich? – mit dem Ausgerichtetsein zum Geistigen hin. Spiritual Care muss im Übrigen überhaupt nichts mit Religion zu tun haben.

Wie grenzen Sie Seelsorge von Spiritual Care ab?
Die Schnittstellen sind gross. Wenn wir als Seelsorger zu jemandem kommen, werden uns natürlich genau diese grossen Fragen gestellt: Warum verlieren gerade wir ein Kind? Was will mir meine Krankheit sagen? Ist das Leben ungerecht? Niemand weiss dazu eine Antwort. Mit diesen Kernfragen werden vor allem die Pflegenden konfrontiert. Sie sind die nächsten Bezugspersonen der Patientinnen und Patienten. Einer sagt vielleicht beim Waschen, dass er nicht mehr weiterleben mag. Aber auch Ärztinnen und Ärzte hören diese Fragen, wenn es darum geht, ob man eine Therapie weiterführen will. Dies sind zudem die zentralen Fragen, denen sich die psychosozialen Dienste widmen, etwa die Onkopsychologie. Spiritual Care ist also eine interdisziplinäre Angelegenheit. Spiritual Care darf jedoch nicht nur auf die Begleitung schwerkranker und sterbender Menschen begrenzt werden, sondern bezeichnet die stärkende, geistige Begleitung aller Patientinnen und Patienten.

Die moderne Spitalseelsorge, wie sie am Uni-Spital praktiziert wird, liegt in dem Fall nahe an der Spiritual Care?
Ja, wir Seelsorger sind sicher wichtige Player in der Spiritual Care. Von meiner täglichen Arbeit tragen zirka 60 Prozent dieses Etikett. Häufig praktiziere ich mit Frauen auf der pränatalen Abteilung in diesem Zusammenhang auch Atem- oder Körperwahrnehmungsübungen. Und wenn die Frau einen spirituellen Bezug hat, verbinde ich die Atemübung mit einem Segen für Mutter und Kind. Der Segen ist ein wunderbares spirituelles Ritual, das alle grossen Religionen und spirituellen Traditionen kennen. Spiritual Care darf also nicht nur auf die Begleitung schwerkranker und sterbender Menschen begrenzt werden, sondern bezeichnet die stärkende, geistige Kraft in der Begleitung.

In Zürich wird die erste Professur für Spiritual Care eingerichtet. Weshalb?
Sie hängt eng mit der Palliative-Care-Strategie des Bundes und mit dem Lehrstuhl für Palliative Care in Lausanne zusammen. Ein zweiter Stiftungslehrstuhl für Palliative Care wird in Bern geschaffen. Spiritual Care soll nicht im luftleeren Raum oder auf der Gschpürschmi-Ebene arbeiten. In diesem Bereich ist Forschung nötig. Zum Beispiel zur Frage, wie weit spirituelle Begleitung das körperliche Defizit eines Menschen kompensieren kann. Oder ob spirituelle Begleitung einen Einfluss auf eine Schmerztherapie hat. Es gibt einige Forschungsarbeiten über Spiritual Care und Pflege.

Der Lehrstuhl für Spiritual Care befindet sich an der theologischen Fakultät. Müsste dieser, um näher an den Ärztinnen und Ärzten zu sein, sich nicht an der medizinischen Fakultät befinden?
Dieser Wunsch war da, und es liefen auch Verhandlungen darüber. Die medizinische Fakultät hat sich schliesslich dazu verpflichtet, Spiritual Care ihren Student_innen als Wahlpflichtfach vorzuschreiben. Eingerichtet wird die Professur aber bei den Theologen.

Wie ist Ihre persönliche Meinung?
Mein Wunschort wäre die medizinische Fakultät gewesen. Weil das Ganzheitliche in der Medizin noch am Entstehen ist. Ich bin der Meinung, Ärzte sollen sich auch mit Spiritualität befassen. Denn sie hat Einfluss auf die Gesundheit. In anthroposophischen Spitälern wird das bereits gelebt. In der modernen Medizin eines Uni-Spitals ist das Ganzheitliche jedoch eher marginalisiert.

Haben denn Ärztinnen und Ärzte die notwendigen Fähigkeiten, die es braucht, um solche schwierigen Gespräche um Leben und Tod zu führen?
Im Moment nur, wenn jemand diese als Persönlichkeit bereits mitbringt. Im Medizinstudium werden sie jedenfalls nicht vermittelt, dort ist nicht einmal Kommunikation ein Schwerpunkt.
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