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«Würde hat keine Halbwertszeit»:
Über das Sterben aus ethischer Sicht

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«Allein die Häufigkeit, mit der über Würde geredet wird, macht sie verdächtig.» Frank Mathwig über die Menschenwürde und die Würde im Sterben. Im Rahmen der Ausstellung «Noch mal leben vor dem Tod» hielt er in Zürich einen Vortrag.

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Frank Mathwig
Frank Mathwig ist Beauftragter für Theologie und Ethik des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes (SEK) und Titularprofessor für Ethik am Institut für Systematische Theologie der Universität Bern. Als Krankenpfleger arbeitete er viele Jahre unter anderem mit Schwerstbehinderten. Seine Publikationen umfassen Arbeiten zu gleichgeschlechtlichen Paaren, zum Sonntagsschutz, zu Sterbehilfe und Palliative Care, zur Forschung am Menschen und zu den Grundwerten aus evangelischer Perspektive.

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27. Oktober 2016 / Region
Stoff zum Nachdenken: Der Theologe und Ethiker Frank Mathwig hielt einen Vortrag im Rahmen der Ausstellung «Noch mal leben vor dem Tod». Er sagt: Unsere Sicht auf die Menschenwürde ist zu stark von ökonomischer Logik geprägt.
Was ist Würde, was heisst Würde im Sterben und wie stehen die Begriffe im Verhälntnis zu unserer Nutzenorientierung? Über solche und weitere Fragen sprach Prof. Dr. theol. Frank Mathwig in der Zürcher Limmat Hall, wo die Bilder von sterbenden und toten Menschen von Walter Schels zurzeit zu sehen sind. «Würde hat keine Halbwertszeit. Über das Sterben aus ethischer Sicht», lautete der Titel von Mathwigs Vortrag. Und auch seine Aussagen verfügen nicht über die klassische Nutzenkurve. Der Stoff zum Nachdenken über die Würde reicht für lange Zeit. Vielleicht für ein ganzes Leben.

Differenzieren in der Diskussion um die Würde

Zum Einstieg zitiert Mathwig Woody Allen, Thomas Bernhard und andere, die den Wunsch äusserten, den eigenen Tod zu sterben - gerade so, wie man das eigene Leben leben will. Dass die «Würde», gerade in der Diskussion um das Sterben, derzeit so oft Thema von Diskussionen ist und im öffentlichen Diskurs immer wieder zur Sprache kommt, ist Mathwig ein wenig suspekt. «Allein die Häufigkeit, mit der über Würde geredet wird, macht sie verdächtig», findet er. Denn: «Was Menschenwürde ist, erschliesst sich ert bei ihrer Missachtung.» Dabei komme Würde allen Menschen zu, allein, weil sie Menschen seien. Sie sei mit der Geburt gegeben und unveräusserlich. Die Menschenwürde sei ein «gemeinsames Ideal der Menschlichkeit» und «aus dem Geist der Geschwisterlichkeit erwachsen». Es gibt also eine universale Menschenwürde. Und daneben gibt es eine jeweils persönliche Menschenwürde. «In der öffentlichen Diskussion überlagern sich diese Würde-Arten gegenseitig. Und das führt zu Verwirrung», so Mathwig.
«Sitzen wir auf dem falschen Pferd? Oder mindestens falsch herum?»
Frank Mathwig

Eine weitere Ungenauigkeit im öffentlichen Diskurs um die Menschenwürde sei, dass eine wichtige Unterscheidung unterlassen werde. Die Unterscheidung nämlich zwischen Willens- und Handlungsfreiheit. Gerade beim Vorliegen von Krankheiten sei sehr oft die Handlungsfreiheit eingeschränkt - nicht aber die Willensfreiheit. Deshalb seien beispielsweise Tetraplegie oder das Angewiesensein auf Intimpflege nicht per se eine Entwürdigung. Es komme auf einen würdevollen Umgang an. Mathwig findet, es sei durchaus mit der Würde vereinbar, in einem Zustand von Abhängigkeit und Schwäche zu sein. «Es ist eine irrwitzige Fixierung, sich an der Leistungsfähigkeit im früheren Leben zu orientieren.»

Und in der Palliative Care?

Auch die Konzepte der Palliative Care seien nicht frei von Souveränitäts- und Selbstbestimmungsdenken, stellt der Professor für Ethik fest. Auffallend sei beispielsweise, dass in der Definition von Palliativmedizin in den Schweizer Standards an keiner Stelle die Rede sei von Sterben oder Tod, stattdessen aber von Lebensqualität. Palliative Care laufe Gefahr, das Sterben zu normieren und lege quasi Bedingungen für ein «gelingendes Sterben» fest. In der Palliative-Care-Literatur stächen entsprechend Begriffe wie «Kontrolle haben», «selber bestimmen», «gestalten» oder «Kommunikation» heraus. Doch, fragt Mathwig, was ist mit den Menschen mit kognitiven Einschränkungen? Und mit Blick auf die Entwicklung in der Palliative Care: «Sitzen wir auf dem falschen Pferd? Oder mindestens falsch herum?»
«Ökonomisch mag es als Luxus erscheinen, etwas Nutzloses um seiner selbst willen zu wollen. Aber genau diese antiökonomische Pointe kennzeichnet die menschliche Würde.»
Frank Mathwig

Und Mathwig ist an dieser Stelle mit dem Fragen noch längst nicht fertig. Was bleibt von einem Menschen, dem all die Dinge abhanden gekommen sind, die wir für ein gelingendes Leben als wesentlich betrachten? Ist ein Leben unwürdig, wenn es nicht so verläuft, wie man es sich vorgenommen hat? Hängt Menschenwürde von Vernünftigkeit ab?

«Die Ausgangsfrage: Worin bestht die Menschenwürde? Wurde mit der Zeit zur Frage: Was macht ein menschenwürdiges Leben aus?», so Mathwig. Diese Verschiebung folge einem herrschenden Ökonomieprinzip. Der Fokus liegt auf dem Nutzen, den etwas im Blick auf etwas anderes hat. Und diese Überlegung werde auch auf die Leben von Menschen übertragen: Welchen Nutzen haben bestimmte Lebenszustände für die Menschen, die darin existieren? «Die Frage enthält einen perfiden Kippmechanismus: Von der Nutzlosigkeit einer Lebenslage wird auf die Wertlosigkeit des Menschen geschlossen, der in dieser Situation steckt.» Doch: Die Nutzen- und Sinnsuche dürfe auch scheitern, weil es für die menschliche Würde, die Achtung und den Respekt, den sie gebietet, überhaupt nicht auf den Nutzen und Sinn eines Lebens ankomme. «Ökonomisch mag es als Luxus erscheinen, etwas Nutzloses um seiner selbst willen zu wollen, zu achten und zu schützen. Aber genau diese antiökonomische Pointe kennzeichnet die menschliche Würde.»

Der Vortrag von Frank Mathwig steht in ganzer Länge zum Download zur Verfügung (siehe Seitenleiste).
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