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Im Zürcher Kino Kosmos diskutierten nach der Premiere Monika Obrist (v. l.), Andreas Weber, Elena Ibello und Fabian Biasio (Bilder: Fabian Biasio und sa).

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13. Dezember 2018 / Region
Gestern feierte Fabian Biasios «Sub Jayega – Die Suche nach dem Palliative-Care-Paradies» in Zürich Premiere. Der bildstarke Film ist ein Plädoyer dafür, unserer Endlichkeit selbstverständlicher zu begegnen.
Der Multimediajournalist Fabian Biasio hat keine schlechten Erfahrungen mit der Palliative Care in der Schweiz gemacht. Sein Vater war sieben Jahre zuvor in die Karibik ausgewandert und kam unheilbar erkrankt in die Schweiz zurück. Er starb schliesslich auf der Palliativstation des Universitätsspitals, wo er liebevoll betreut worden sei, wie Biasio nach dem Film sagte. «Aber er starb im Spital, dort gehorcht Vieles einem Protokoll, zum Beispiel ist der Zeitpunkt der Medikamenteneinnahme relativ genau definiert. Sterbende brauchen jedoch mehr menschliche Zuwendung als Protokoll.»

Plakativ heisst es im als Video-Tagebuch gestalteten Film: «Mein Vater starb mit Blick auf einen Parkplatz.» Als der 77-Jährige im Sterben lag, während des Wechsels von der Nacht- zur Frühschicht, hörte die Familie Autotüren zuschlagen. Vor allem aber störte den Sohn, dass sein Vater nach ein paar Wochen das Spital hätte verlassen müssen. Die Fallpauschalen waren ausgereizt. Zum Austritt kam es jedoch wegen des verschlechterten Allgemeinzustands nicht mehr.

Der Film berührt die Sinne

Drei Jahre später wurde Fabian Biasio angefragt, anlässlich des 30-Jahr-Jubiläums von palliative ch einen Film zu drehen. Er machte sich auf die Suche nach dem idealen Ort, wo Sterbende Zeit, Ruhe und Zuwendung erfahren, nicht mit Kosten konfrontiert sind und nicht hinter geschlossenen Türen versteckt werden. Australien gehört zu den Pionierländern in Sachen Palliative Care. Biasio besuchte dort in Ipswich – einem Vorort von Brisbane – ein Hospiz, ein Spital und begleitete eine ambulante Pflegefachfrau. Empfohlen wurde ihm zudem ein Projekt im indischen Kerala, das Institute of Palliative Medicine (IPM). So setzte er sich für viele Stunden ins Flugzeug.

Biasio ist ein exzellenter Fotograf. Deshalb beeindrucken einerseits die im Film gezeigten Bilder seines sterbenden und schliesslich verstorbenen Vaters. Andererseits scheint sein gestalterisches Talent in vielen Einstellungen der Filmkamera auf. Der entstandene Dokumentarfilm ist ein bildstarkes Stück Kunst, das direkt die Sinne berührt: Man meint den warmen Regen im indischen Kerala direkt auf der Haut zu spüren oder den Rauch der Totenfeuer am Ganges zu riechen.
«In Indien ist der Tod selbstverständlich.» Fabian Biasio, Multimediajournalist
Aber warum ist Biasio so weit gereist, um einen guten Ort zum Sterben zu finden? Er habe sich lange überlegt, was er über Palliative Care aus der Schweiz erzählen könne, sagte der Filmemacher in der Diskussion, die Elena Ibello moderierte. Da der 42-Jährige die palliativkarte.ch initiiert und umgesetzt hat, ist er Teil der Palliative-Care-Community geworden und hat viele stationäre und ambulante Angebote kennengelernt, wenn auch nur oberflächlich. Er höre von Fachpersonen: «Die Schweiz hat in den letzten dreissig Jahren zwar viel erreicht, aber wir sind sicher noch nicht an dem Punkt, an dem wir sein wollen.»

Die Ruhe, die Wärme und die Selbstverständlichkeit, mit der sterbenden Menschen am IPM in Kerala begegnet wird, seien für ihn paradiesischen Zuständen am nächsten gekommen. Denn in Australien stellte er irgendwann fest, dass die Verstorbenen zur Hintertüre hinausgekarrt werden, so dass es die anderen «Gäste» nicht merken. Ausserdem filmte Biasio auch in Varanasi, einer für Hindus heiligen Stadt. Wer hier stirbt, muss nicht mühsam wiedergeboren werden, sondern kommt direkt ins Nirvana. Dort gefiel ihm der alltägliche Umgang mit dem Tod. Dieser lieh dem Film auch den Titel: «Sub Jayega» heisst auf Hindi so viel wie «Alles vergeht».

Mehr Körperkontakt, bitte!

Wie in Varanasi Erwachsene ihre sterbenden Eltern liebevoll umsorgten, beeindruckte auch Andreas Weber, Palliativmediziner aus dem Zürcher Oberland und Co-Präsident von palliative zh+sh, der mit Monika Obrist, Geschäftsführerin von palliative zh+sh, und Biasio auf dem Podium sass. «Die Angehörigen nehmen sich viel Zeit für die Betreuung und scheuen keinen Körperkontakt. Das regt zum Denken an.» Begeistert habe ihn die Szene, wo der Sohn die kranke Mutter auffordert, ihn zu segnen und sie ihm mit beiden Händen intensiv über den Kopf streicht.

Monika Obrist war von der Selbstverständlichkeit angetan, mit der sich in Kerala Angehörige, Freiwillige und Professionelle gemeinsam um einen sterbenden Menschen kümmern. Interessanterweise profitieren davon aber nur die Armen. «Die Reichen sterben auf der Intensivstation, total isoliert», sagt im Film ein ehemaliger Manager, der in Indien bei einem multinationalen Konzern gearbeitet hat und jetzt das IPM unterstützt. In diesem indischen Bundesstaat verfüge jeder kleine Weiler über eine Palliative-Care-Equipe, meist ausgebildete Pflegefachfrauen, die diesen Dienst freiwillig leisten, sagte er stolz.

Wer soll das bezahlen?

Das gesamte IPM gründet auf der Gemeinschaft, wird vollumfänglich mit Spenden finanziert und von Freiwilligenarbeit getragen. Die Frage nach der Finanzierung ist denn auch einer der roten Fäden, die sich durch die Geschichte ziehen. Denn zu Beginn des Films sagt Steffen Eychmüller, Palliative-Care-Professor in Bern und Leiter des Palliative-Care-Zentrums am Inselspital: «Wir häufen pro Fall 5000 Franken Defizit an.» Der Leiter der Palliativstation am Spital von Ipswich meint, das Defizit sei für ihn kein Thema, die Regierung halte ihm diesbezüglich den Rücken frei. Ohne umfangreiche Freiwilligenarbeit und intensives Fundraising kann aber auch diese Institution nicht existieren: Bis zu 60 Prozent der Kosten werden mit Spenden gedeckt.

«Was fehlt denn der Schweiz zum Paradies?», wollte Moderatorin Elena Ibello wissen. Man engagiere sich als Organisation auf politischer Ebene, um Versorgungs- und finanzielle Lücken zu stopfen, führte Monika Obrist aus, die auch Präsidentin der nationalen Gesellschaft palliative ch ist. Das Geld sei in der Schweiz vorhanden, ohne Umverteilung werde das Ziel aber nicht erreicht. Zudem sei im Gesundheitswesen ein grundlegender Sinneswandel nötig, etwa in der Tarifstruktur. «Das in Spitälern geltende Tarifsystem, das sich allein auf Diagnosen bezieht, ist für Palliativpatientinnen und -patienten schlicht unethisch.»

Viele kleine Paradiese

Schöne Bilder hin, intensive Sinneseindrücke her. Biasios Film liegt eine provokative These zugrunde, nämlich, dass das Palliative-Care-Paradies nicht in der Schweiz zu finden ist. Die Situation in der hiesigen Palliative Care ist aber alles andere als alarmierend. Es wären sicherlich viele kleine Paradiese zu finden gewesen, auf Palliativstationen, in Hospizen und nicht zuletzt in der ambulanten Pflege. Auch in der Schweiz sind viele Freiwillige im Einsatz. Biasio hat sie nicht gesucht, sondern die Kamera nur nach aussen gerichtet. Das ist eine legitime, aber ein bisschen enttäuschende Entscheidung.

Ihm ist hingegen gelungen – das zeigte der volle Kinosaal und die strahlenden Gesichter –, Menschen für die Themen Sterben und Tod zu sensibilisieren, zu zeigen, was Palliative Care sein kann. Denn neben politischer Arbeit und finanziellem Umdenken, liegt es auch an der breiten Bevölkerung, dieses Angebot einzufordern.
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