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Buchkritik: «Sterbefasten»

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In «Sterbefasten» erzählt Christiane zur Nieden, wie sie ihre Mutter beim Sterbefasten begleitete und erklärt, wie eine solche Begleitung gelingen kann.

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Sterbefasten. Freiwilliger Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit – Eine Fallbeschreibung. Christiane zur Nieden. 2016 (2. Auflage), Mabuse-Verlag, Softcover, 179 Seiten, 978-3-86321-337-4 (ISBN)

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15. November 2017 / Medien
Christiane zur Nieden begleitete ihre Mutter beim Sterbefasten. Die langjährige Sterbe- und Trauerbegleiterin schrieb ein Buch, in welchem sie ihre eigenen Erfahrungen mit grundsätzlichen Fragen zum Thema Sterbefasten und konkreten Tipps für Begleitende verwob.
Das Buch «Sterbefasten» von Christiane zur Nieden trägt den Untertitel «Eine Fallbeschreibung». Zur Nieden begleitete vor einigen Jahren ihre Mutter bis zum Tod. Diese hatte sich dafür entschieden, auf Nahrung und Flüssigkeit zu verzichten, um zu sterben. Darüber schreibt die Sterbebegleiterin und Heilpraktikerin im ersten Teil ihres Buches. Zum Zeitpunkt, als die Mutter diesen Entschluss fasste, hatte sie eine Feier zum 88. Geburtstag hinter sich und war gesund, «geistig rege», wie die Tochter sie beschreibt, und interessiert an persönlichen Kontakten und am Weltgeschehen. Die Hüftprothese, die sie fast drei Jahrzehnte getragen hatte, begann Probleme zu machen und die Alterserscheinungen schränkten sie zunehmend ein. Dazu gehörten auch Magenschmerzen und häufige Übelkeit. Vor allem aber war sie «lebenssatt», so zur Nieden.

Persönlich und authentisch beschreibt die Autorin, wie sie die Begleitung ihrer Mutter beim Sterbefasten erlebt hat. Sie berichtet davon, wie sie erst haderte mit dem Wunsch der Mutter, das Leben durch den «Freiwilligen Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit» (FVNF) zu beenden. Wie sie versuchte, ihrer Mutter Perspektiven auf ein weiterhin lebenswertes Leben zu bieten – und wie sie letztlich Verständnis aufbrachte für diesen Wunsch und ihn als Entschluss akzeptierte, die Mutter in der Durchführung gar unterstützte, zusammen mit ihrer eigenen Tochter und ihrem Ehemann. Als langjährige ehrenamtliche Sterbe- und Trauerbegleiterin und ehemalige Krankenschwester konnte sie auf einige Erfahrungen zurückgreifen und ihr Ehemann Hans-Christoph zur Nieden, ein Allgemein- und Palliativmediziner, konnte die ärztliche Begleitung gewährleisten.
Ein «harmonischer Sterbeprozess» sei möglich, so zur Nieden.

Im ersten Teil des Buches schreibt zur Nieden nicht nur über die Erlebnisse mit ihrer Mutter, sondern auch über grundlegende, meist persönliche Gedanken zum Thema, bei denen deutlich wird, dass zur Nieden bei allen Zweifeln und aller Trauer den FVNF als «angenehme Art zu Sterben» sieht und ihre Mutter für ihren Weg bewundert («Was war sie tapfer!»). Die Schilderungen sind emotional, zur Nieden spricht die Lesenden mitunter direkt an und dennoch mutet der Text wie ein persönliches Tagebuch an. Berührend sind jene Stellen, in denen die Protagonisten dieser Erlebnisgeschichte in den Vordergrund treten, wo gestritten und gelacht wird. Eindrücklich, wie kurze Schilderungen die intime Nähe aller Beteiligten zueinander deutlich machen. Zum Beispiel, als die fastende Mutter ihre Tochter dazu auffordert, sich eine Pause zu gönnen: «Christiane, jetzt ruh dich ein wenig aus, setz dich rüber ins Wohnzimmer und nimm dir, was du brauchst. Ich sterbe noch ein bisschen.» Ein «harmonischer Sterbeprozess» – auch wenn er den Beteiligten zuerst Sorge bereite – sei möglich, schreibt zur Nieden. Alle hätten im Falle ihrer Mutter dazu beigetragen. Sie betont: «Und das funktioniert nur, wenn wir über den Tod und das Sterben sprechen.»

Sterbefastende begleiten

Der zweite Teil des Buches geht auf die Definition und Entwicklung des FVNF ein, beschreibt verschiedene Vorgänge beim Sterbefasten, behandelt die rechtlichen Voraussetzungen in Deutschland und gibt praktische Hinweise für die Begleitung von Sterbefastenden. Christiane und Hans-Christoph zur Nieden bieten gemeinsam Seminare an für «Begleiter und Angehörige bei Sterbefasten». Beispielsweise geht die Autorin auf die Mundpflege ein, die bei einer Begleitung «unbedingt erforderlich» sei und häufig ausgeführt werden müsse. Auch in Bezug auf die Kommunikation und die Beziehungspflege gibt zur Nieden Hinweise und Tipps für Begleitende. Die Autorin schreibt: «Sterbefasten als Art des selbstbestimmten Sterbens ist geeignet für alte und hochbetagte Menschen, die lebensmüde sind oder sich bereits durch eine schwere Erkrankung im Sterbeprozess befinden.» Eine «Grundvoraussetzung für gelungenes Sterbefasten» aber, sei «ein vertrauenswürdiger, liebevoller Angehöriger oder Freund an der Seite des Sterbenden».
«Grundvoraussetzung für gelungenes Sterbefasten ist ein vertrauenswürdiger, liebevoller Angehöriger oder Freund an der Seite des Sterbenden».

Ein Kapitel steuert in diesem Teil des Buches ihr Ehemann bei. Er betrachtet das Sterbefasten aus der Warte eines Hausarztes und postuliert, Sterbefasten sei nicht mit Suizid gleichzusetzen. Es handle sich um einen natürlichen Tod, «denn eine Einwirkung von aussen hat nicht stattgefunden». Um genau diese Frage drehen sich im Wesentlichen die letzten Kapitel des Buches: Ist FVNF Suizid oder nicht? Auch Christiane zur Nieden findet: Nein. Sie macht einen Unterschied zwischen verschiedenen Motiven. Ob eine sterbewillige Person «lebensmüde» oder «lebenssatt» ist, ist demnach entscheidend. Der letztgenannte Begriff ist in zur Niedens Augen positiv konnotiert. Wer sich aus Lebenssattheit für das Sterbefasten entscheide, begehe keinen Suizid, sondern einen «selbstgewählten Tod», wobei die begrifflichen Unterschiede im Buch nicht weiter herausgearbeitet und im Verlauf auch nicht konsequent verwendet werden. Die Gefahr eines Dammbruchs, sollte das Sterbefasten akzeptierter und bekannter werden, sieht zur Nieden nicht. Denn nur wer einen wirklich starken Wunsch habe zu sterben, halte ein Sterbefasten überhaupt durch.


Aufforderung zum Mut

Mehrfach wiederholt zur Nieden – und das nicht nur in diesen letzten Kapiteln – dass es wichtig sei, den Sterbewunsch eines Menschen zu respektieren, wenn geklärt sei, ob tatsächlich alle anderen Möglichkeiten vorgängig geprüft wurden. «Doch wenn der alte Mensch keinen Lebenssinn mehr für sich finden kann, wenn es schon ein Suizid sein soll und es nur noch um das „Wie“ geht, dann sollte ihm die Möglichkeit des Sterbefastens angeboten werden.» Sie sieht eine «moralische Pflicht einer Gesellschaft», Sterbende nicht alleine zu lassen – und geht dabei nicht auf die Bandbreite zwischen «Alleinlassen» und «Hilfe beim Sterbefasten» ein. Zur Nieden überschreibt eines dieser letzten Kapitel mit dem Titel «Mut» und fordert Angehörige von Sterbewilligen auf, den Mut zu haben, diese beim Sterbefasten zu begleiten, wobei sie betont, eine solche Begleitung sei auch ohne spezialisiertes Fachwissen möglich. Es ist eine gut gemeinte Aufforderung von Christiane zur Nieden mit dem Ziel, dass jene, die sterbefasten möchten, nicht alleine bleiben und jene, die pflegebedürftige Angehörige auch in einer solchen Situation begleiten wollen, nicht im ewigen Zwiespalt bleiben müssen, sondern Zuspruch erhalten.
Die Gefahr eines Dammbruchs sieht die Autorin nicht. Nur wer einen wirklich starken Wunsch habe zu sterben, halte ein Sterbefasten überhaupt durch.

Trotz persönlicher Betroffenheit und bei aller Klarheit in der eigenen Haltung zum Thema, bemüht sich Christiane zur Nieden, das Sterbefasten möglichst differenziert und in allen Facetten zu behandeln. Das will ihr nicht so recht gelingen. Vielleicht liegt das an der Vermischung von Persönlichem mit Allgemeinem. Daran, dass unklar bleibt, was dieses Buch genau sein soll: Ein Erlebnisbericht? Die Geschichte einer Familie, die es schafft, den Sterbewunsch der Mutter, Schwiegermutter, Grossmutter zu akzeptieren und sie beim Durchführen des FVNF bis zum Tod zu begleiten? Oder doch ein Fachbuch, das erklären will, wie genau Sterbefasten geht, was dabei passiert und unter welchen Voraussetzungen es gelingen kann? Das Buch mag für jene, die einen nahestehenden Menschen mit Sterbewillen begleiten wollen, sehr hilfreich und eine Ermutigung sein. Diejenigen Töchter und Söhne aber, die – aus welchen Gründen auch immer – eben nicht bereit sind, ihren Vater oder ihre Mutter beim Sterbefasten zu begleiten, könnte nach der Lektüre dieses Buches durchaus ein schlechtes Gewissen beschleichen, weil sie es ‚nicht schaffen‘, sich auf diesen Wunsch und die Begleitung einzulassen. Dass aber auch jede persönliche Entscheidung der Begleitenden legitim ist, kommt im Buch nicht zur Sprache.
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