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Immer häufiger verzichten Ärztinnen auf Therapien am Lebensende

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Repräsentative Daten zur Häufigkeit medizinischer Praktiken in der letzten Lebensphase wurden bisher in der Schweiz erst einmal, im Jahr 2001, erhoben. Im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms 67 «Lebensende» führte das Institut für Epidemiologie, Biostatistik und Prävention der Universität Zürich in Zusammenarbeit mit der Klinik für Geriatrie am Universitätsspital Zürich, dem Institut für Biomedizinische Ethik der Universität Genf und dem Bundesamt für Statistik 2013 eine zweite Erhebung durch. Von den rund 5‘000 an Deutschschweizer Ärzte versandten Fragebogen wurden 63,5 Prozent retourniert.

(UZH)

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08. März 2016 / Wissen

Patienten sollten mehr einbezogen werden


Immer mehr Ärztinnen und Ärzte tun nicht mehr alles medizinisch Machbare, wenn Patient_innen am Lebensende stehen. Dies zeigt eine kürzlich veröffentlichte Studie. Demnach wurde in mehr als vier von fünf erwarteten Todesfällen in irgendeiner Form Sterbehilfe geleistet. Grosser Handlungsbedarf besteht laut der Studie bei der Kommunikation zwischen Mediziner_innen und Betroffenen – denn nicht immer werden die Betroffenen aktuell in Entscheidungen am Lebensende einbezogen.

Forschende der Universitäten Zürich und Genf haben im Jahr 2013 Ärztinnen und Ärzte in der Deutschschweiz zu ihrer medizinischen Praxis am Lebensende befragt. Die Studie zeigt: In mehr als vier von fünf erwarteten Todesfällen wurde in irgendeiner Form Sterbehilfe geleistet. Bei 70 Prozent der erwarteten Sterbefälle geschah dies durch Behandlungsverzicht oder Therapieabbruch. In 63 Prozent der Fälle wurde die Abgabe von Mitteln zur Linderung von Schmerzen oder anderen Symptomen intensiviert. Oft wurden mehrere solcher Massnahmen kombiniert.

Sterben lassen wichtiger als Suizidhilfe

Mit anderen Worten: Mehr Ärzte als früher tun nicht mehr alles medizinisch Machbare in Sterbefällen. Palliativmediziner Gian Domenico Borasio sagte nach der Publikation der Ergebnisse in der Sendung «10 vor 10» des Schweizer Radio und Fernsehen SRF, diese Veränderung gegenüber früher sei allerdings nicht «dramatisch». «Wir wissen auch gar nicht mit Sicherheit, ob alle diese Entscheidungen ‚gute‘ Entscheidungen waren in Anführungszeichen», so Borasio. Was die Daten allerdings mit Sicherheit aussagen würden sei, dass die Frage des Sterbenlassens am Lebensende von ganz grosser Bedeutung sei. Viel bedeutsamer als die Frage der Suizidhilfe, die nur ein Prozent der Todesfälle betrifft.

Laut einer Mitteilung der Forschenden legte die Studie ein besonderes Augenmerk darauf, wie häufig Patient_innen und Angehörige bei Entscheidungen miteinbezogen wurden. Je nachdem, wie der Arzt oder die Ärztin die Entscheidungsfähigkeit der Betroffenen einschätzte, wurden diese stärker oder weniger stark einbezogen, befand die Studie. «Während nur mit jedem zehnten der nicht urteilsfähigen Patienten die getroffenen Entscheidungen besprochen wurden, geschah dies bei den voll urteilsfähigen Patienten in beinahe drei von vier Fällen», schreiben die Forschenden um den Geriater Matthias Bosshard vom Institut für Epidemiologie, Biostatik und Prävention der Universität Zürich.

Berücksichtige man zudem Gespräche mit Angehörigen und frühere Willensäusserungen der Patient_innen, komme es bei nicht urteilsfähigen Patient_innen in vier von fünf Fällen zu einer gemeinsamen Entscheidung und bei voll Urteilsfähigen in rund neun von zehn Fällen. Bosshard schlussfolgert: «Es werden noch einige medizinische Entscheidungen gefällt, ohne dass der Arzt diese mit dem Patienten oder seinem Umfeld vorgängig bespricht.» Die Situation könnte sich für alle Betroffenen verbessern, wenn solche Entscheidungen gemeinsam zwischen Mediziner_innen, Patient_innen und Angehörigen getroffen würden, glaubt er.

«Das ist äusserst bedenklich»

Auch Borasio hält den Finger auf diese Stelle. Er spricht im Beitrag der Sendung «10 vor 10» nicht von jenen drei von vier Fällen, in denen die Entscheidungen mit voll urteilsfähigen Personen gemeinsam getroffen werden. Sondern er sagt: «Leider sagen die Daten der Studie, dass über ein Viertel der voll urteilsfähigen Patienten in diese Entscheidungen, in denen es um ihr eigenes Leben, um ihren eigenen Tod ging, gar nicht einbezogen wurden. Und das ist äusserst bedenklich. Da gibt es grossen Handlungsbedarf.»

Bosshard pflichtet Borasio bei, gibt aber zu bedenken, dass es auch immer wieder Situationen gebe, in denen es sehr schwierig sei, Gespräche zu führen. Beispielsweise, wenn Entscheidungen besonders pressierten. Das dürfe man nicht unterschätzen. Und manchmal gebe es eben auch Patienten, von denen man wisse, dass sie wirklich nicht über dieses Thema sprechen wollen. «Aber ich will das nicht beschönigen», so Bosshard gegenüber «10 vor 10». Es habe durchaus Fälle in dieser Studie gegeben, in denen man Gespräche für die gemeinsame Entscheidungsfindung hätte führen müssen und das nicht tat.