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«Manchmal komme ich mir vor wie eine Grammophon-Platte»

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Susan Porchet-Munro fliegt noch heute regelmässig zu Familie und Freunden in Kanada, wo ihre Vision damals ihren Anfang nahm.

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11. September 2012 / Region
Susan Porchet-Munro hat in den vergangenen drei Jahrzehnten die Entwicklung von Palliative Care in der Schweiz und besonders in Zürich wesentlich mitgeprägt und gehörte zur Gründergruppe von palliative zh+sh. Die heute 74-jährige Musiktherapeutin setzt ihre Grundsätze auch für ihr eigenes Leben um.

An Schwäche oder Gebrechlichkeit denkt man nicht, wenn man vor ihr sitzt. Susan Porchet-Munro wirkt wach und vif wie eh und je. Einmal in Fahrt gekommen, weiss sie viel zu erzählen und auch an Humor mangelt es der Mitbegründerin von palliative zh+sh gewiss nicht. Solange sie bei guter Gesundheit und frohen Mutes ist, tut sie, was möglich ist, damit sie auch in Zukunft so leben kann, wie sie es mag. Porchet-Munro ist mit ihrem Mann vor einem Jahr in ihrem Wohnort Nürensdorf ins «Zentrum Bären» gezogen. Dort sind Wohnungen für die Altersgruppe «60+» sowie zwei Pflegewohnungen unter einem Dach. Eine Hausarztpraxis und ein Restaurant sowie andere Angebote sind Teil dieses Wohnmodells. «Den letzten Mantel mache ich mir selbst», antwortet Porchet mit Nachdruck auf die Frage, warum sie bereits in eine Seniorenwohnung gezogen ist. «Wir sind zu dem Zeitpunkt umgezogen, wo wir uns noch selber so einrichten konnten, wie es uns gefällt. Das Haus, in dem wir zuvor lebten, wäre uns früher oder später zu anstrengend geworden», so Porchet. «Ich kann immer noch genau so leben, wie ich vorher gelebt habe. Nur wohne ich jetzt anstatt auf drei Stockwerken und mit einem Garten auf einem Stock und in einer Wohnung, die auf allfällige, altersbedingte Veränderungen ausgerichtet ist.» Sie wolle so lange wie nur möglich ihr Leben selber gestalten, sagt sie. Und das könne sie im Zentrum Bären sicher länger als wenn sie in ihrem Haus geblieben wäre.

Susan Porchet schrieb zusammen mit Eva Waldmann und Verena Stolba vor sieben Jahren das Buch «Den letzten Mantel mache ich selbst». Ein Buch, das realitätsnah und übersichtlich über die Möglichkeiten und Grenzen von Palliative Care informiert. Entstanden ist es nach einer Ausstellung, die die drei, zusammen mit einer Arbeitsgruppe, zum selben Thema konzipiert hatten («Palliative Care – Leben bis zuletzt») und der ebenfalls eine längere Vorgeschichte vorausging. Aber nun der Reihe nach.

Über die Musiktherapie zu Palliative Care

Ausstellung und Buch sind nämlich nur zwei sichtbare Produkte aus ihrer Arbeit. Susan Porchet ist ausgebildete Musiktherapeutin und Erwachsenenbildnerin. Sie lebte in den 1970er- und 80er-Jahren in Kanada, wo 1976 ein erster Palliative Care Dienst in einem Universitätsspital in Montreal gegründet wurde. Sie arbeitete dort als die erste Musiktherapeutin. Dieser Dienst galt als Pionierprojekt, nach welchem sich viele weitere Projekte in Nordamerika und anderen Ländern orientierte. So eröffnete sich ihr ein Arbeitsfeld, in dem sie als Pionierin bald gefragt war.

Als sie 1985 im Alter von 47 Jahren in die Schweiz zurückkehrte, war für sie klar, dass sie weiterhin in Palliative Care tätig sein wollte. Nur gab es damals kaum Stellen in diesem Bereich – schon gar nicht für Musiktherapeutinnen. Dennoch fand sie rund ein Jahr später im Kantonsspital St. Gallen einen Ort, an welchem man offen für eine neue Therapieform war. «Ich wusste, dass ich hier meine Erfahrungen einbringen konnte. Die Arbeit in einer onkologischen Klinik, in welcher Patienten von der Diagnose an durch Behandlungen sowie allenfalls bis zum Tod begleitet wurden, war ein herausforderndes, jedoch auch dankbares Wirkungsfeld.» Sie brachte dort auch das Gedankengut von Palliative Care ein, was später zur Gründung einer Palliativabteilung führte. Sie sprach immer wieder an internationalen Kongressen über Musiktherapie in Palliative Care und konnte so schon damals damit beginnen, sich für Palliative Care einzusetzen. Zu jener Zeit gab es im Welschland erste Projekte und Porchet war überzeugt, dass man Palliative Care auch in der Deutschschweiz vorantreiben sollte.

Bloss: Lust dazu verspürte sie an sich wenig. «Ich hatte in Kanada mitgeholfen, die Musiktherapie in Palliative Care zu etablieren, den kanadischen Musiktherapie Fachverband mitzugründen und anderes mehr. Meine Kinder lachten jeweils und sagten, wir hätten Musiktherapie zum Nachtessen, weil zu Hause ständig das Telefon klingelte», erzählt Porchet. «Als ich dann in die Schweiz kam, war ich eigentlich froh, dass mich erst einmal niemand kannte. Ich mochte nicht gleich wieder Neues aufbauen. Es gab ja noch andere Leute!» Aber jedes Mal, wenn sie Dr. Reinhard Baumann, den langjährigen Heimarzt des Hospiz’ Zürcher Lighthouse, traf, sagte er: «Susanne, man muss etwas unternehmen, man muss wirklich etwas unternehmen!»

Vernetzen und informieren

1997 tat dies Baumann dann selber. Die englische Pionierin Cicely Saunders war in Zürich auf Besuch. «Wir kannten uns von früher und ich amtete während ihrem Besuch hier als ihre ‚Chauffeuse’ und ‚Übersetzerin’», so Porchet. «Cicely hielt an der Paulus-Akademie einen Vortrag und Reini Baumann verteilte im Anschluss an die Veranstaltung Fragebögen.» Er wollte wissen, ob die Leute daran interessiert waren, Palliative Care in Zürich auf die Beine zu helfen. Bald darauf wurden die Interessierten zu einem Treffen im Volkshaus eingeladen, um Nägel mit Köpfen zu machen. «Ich dachte: Jetzt hast du Reini immer gesagt, er solle doch selber etwas unternehmen; jetzt wo er es tut, musst du auch hingehen.» Porchet lacht bei dieser Erinnerung. «Am Ende dieses Treffens mit etwa 50 Leuten waren die Wände voller Zettel mit Wünschen und Ideen. Da war natürlich die Frage: Was machen wir jetzt? Und wir waren uns einig, dass es eine Spurgruppe brauche. Ja, und dann bin ich halt in dieser Gruppe gelandet.»

Diese Gruppe aus fünf Personen gründete später das Netzwerk Palliative Care Zürich/Schaffhausen. Die Vorarbeit bestand in vielen Diskussionen und intensiver Vernetzung. «Das war eine wahnsinnig spannende Zeit», sagt Porchet. «Wir mussten erst einmal herausfinden, wo wir überhaupt standen und was es brauchte.» Bald wurde klar: Die Leute auf der Strasse wussten nicht, was Palliative Care überhaupt ist. «An diesem Punkt mussten wir ansetzen. Also kam die Idee vom Netzwerk auf.» Dieses wurde bald darauf gegründet. Das war im Jahr 2000. Das Netzwerk ist inzwischen als Regionalsektion von palliative ch organisiert und heisst palliative zh+sh. «Im Kern ist es aber geblieben, was es war», findet Porchet. «Die Vernetzung ist notwendig und funktioniert.»

Palliative Care als integrierter Bereich im Gesundheitswesen

Der umfassende Durchbruch von Palliative Care ist laut Porchet bis jetzt noch nicht erreicht. «Natürlich ist der Begriff verbreiteter als früher», sagt sie. «Es gibt jetzt Kompetenzzentren, Strategien und gewisse Strukturen, die es vor zehn Jahren noch nicht gab. Aber in der Praxis erlebe ich immer noch Beispiele, die ich haarsträubend finde. Oft wird das Thema Palliative Care beispielsweise in der Onkologie noch zu wenig angesprochen. Und dies nach so vielen Jahren und nach so viel Information und dem Wissen, dass nicht alle Patienten geheilt werden können.»

Darum sei es nach wie vor wichtig, dass Betroffene und die Gesellschaft informiert würden. «Die Leute müssen nach Palliative Care explizit verlangen können, von alleine erhält man diese Betreuung nämlich noch längst nicht überall. Und um etwas verlangen zu können, muss man erst einmal davon wissen.» Die nach wie vor grösste Herausforderung sieht Porchet aber im Grundsätzlichen: «Freilich braucht es Konzepte, Evaluationen und so weiter. Unbedingt sogar! Aber es braucht auch Stimmen von anerkannten Fachpersonen in der Medizin, die Palliative Care einen wichtigen Platz im Gesundheitswesen einräumen. Dazu ist eine Haltungsänderung von ‚cure’ zu ‚care’ unumgänglich. Palliative Care fordert Begegnungsbereitschaft und Flexibilität.» Es brauche offene und bescheidene Menschen im Bereich Palliative Care, meint Porchet. Sorgen mache sie sich manchmal, wenn sie an all die vielen Studiengänge denke, die nun aus dem Boden schiessen. «Das ist ja an sich sehr gut. Man kann beispielsweise einen Master in Palliative Care machen. Ein grosser Fortschritt.» Das Unbehagen rührt woanders her: «Lassen zum Beispiel Master Studiengänge auch Zeit zur persönlichen Reflexion? Denn es braucht Zeit, eine eigene Haltung zu entwickeln, mit Bezug auf die oft komplexen Patientensituationen und ihre Wirkung auf eigene Befindlichkeiten. Die persönliche Haltung ist oftmals sehr entscheidend, am Krankenbett aber auch in der interdisziplinären Zusammenarbeit.»

Es braucht noch viel Arbeit

«Man muss immer wieder betonen, dass es darum geht, zu leben bis man stirbt, auch wenn man schwer krank ist. Es geht in Palliative Care nicht einfach ums Sterben, sondern ums Leben bis zuletzt. Das ist ja eigentlich ein alter Zopf, aber man muss das immer wieder sagen! Ich komme mir manchmal vor wie eine Grammophon-Platte.» Palliative Care, sagt Porchet, sei ja nicht einfach für sich alleine zu betrachten, sondern immer in Beziehung zur Gesellschaft, zur Medizin, zur Politik. Und da sei man zwar weiter als vor zehn Jahren, aber noch längst nicht am Ziel. «Was es wirklich immer noch braucht, sind Menschen mit der entsprechenden Grundhaltung und dem Mut, darüber zu sprechen. Wie schön wäre es, wenn einmal ein Spital verlauten liesse, man mache nicht nur Herzchirurgie, sondern auch Palliative Care! Aber mit Palliative Care kann man sich nur wenig hervortun.» Darum stehe und falle die Entwicklung eben mit den Menschen, die sich engagierten.

Dass die Entwicklung weiter geht, daran zweifelt Porchet aber nicht. «Heute kann ich mit einer gewissen Gelassenheit sagen: Es kommt schon gut, die Rädchen drehen weiter. Irgendwo gibt es immer wieder einmal jemand, der Sand ins Getriebe streut, dafür auch andere, die Öl liefern.» Plötzlich komme dann wieder ein Zeitpunkt, zu welchem man einen grossen Schritt vorwärts komme. «Es haben natürlich schon bis heute viele Leute an diesen Rädchen gedreht, damit wir soweit kommen konnten, wie wir heute sind. Da waren beispielsweise Eva Waldmann, Verena Stolba, Roland Kunz, Irène Bachmann, Hans Neuenschwander und ganz viele andere. Alles Fachpersonen, die heute wichtige Positionen in diesem Gebiet inne haben.» Porchet bleibt zuversichtlich und hofft, dass die Frage nach der Haltung nicht aus den Augen verloren geht. «Ich wünsche dem Netzwerk palliative zh+sh, dass es auch in Zukunft die menschliche Begegnungshaltung bewahren kann. Und dass weiterhin der Gedanke des Vernetzens und nicht des Konkurrenzierens im Mittelpunkt stehen wird.»
Text: Elena Ibello / Foto: Reto Klink, palliative zh+sh