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Medienschau März 2021

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Die Medienschau von palliative zh+sh gibt Einblick in die Berichterstattung zu Palliative Care und verwandten Themen des vergangenen Monats. (Bild: gme)

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Die Medienschau ist eine Momentaufnahme eines Ausschnittes der öffentlichen Diskussion zum Thema und bietet kurze Zusammenfassungen, zeigt Verknüpfungen auf und soll nicht zuletzt unterhalten und zur weiteren Lektüre der besprochenen Beiträge anregen. Wo vorhanden werden die Links zu den Beiträgen deshalb unter «Links zu den Beiträgen» aufgelistet.

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11. April 2021 / Medien
Hospize in der Schweiz - ein schwieriges Thema. Oft scheitert es an der Finanzierung, für die sich die Initiantinnen und Initianten meist auf private Spenden abstützen müssen. In Sachen Kinderhospiz scheint es immerhin vorwärtszugehen. Darüber berichteten die Medien im März. Neben bewegenden Lebens- und Sterbegeschichten und der Erkenntnis, dass Liebe und Freundschaft die schönsten Geschichten schreibt.
«Manchmal stehen mir selbst die Tränen zuvorderst.» Monica Fliedner, Co-Leiterin Palliative Care am Berner Inselspital, spricht in der Wochenzeitung «Berner Bär» über ihre Arbeit. Wer hierher komme wisse, dass er bald sterben müsse, doch es gehe um weit mehr als den Tod. Würde ist für sie ganz besonders wichtig, wenn es um das Sterben geht. Darunter versteht sie, den todkranken Menschen so zu unterstützen, wie er ist. Fliedner erzählt von einer jungen Frau, die wegen ihres Hirntumors kaum mehr ansprechbar ist. Man wisse aber, dass sie Musik möge, deshalb lasse man oft volkstümliche Musik in ihrem Zimmer abspielen. Im Wissen drum, dass sie Tiere gernhabe, komme auch der Therapiehund vorbei. Neulich habe sie ihre Hand, die sie sonst kaum mehr bewege, zum Hund hingestreckt. «Das ist für mich Würde – den Menschen und nicht die Krankheit sehen.» Ihre Aufgabe sei es, mit den Betroffenen einen Weg zu finden, um so gut wie möglich mit der Tatsache leben zu können, dass das Lebensende bevorsteht.

Nicht immer falle älteren Menschen das Sterben leichter als jungen Erkrankten. «Wenn ältere Leute von ihren Erlebnissen erzählen, wissen wir: Ja, diese Person hat gelebt. Gleichzeitig bin ich nicht selten sehr überrascht, wie reif 20-Jährige sein können. Wenn sie sagen: «Alles, was ich bis jetzt gemacht habe, habe ich genossen. Ich will zwar noch nicht gehen, aber ich muss.» Davor habe sie grössten Respekt. Dabei verursacht die Leidenszeit mit möglichen Symptomen, Abhängigkeit, Verlust der Selbstbestimmung oder auch sozialer Isolation meist mehr Angst als der Tod selbst. In den vergangenen neun Jahren, seit Monica Fliedner als Co-Leiterin Palliative Care am Inselspital tätig ist, stellt sie einige Veränderungen fest. Ärzte würden kaum mehr nur noch mit der Diagnoseliste eines Patienten kommen, sondern viel häufiger den Menschen ins Zentrum stellen. Doch sie bringt auch Kritik an: So fehle in Kanton Bern ein Langzeitbereich für Menschen mit komplexen Symptomen, die aber nicht spitalpflichtig sind. Als besonderes spirituell bezeichnet sich Fliedner nicht. Doch berühre sie jeder Todesfall. «Für gewisse Schicksale empfinde ich andererseits auch Bewunderung, im Sinne von: So möchte ich das ebenfalls mal meistern können.»


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Um einen Gedanken aus dem vorherigen Artikel aufzunehmen: Es fehlt in der Schweiz auch an Hospizen. Und wenn sich irgendwo eine Initiative stark macht, dann fehlt es ausgerechnet in unserem Land meist an den Finanzen. Das zeigte sich im vergangenen Monat an der Berichterstattung zum geplanten ersten Hospiz im Kanton Solothurn. Dem Verein Sterbehospiz Solothurn fehlen 350'000 Franken, um die Betriebsbewilligung vom Kanton zu erhalten. Wenn diese nicht erteilt wird, zieht sich die am Projekt beteiligte Kirchgemeinde Wasseramt vom Projekt zurück. Diese hat inzwischen ein Ultimatum gestellt, wie die «Solothurner Zeitung» berichtet (Artikel kostenpflichtig). Die Kirchgemeinde Wasseramt hatte im Dezember einen Kredit von 460’000 Franken bewilligt, um das leerstehende Derendinger Pfarrhaus in ein Sterbehospiz umzubauen. Allerdings nur, wenn eine Betriebsbewilligung vorliegt. Dafür verlangt der Kanton, dass die Finanzierung über drei Jahre gesichert sein muss. Der Verein muss dazu eine Million Franken aufbringen. Noch fehlen die besagten 350'000 Franken.

Doch ans Aufgeben denkt der Verein Sterbehospiz nicht, der sich aktuell allein durch Spenden von Stiftungen und Privatpersonen finanziert. Von Seiten öffentlicher Hand gibt es keine Unterstützung. Aufgeben komme denn auch nicht infrage, so Greusing: Die palliative Begleitung von betagten und schwer kranken Menschen gehöre zur Aufgabe der Politik, sagt Vereinspräsident Bruno Greusing. Es brauche einen Ort, wo sie würdevoll sterben könnten. Der Bund habe die Kantone 2016 diesbezüglich in die Pflicht genommen. Nun brauche es mutige Entscheide, um diese umzusetzen. Inzwischen haben sich die Verantwortlichen zu einer Aussprache getroffen. Die Bilanz dieses Treffens ist positiv. Zwar liegt die Betriebsbewilligung noch nicht vor, aber alle Beteiligten sind sich sicher, dass es klappen wird.

«Kinder haben keine Lobby und kranke Kinder noch viel weniger. «In unserer Gesellschaft ist der Tod von Kindern ein Tabu.» Susanne Peter, Präsidentin Verein allani Kinderhospiz

Auch den Verein allani Kindershospiz Bern kostete es fünf harte Jahre, bis sich nun ein geeignetes Objekt gefunden hat. Eröffnet werden soll der Ort für Kinder mit lebenslimitierenden Krankheiten im kommenden Jahr in einem Bauernhaus in Riedbach mit sechs bis acht Plätzen für Kinder mit ihren Angehörigen. Der Schwerpunkt liegt auf Entlastungsangeboten und einer tageweisen «Pflege-Kita» . Die Kinder werden nicht nur medizinisch und therapeutisch betreut, sondern erhalten auch Pädagogik und Spielangebote. Die Eltern bekommen Entlastung, um sich beispielsweise um die Geschwisterkinder zu kümmern.

Die Idee zu einem Kinderhospiz kamen der Pflegefachfrau Susanne Peter und der Kinderphysiotherapeutin Sarah Clausen vor fünf Jahren. Sie gründeten den Verein, indem sich Betroffene, aber auch Fachpersonen engagieren. In Riedbach, einer Gemeinde bei Bern, haben sie nun den idealen Platz gefunden, sagt Peter gegenüber dem «Berner Bär». «Es ist wunderschön hier, trotzdem ist man in 15 Minuten im Spital, hat ÖV- und Autobahnanschluss.» Das sei ihnen sehr wichtig gewesen. Sie werde immer wieder verwundert gefragt, warum es in der Schweiz bislang kein Hospiz für Kinder gebe. Gleich mehrere Gründe findet die Pflegefachfrau, die den Verein präsidiert: Die Finanzierung von Palliative Care sei nicht gesichert, zudem sei die Zielgruppe eines Kinderhospizes klein und werde immer zuletzt bedacht. «Kinder haben keine Lobby und kranke Kinder noch viel weniger», so Peter. «In unserer Gesellschaft ist der Tod von Kindern ein Tabu.»

Bevor der Verein die Suche nach einer geeigneten Immobilie in Angriff nahm, klärte er die Bedürfnisse der Betroffenen ab. Sie sei erstaunt gewesen, wie viel und welch weite Wege sie auf sich nehmen würden, nur um ihr Kind in dieser Situation an einem guten Ort zu wissen. «Wir können uns kaum vorstellen, wie gross die Belastung ist. Mit vielen Themen sind die Betroffenen allein.»


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Manchmal sind Kinder aber nicht selbst von einer Krankheit betroffen, sondern müssen eine lebenslimitierende Erkrankung und den Tod ihres Vaters oder ihrer Mutter verkraften. Im Interview mit dem Online-Magazin «Die Ostschweiz» erzählt Franziska von Grünigen über ihre Arbeit als Audiobiografin. Vor gut einem Jahr hat sie zusammen mit Gleichgesinnten den Verein Hörschatz gegründet, der Audiobiografien für sterbenskranke Eltern finanziert. Mit diesen sogenannten Hörschätzen können Eltern ihren Kindern Geschichten aus dem Leben, Erinnerungen und Liebeserklärungen hinterlassen. Ziel ist es, die Kinder damit in ihrer Trauer zu unterstützen. «Dabei sein zu dürfen, wenn ein Mensch am Lebensende für seine Kinder eine Ode ans Leben aufnimmt und mit ihm einzutauchen in diese unendliche Liebe, die spürbar wird, ist unglaublich berührend», erklärt die 42-jährige Radiofrau. Dass ihr in solchen Momenten die Tränen kämen, sei nichts, wofür sie sich schäme. «Es wäre sonderbar, wenn mich solche Erzählungen kalt lassen würden.» Prägend war für von Grünigen die Aufnahmen mit einer Mutter, die an Magenkrebs erkrankt war und für ihre beiden Kinder einen Hörschatz aufnahm. Danach sei diese erschöpft, aber sehr glücklich gewesen, berührt über die Fülle des eigenen Lebens. «Sie empfand es als Genugtuung, zu sehen, was sie alles erreicht und erlebt hatte in ihrem bisherigen Leben.» Aus der Palliative Care wisse man, dass Biografiearbeit am Ende des Lebens sehr sinnstiftend und versöhnlich wirke. «Im besten Fall hilft ein Hörschatz also nicht nur jenen, die zurückbleiben, sondern auch den Menschen, die uns verlassen.»


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Über sein Sterben sprach der an akuter Leukämie erkrankte Pfarrer Raphael Kronig Ende März mit der «Schweiz am Wochenende» (Artikel kostenpflichtig). «Ich habe Angst vor dem Sterben, aber nicht vor dem Tod», sagte der erst 38-Jährige. Er sei als Pfarrer schon oft mit dem Tod in Berührung gekommen, doch sei es nochmals anders, wenn es einen selbst betreffe. «Aber ich bin in die Situation hineingewachsen und musste mich schon vor drei Jahren darauf einstellen, dass meine Lebenserwartung sehr stark eingeschränkt ist.» Dass sich der Krebs nochmals verschärft habe und ihm noch weniger Zeit bleibe, habe er zwar nicht erwartet, sei aber auch nicht völlig überraschend gekommen. Warum sich so viele Menschen vor dem Tod fürchten, erklärt Kronig damit, dass der Tod früher stärker Teil des Lebens gewesen sei, man sei im Kreis der Familie gestorben. Heute delegiere man vieles an Fachleute, komme mit Krankheit, Leiden und Tod nicht zurecht, weil man diese Aspekte verdränge. Er fürchte den Moment des Sterbens, weil er nicht wisse, wie es geschehe. «Wird es ein Herzinfarkt sein? Ein Fieberinfekt? Werde ich ersticken? Der Tod an und für sich bereitet mir keine Sorgen. Ich weiss, dass ich von Gott geliebt und angenommen werde. Das gibt mir eine unglaubliche Freiheit.»

Die Frage nach dem Warum hat sich Kronig nach der Diagnose nie gestellt. Er sei überzeugt, dass er die Menschen nie so habe berühren können, wie durch seine Krankheit. Und mit einem Augenzwinkern erzählt er, dass es ihm in seinen vier Jahren als Vikar und danach als Pfarrer nicht geglückt sei, auch nur annähernd so viele Menschen zum Beten zu bringen wie in den vier Monaten auf der Isolierstation im Inselspital und im Unispital Basel. «Dabei habe ich mir in der Pfarrei doch alle Mühe gegeben.» Am Ostersonntag kam die Nachricht, dass Raphael Kronig verstorben ist.

«Gegenwärtig bestimmt das Uniforme und Medizinische den letzten Lebensraum. Wir liegen in gleichförmigen Patientenhemden in funktionalen Pflegebetten.» Bitten Stetter, Designerin

Eigentlich ist Bitten Stetter Modedesignerin. Als sie ihre Mutter am Lebensende begleitete, realisierte sie «auf schmerzhafte Art», welchen Einfluss Dinge und Objekte auf unser Wohbefinden haben. Inzwischen forscht die an der Zürcher Hochschule der Künste tätige Professorin zur Verbindung von Design und Lebensende und entwickelt entsprechende Produkte. «Viele Dinge sind nicht auf die Bedürfnisse schwerkranker Patienten ausgerichtet», sagt Bitten Stetter im Interview mit dem «Bund» (Artikel kostenpflichtig). Für sie ist Ästhetik kein überflüssiges Zitat, sondern ein grundlegendes Mittel der Kommunikation. Auch das Sterben sei eine gestaltbare Phase. «Gegenwärtig bestimmt das Uniforme und Medizinische den letzten Lebensraum. Wir liegen in gleichförmigen Patientenhemden in funktionalen Pflegebetten.» Design könne helfen, das Sterben als Teil des Lebens zu begreifen. Durch das bewusste Gestalten werde es greifbarer und somit weniger beängstigend.

In ihrer Feldforschung fiel ihr auf, wie Pflegende Dinge umfunktionieren, die eigentlich für pflegerische Zwecke gestaltet wurden, ihren Zweck in palliativen Settings jedoch nicht erfüllen. So verliert beispielsweise der Nachttisch seine eigentliche Funktion und dient nicht mehr den Patientinnen, sondern nützt nur noch anderen. Ebenso der Bettaufrichter, der dem geschwächten Patienten vor der Nase hängt und signalisiert: Du bist zu schwach, um mich zu greifen. Mittlerweile hat Stetter beispielsweise Pflegehemden designt, die zwar nahe an den klassischen Vorgaben sind, sich in Material und Ästhetik jedoch unterscheiden. Statt Plastikschnabeltassen hat sie aus alten Beständen solche aus Porzellan gekauft. Den Patientinnen und Angehörigen gibt sie Porzellanmalstifte dazu, um sie individuell gestalten zu können. Auch Geschirrsets mit kleinen Tellern, die dem Essverhalten von Menschen am Lebensende entsprechen, sind entstanden.

Im Stadtspital Waid in Zürich gestaltet Bitten Stetter den Raum der Stille zu einem Ort des Tuns und des Austausches um. Ein Teil ihrer Arbeit basiere auf Co-Design, wie sie erklärt. «Denn nur wenn wir Fachpersonen frühzeitig einbinden, können wir gegenseitig voneinander lernen. So fliessen unsere Ideen gegenseitig in die alltägliche Praxis ein.» Sie stellt fest, dass im Zuge der Digitalisierung viele Produktideen entstehen, die aber insbesondere der Planbarkeit des Todes und der Gesundheitsoptimierung dienen. Ihre Designideen stellen in erster Linie den Menschen ins Zentrum. Dass die Finanzierung individuellen Sterbens schwierig sei, ist der Designerin bewusst. Sie will aber dennoch für die «Wirkungskraft der Dinge» sensibilisieren. Zudem könne man nur selbst aktiv werden, wenn man wisse, was es am Lebensende brauche. So wie man wisse, was Babys am Lebensanfang benötigten.


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Bislang war der Bedarf an unterstützender Behandlung gleich nach einer Diagnose von unheilbarem Krebs und während des Krankheitsverlaufs kaum erforscht. Nun wurden erstmals in Deutschland unheilbar erkrankte Krebspatienten ab dem Zeitpunkt ihrer Diagnose systematisch nach ihrem palliativmedizinischen Behandlungsbedarf befragt und während eines Jahres begleitet. Befragt wurden dazu 500 Patientinnen und Patienten zwischen 25 und 89 Jahren. Die Beobachtungen an 20 Behandlungszentren in ganz Deutschland zeigen, dass die Betroffenen von Beginn an körperlich sowie seelisch stark belastet sind und palliativmedizinische Unterstützung benötigen. Die Studie, geleitet aus dem Universitären Krebszentrum Leipzig, ist nun in der renommierten Fachzeitschrift «The Oncologist» veröffentlicht worden, wie der «Informationsdienst Wissenschaft» berichtet. Es bestehe eine dringende Notwendigkeit für einen frühen Zugang zu unterstützender palliativmedizinischer Versorgung der Betroffenen in vielen Belangen, einschließlich psychosozialer Hilfe, kommen die Expertinnen und Experten des Netzwerks «Arbeitsgemeinschaft Palliativmedizin» der Deutschen Krebsgesellschaft zum Schluss.

Zwei Drittel der Patienten berichteten gleich nach Diagnosestellung über einen sofortigen, erheblichen körperlichen und seelischen Leidensdruck. Zudem zeigten die Erkrankten ein hohes Interesse an der Befragung. Das habe gezeigt, dass ihnen das Thema sehr wichtig sei, obwohl sie sich in einer schwierigen Lage befanden und viel Persönliches preisgeben mussten. Mehr als ein Drittel berichtete von Angst und Depressivität kurz nach der Diagnose. Sehr stark geprägt waren die Beschwerden auch von Energiemangel, Ernährungs- und Verdauungsproblemen sowie Schmerzen. Aus den Studienergebnissen liessen sich klare Folgerungen für die Praxis ableiten, fasst der Studienleiter zusammen: An Krebszentren muss es kompetente palliativmedizinische Angebote sowohl stationärer als auch ambulanter Art geben, mit spezialisierter Ernährungsberatung, Schmerzbehandlung sowie Physiotherapie und psycho-soziale Unterstützung. Die Ergebnisse unterstrichen die Notwendigkeit, ein flächendeckendes Symptom-Screening sowie frühpalliative medizinische Versorgung einzuführen.


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Manchmal zeigt sich das Schöne in den tieftraurigen Geschichten ganz besonders ausgeprägt, wie in dieser speziellen Geschichte zum Schluss. Sarah ist eine aktive und sportliche junge Frau, als sie mit 24 die todbringende Diagnose Amyotrophe Lateralsklerose erhält. Vier Jahre später hat ihr diese degenerative Erkrankung des motorischen Nervensystems schon beinahe alles genommen, die Kräfte schwinden zunehmend. Etwas hat sich Sarah erhalten können: die Fähigkeit, sich mit Worten ausdrücken zu können. Das gelingt ihr mittels Sprachcomputer, den sie mit den Bewegungen ihrer Pupillen bedient. So «trommelt» sie, einst begeisterte Bergsteigerin, im Frühjahr per SMS ihre Freunde und Lebenswegbegleiterinnen zusammen: «Ich bin zwar nicht mehr in einer Verfassung, in der es eine gute Idee ist, abenteuerlich zu sein. Aber man muss anmerken, dass das bei mir schon lange keine gute Idee mehr ist. Hier die Hardfacts: Grosser Traum. Peitlerkofel von der Schatzerhütte aus.» Dazu muss man wissen, dass der im Südtirol gelegene Peitlerkofel 2874 Meter hoch ist. Seilbahn? Fehlanzeige.

Also kommen ihre Liebsten zusammen für ein grosses, anstrengendes Abenteuer, beschreibt der Artikel im «Tages Anzeiger» (Artikel kostenpflichtig) diesen Freundschaftsdienst, der alle mehr als an der Rand ihrer Kräfte brachte. 80 Kilogramm galt es zu bewegen. Sarah in einer spezialangefertigten Trage aus Sänfte und Rollstuhl mit Sonnendach. Dazu ein Erste-Hilfe-Koffer, Wasser. Das Rad an der Unterseite, das so viel einfacher gemacht hätte, ist auf den steilen, steinigen Wanderwegen nicht zu gebrauchen. Die Tour von der Schatzerhütte auf den Peitlerkofel umfasst tausend Höhenmeter Auf- und Abstieg und eine Strecke von 16 Kilometern. «Selbst unter ambitionierten Berggehern gilt das als eine anspruchsvolle Tour. Für uns glich dieses Manöver einem alpinen Vierkampf: Schieben, heben, tragen, stemmen, ohne im steilen Gelände die Nerven und das Gleichgewicht zu verlieren», beschreiben Sarahs Freunde das Unterfangen.

Ein Spähtrupp ging voraus, um den Weg und potenzielle Gefahren zu erkunden. Ein Umkippen an steilen Hängen oder beim Überqueren von Bächen musste um jeden Preis vermieden werden. Dann folgte die Karawane. Jede Viertelstunde wechselten die Träger. Die anderen schleppten Wasser und Rucksäcke. Es verlangte allen alles ab. Für Sarah war die Unternehmung am anstrengendsten. Denn ihre degenerierten Muskeln ertrugen auch die kleinste Erschütterung nur unter starken Schmerzen. Doch sie lächelte und gab mit den Augen das Zeichen, weiterzumachen. Oben angekommen hatte sich Sarah gewünscht, in den «Himmel gehoben zu werden», wie sie später ihren Freundinnen und Freunden schrieb. «Mein grösstes Abenteuer haben wir gemeinsam erlebt und gelebt.» 12 Stunden dauerten Auf- und Abstieg, Schultern wurden zu Brei, doch Aufgeben sei nie eine Option gewesen. «Die Karawane hatte den stärksten Motor, den es geben kann: Freundschaft.» Sarah ist Mitte März verstorben, ihre letzte Ruhestätte steht in der ersten Reihe, mit Blick auf die Berge.
palliative zh+sh, Gabriela Meissner