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Gelungene Fachtagung 2022

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16. Juni 2022
Die Fachtagung 2022 von palliative zh+sh fand im Zeichen von Palliative Care für vulnerable Gruppen statt. Dabei stand im ersten Teil die Arbeit für Kinder und Jugendliche im Fokus, im zweiten Teil ging es um Menschen, die am Rande unserer Gesellschaft leben.
«Sind nicht alle Menschen am Lebensende vulnerable Menschen?», fragte Prof. Dr. David Blum, Chefarzt am Kompetenzzentrum Palliative Care USZ und Stadtspital Zürich, nachdem Stephanie Züllig, Geschäftsleiterin von palliative zh+sh, die rund 70 Tagungsteilnehmerinnen und Teilnehmer begrüsst hatte. Ja, vulnerabel seien sie alle, meinte David Blum, aber es gebe Menschen, die besonders verletzlich seien. Per medizinischer Definition sind dies: Kinder und Jugendliche, Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung, psychisch Erkrankte, Chronischkranke sowie Menschen mit sehr seltenen Krankheiten. Und dann gibt es Menschen, die aufgrund von sozialen Merkmalen benachteiligt sind: Personen mit unklarem Aufenthaltsstatus, solche mit fehlenden Sprachkenntnissen, Gefangene und Obdachlose.

Vom Ungeborenen bis zum jungen Erwachsenen

Über die Etappen der Palliative Care bei Kindern berichteten die drei Referentinnen vom Universitäts-Kinderspital Zürich. PD Dr. med. Eva Bergsträsser, Dr. med. Deborah Gubler sowie die Pflegeexpertin Judith Wieland gaben den Zuhörern einen Einblick in ihren Alltag und vermittelten Wissen in einem Bereich, der oftmals wenig Beachtung erfährt. Denn bei Palliative Care denken die meisten an alte, kranke Menschen, die im Sterben liegen. Doch aufgrund medizinischer Fortschritte und hochstehender Gesundheitsversorgung wird die Gruppe der pädiatrischen Patientinnen und Patienten zunehmend grösser. In der Schweiz sterben im Jahr 450 bis 500 Kinder, 8’000 bis 10’000 Kinder leiden an lebenslimitierenden Krankheiten und haben einen palliativen Betreuungsbedarf. Diese Kinder leben zum Teil über viele Jahre, manche werden erwachsen. Doch die bestehenden Strukturen und Ressourcen in der Palliative Care reichen bei weitem nicht aus, um einen Grossteil dieser Kinder zu betreuen, wie Eva Bergsträsser in ihrem Referat sagte. Es fehlen Fachpersonen – vor allem Ärztinnen – mit spezifischen Kenntnissen und Interesse an Pädiatrischer Palliative Care. Und dann ist da auch noch die drängende Frage nach der Finanzierung, sie ist weiterhin ungelöst. Konkrete Visionen haben Bergsträsser und ihr Team natürlich dennoch: Palliative Care soll nicht nur in den Universitäts- und wenigen Zentrumsspitälern angeboten werden, sondern es soll eine übergeordnete, vernetzte Angebotsstruktur geschaffen werden, mit welcher Referenzzentren in der ganzen Schweiz betrieben werden können.

Nur wenige Lebenstage

Im Kinderspital Zürich werden aktuell ca. 170 Kinder im Jahr palliativ mitbetreut. Eine Fachperson, welche sich den Jüngsten widmet, ist Deborah Gubler. Der Bedarf an Perinataler Palliative Care ist in den letzten Jahren massiv gestiegen. Deborah Gubler berichtete von einem Kind mit Hypoplastischem Linksherzsyndrom. Im ersten Drittel der Schwangerschaft war alles normal, doch in der 27. Schwangerschaftswoche wurde festgestellt, dass etwas nicht stimmte, kurz darauf wurde ein schwerer Herzfehler diagnostiziert. Die Eltern entschieden sich, dem Kind eine Chance zu geben und die Schwangerschaft nicht abzubrechen. Stattdessen nahmen Sie das Angebot des Kispi-Teams in Anspruch und liessen sich palliativ begleiten. In der 37. Woche kam ihr Sohn auf die Welt. Der Herzfehler war schwer. Am ersten Lebenstag blieb die Familie im Spital, doch die Eltern wünschten sich sehr, ihren Sohn nach Hause nehmen zu dürfen. So trat die Mama mit ihrem Neugeborenen an dessen zweiten Lebenstag aus. Am dritten Lebenstag ist der kleine Junge friedlich zu Hause im Beisein seiner Eltern verstorben.

Anhand diesem und weiteren Fallbeispielen für Palliative Care beim Neugeborenen, bei Kindern und Jugendlichen bis hin zum jungen Erwachsenen zeigte das Kispi-Team, welch verschiedenartige Herausforderungen auf die Betreuenden der Pädiatrischen Palliative Care warten. Die Fachpersonen arbeiten konsiliarisch, also nicht auf einer eigenen Palliativstation, sondern auf der jeweiligen Abteilung, wo die kleinen Patientinnen behandelt und betreut werden. Dabei ist die Kooperation zwischen den einzelnen medizinischen Disziplinen von zentraler Bedeutung. Und der Einbezug der Eltern. «Es braucht die Balance von Familie und Fachpersonen», sagte Pflegeexpertin Judith Wieland. «Es ist ganz wichtig, dass sich alle auf Augenhöhe begegnen.»

Menschen am Rande der Gesellschaft

Nach einer Pause, in welcher rege diskutiert und Erfahrungen ausgetauscht wurden, folgte das Referat zu Menschen, welche am Rande unserer Gesellschaft leben. Vertreter des stadtärztlichen Dienstes des Ambulatoriums Kanonengasse sowie vom Fachspital Sune-Egge des Sozialwerks Pfarrer Sieber liessen die Tagungsgäste an ihren Erfahrungen teilhaben. Denn Palliative Care gehört zur Suchtmedizin, sind doch viele der Klientinnen und Klienten chronisch krank und haben suchtbedingt eine beschränkte Lebenserwartung. Als Antwort auf die unhaltbaren Zustände der späten 80er-Jahre und die Drogenszene rund um Platzspitz und Letten gründete Pfarrer Ernst Sieber den Sune-Egge. Was als Notlager in einer Garage an der Konradstrasse begann, ist inzwischen ein Fachspital geworden, das auf der Zürcher Spitalliste steht. Die Fachpersonen orientieren sich bei ihrer Arbeit an der Nationalen Strategie Sucht. Eines ihrer Ziele ist es, die niederschwellige Hilfe für Suchtkranke zu fördern und die negativen Auswirkungen von Suchtverhalten zu verringern, wie Dr. med. Romana Koppensteiner vom Stadtärztlichen Dienst erklärte. Und hier setzen die beiden Institutionen Ambulatorium Kanonengasse und Sune-Egge an: Die Schadensminderung steht im Zentrum – nicht die Sucht selbst. Den abhängigen Menschen soll bei ihrem aktuellen Suchtverhalten ein möglichst beschwerdefreies und selbstbestimmtes Leben ermöglicht werden. Zudem sollen die Risiken gewisser Konsum- und Verhaltensweisen gemindert werden. «Wir machen unseren Klienten minimale Auflagen», sagte med. prakt. Roberto Pirrotta vom Ambulatorium. «Wir stecken individuelle Ziele, die nicht primär abstinenzorientiert sind.»

Palliative und weniger kurative Betreuung

Im Sune-Egge der Sozialwerke Pfarrer Sieber zählt man pro Jahr rund 200 stationäre Eintritte. Dabei zeigt sich ein breites Spektrum an Erkrankungen. Zuweisende sind unter anderem Akutspitäler, psychiatrische Kliniken, Suchtinstitutionen oder das eigene Ambulatorium. «Ich bezeichne unsere Arbeit als Expedition», sagte Stefan Bucher, Leiter Sozialdienst. «Es gibt keinen markierten Weg – der Weg ergibt sich, indem wir ihn gehen.» Dabei seien Intuition und Wahrnehmung besonders wichtig. Betreuer und Klienten seien «gemeinsam am Rand des Lebens unterwegs». Damit diese Reise gelingt, braucht es eine interprofessionelle Begleitung, die sowohl im Sune-Egge als auch an der Kanonengasse zentral sind. Diese Begleitung von Suchtkranken hat sich in den letzten 20 Jahren stark verändert: War im Jahr 2000 Palliative Care kaum ein Thema und stand allein die kurative und rehabilitative Versorgung im Vordergrund, werden heute die Klientinnen und Klienten auch palliativ begleitet. So auch eine 47-jährigen Frau, welche ein chronisches Abhängigkeitssyndrom zeigte und unter anderem Kokain, Ritalin, Opiate und Benzodiazepine konsumierte, wie Dr. med. Karim Tissira berichtete. Im Jahr 2020 erlitt sie eine schwere Mitralklappen-Endokarditis, welche operativ behandelt und antibiotisch therapiert wurde. Im Mai 2021 wurde eine Mitral-Bioklappen-Endokarditis vom Herzchirurgen als nicht-operabel beurteilt. Die Frau zeigte sich trotz wiederholten Krisen dankbar und liebenswürdig und wurde vom Personal sowie den Mitpatienten im Sune-Egge sehr geschätzt. Häufig vermittelte sie bei Konflikten unter den Mitpatienten. Doch ihr Substanzkonsum blieb anhaltend, alle Gespräche und das Filzen nach geschmuggelter Ware halfen nichts. Schliesslich waren es intensive palliative Massnahmen, welche greifen konnten. Die Patientin wurde stabil und hatte eine ordentliche Lebensqualität. Sie nahm sogar an Studentenkursen teil und erzählte aus ihrem Leben. Dies hätte sie auch an der Fachtagung 2022 von palliative zh+sh tun wollen. Doch am 3. März ist die Frau nach einer kardialen Dekompensation verstorben.

Podiumsdiskussion als Abschluss

Zum Abschluss der Fachtagung fand eine Podiumsdiskussion statt. Unter der Leitung von Moderatorin Elena Ibello tauschten sich Eva Bergsträsser, David Blum, Stefan Bucher und Mohannad Abou Shoak (Dr. med., ärztlicher Leiter am Fachspital Sune-Egge) über ihre Erfahrungen aus. Dabei kam zur Sprache, dass Palliativmediziner und ihre Arbeit von den Kollegen anderer Fachdisziplinen noch immer oft belächelt werden. «Es ist wichtig, dass wir vermitteln, dass Palliative Care schon End-of-Life-Care ist, aber eben nicht nur», sagte David Blum. «Man muss auch sagen, dass die ganze nationale Strategie von End-of-Life-Care spricht», sagte Eva Bergsträsser. «In allen Papieren geht es nur ums Sterben.» In der Suchtmedizin sei in erster Linie das Problem, dass viele Leute das Konzept der Schadensminderung nicht verstanden hätten, sagte Mohannad Abou Shoak. Dank diesem könne man sich aber auf Behandlungen einlassen und mit dem Patienten Ziele vereinbaren, die schliesslich für Patienten und Betreuer eine bessere Lösung seien als der Entzug.

Nach einigen Fragen aus dem Publikum neigte sich die Tagung dem Ende zu. Mit einem Apero, bei dem sich die Fachleute und Interessierten austauschen und vernetzen konnten, schloss die Veranstaltung. Diese ist bei den Gästen sehr gut angekommen und wird in den Sozialen Medien gelobt. «Das war gerade für mich als Nicht-Pall-Care-Fachperson ein sehr interessanter Einblick in dieses Gebiet. Grösster Respekt vor dieser Arbeit für vulnerable Menschen!», schreibt T.S. auf Linkdin. M.L. freut sich: «Es war eine grossartige Tagung. Sehr beeindruckend, die Einblicke in die tägliche Arbeit der geladenen Referenten.» Und M.T schreibt: «Danke für den sehr informativen Anlass und die Gelegenheit zum Netzwerken!»
palliative zh+sh / Bettina Weissenbrunner