Im Büro von Palliaviva in Zürich-Oerlikon bereitet sich Jeannette Eggimann auf ihren Einsatz vor. Die 52-jährige Pflegefachfrau hat heute Dienst im Zürcher Unterland. Sie bespricht sich mit dem stellvertretenden Geschäftsleiter Olaf Schulz. Frau T. braucht Morphin, ihr fällt das Schlucken schwer. Frau G. hat einen neuen Notfallplan, der mitgebracht werden muss. Und die Unterlagen fürs Erstgespräch mit dem Ehepaar R. liegen auch bereit. Der Koffer ist gepackt, die Tasche bereit. Und ein Tupperware mit Gurken und Rüebli – als Notvorrat. Wer weiss, ob die Palliaviva-Mitarbeiterin heute Zeit für ein Mittagessen hat.
***
Wir sind unterwegs zu Frau T. Ihr Mann erwartet uns an der Tür und ist offensichtlich froh, dass Palliaviva hier ist. Im Zimmer im ersten Stock liegt seine 62-jährige Frau im Pflegebett und begrüsst die Besucherinnen mit schwacher Stimme. Wie geht es ihr heute? Das Schlucken ist schwierig. Frau T. bringt keinen Bissen herunter. Isostar und Ovi trinkt sie ab und zu ein paar Schlucke. Das Ehepaar informiert sich bei der Pflegefachfrau über künstliche Ernährung. Diese wäre eine Möglichkeit, muss aber mit dem Arzt besprochen und von ihm verschrieben werden. Herr T. hört aufmerksam zu und macht sich Notizen: Beutel mit der künstlichen Ernährung sollen nach Hause geliefert werden, ebenso die Geräte dazu. Es geht um die Energieerhaltung. Frau T. wird immer schwächer, auch jetzt fallen ihr die Augen zu. Leise murmelt sie: „Er macht so viel …“ – und meint ihren umsorgenden Ehemann. Jeannette Eggimann hört den schmerzenden Bauch der Patientin ab. Er blubbert, was an sich kein schlechtes Zeichen ist, wie sie sagt. Und wie verläuft der Alltag des Ehepaars? Mit der Spitex, die einmal im Tag für die Körperpflege kommt, gehe es recht gut, meint Herr T. Er wirkt aber ebenfalls müde und sehr belastet, gleichzeitig strahlt er in einer liebevolle Art Sicherheit aus, die auf seine Frau beruhigend wirkt. Wäre Freiwilligenhilfe etwas? „Sie brauchen auch mal eine Auszeit, Herr T.“, sagt Jeannette Eggimann. Sie wird das organisieren, ebenfalls ein Krankentischli für ans Bett. Nach etwas mehr als einer Stunde verabschieden wir uns. An der Tür bedankt sich Herr T. „Geht es wirklich noch für sie?“, fragt die Pflegefachfrau. Herr T. nickt.
***
Vor 34 Jahren wurde Palliaviva – damals noch unter dem Namen Stiftung Pflegedienst für Krebspatienten - von zwei Frauen gegründet. Den Schwerkranken möglichst gute Pflege und Betreuung im eigenen Zuhause zu ermöglichen, war damals eine Pioniertat. Was die beiden Frauen ins Leben riefen, ist heute eine Organisation, die in 128 Zürcher Gemeinden tätig ist. 14 Pflegefachpersonen betreuten im vergangenen Jahr 745 Patientinnen und Patienten. Die pflegerischen Leistungen bezahlen die Krankenkassen, einen weiteren Kostenanteil übernehmen die Gemeinden. Mit diesen hat Palliaviva eine Leistungsvereinbarung abgeschlossen. Aber auch mit diesen Beiträgen und der Patientenbeteiligung von 7.65 pro Tag sind die Kosten meist nicht gedeckt. Deshalb ist die Stiftung auf Spenden angewiesen. Der spezialisierte mobile Palliative-Care-Dienst betreut Menschen mit einer fortgeschrittenen unheilbaren Erkrankung. Es geht dabei nicht nur um die physische Behandlung, sondern auch um soziale, psychologische und spirituelle Unterstützung. Ein grosses Augenmerk legen die Pflegenden auf die Bedürfnisse der Angehörigen: Sie sind einer der wichtigsten Teile im palliativen Betreuungsnetz. Denn Palliaviva ist nicht die einzige Unterstützung, die die Betroffenen benötigen. Es ist eine Zusammenarbeit von Hausärzten, Spezialisten (oft Onkologen), der Spitex und Fachleuten wie Physiotherapeuten, Psychologen oder Ernährungsberatern. Auch Komplementärmedizin kann ein Teil der ganzheitlichen Betreuung sein.
***
Kurz vor Mittag in einer anderen Gemeinde. Palliaviva kommt zum Erstgespräch mit dem Ehepaar R. Etwas widerwillig lässt die Frau uns ins Haus. Eigentlich hat sie keine Lust auf den Besuch. Sie ist entschlossen, allein für ihren Mann zu sorgen. Der Rentner sitzt schweigend im Rollstuhl am Esszimmertisch und scheint völlig abwesend. „Er will nicht mehr“, sagt Frau R. „Er isst und trinkt nicht und nimmt auch keine Medikamente ein.“ Herr R. sieht schwach aus, auf Fragen antwortet seine Frau. Er murmelt ab und zu etwas. Frau R. wischt sich eine Träne weg. „Ich bin am Anschlag, aber weggeben werde ich ihn sicher nicht. Ich habe ihm das versprochen!“ Wie könnte man sie entlasten? „Ihn ins Bett bringen und wieder heraus. Das ist schwierig, er ist halt schwer.“ Jeannette Eggimann verspricht, Kontakt mit der Spitex aufzunehmen. Diese soll helfen, den Mann am Abend ins Bett zu bringen, und vielleicht auch Entlastung am Tag möglich machen. Ausserdem erklärt sie Frau R., dass Palliaviva rund um die Uhr erreichbar ist und einen Notfallplan erstellen werde, der genaue Informationen darüber enthält, was wann gemacht werden kann. Das scheint der Frau nun doch unterstützend. Nach dem Gespräch hilft Jeannette Eggimann, Herrn R. ins Bett zu bringen. Er wird einen Mittagsschlaf machen.
Nun geht es weiter in die nächste Gemeinde, mit Mittagessen wird nichts, die Gürkli und Rüebli werden im Auto gegessen. Dann sind wir bei Frau G. Ihr Mann führt uns ins modern eingerichtete Wohnzimmer, wo seine Frau in einem Krankenbett liegt. Etwas über 60 Jahre alt ist sie, abgemagert und bleich. Sie hat Schmerzen und das Atmen fällt ihr schwer. Wasser staut sich in ihrem Bauchraum und drückt auf die Lunge, weshalb ihr ein kleiner Schlauch eingesetzt worden ist. Die Pflegefachfrau breitet ihr Material auf einem sterilen Tuch aus. Sorgfältig dreht sie den Verschluss des Schläuchleins auf und lässt fast einen halben Liter Bauchwasser in ein Gefäss ab. Während dieser Prozedur klingelt das Notfalltelefon. Jeannette Eggimann unterbricht kurz ihre Handlung und nimmt den Anruf einer verzweifelten Frau entgegen. Ihr Mann muss dringend in Spitalpflege. Er hat sehr starke Schmerzen. „Ich werde nach einem Platz suchen und die Ambulanz aufbieten“, verspricht die Fachfrau. Zuerst aber bei Frau G., die völlig erschöpft ist, den Abfluss entfernen und die Wunde neu verbinden. Nun geht das Atmen leichter, die Patientin fühlt sich etwas besser. Zweimal die Woche soll die Spitex diese Anwendung künftig machen. Jeannette Eggimann wird das in die Wege leiten.
***
Im Auto telefoniert sie mit Kollege Olaf Schulz in Zürich, um nähere Auskünfte zum Patienten zu erhalten, dessen Frau aufs Notfalltelefon angerufen hat. Man einigt sich, dass die Palliativstation in Männedorf im Moment der beste Ort für ihn wäre. Also ruft die Pflegefachfrau ins Spital Männedorf an und fragt nach einem Platz auf der Palliativstation. Sie haben ein Bett in einem Zweierzimmer frei. Nun Telefon 144 an die Ambulanz und alle Daten angeben. Die Ambulanz wird den Mann so bald wie möglich abholen. Diese Nachricht gibt Jeannette Eggimann sogleich an die Ehefrau weiter, die erleichtert scheint und wieder ruhiger spricht.
Tief durchatmen, dann ein längeres Telefongespräch mit der örtlichen Spitex von Herrn R. Die Frauen besprechen den Fall eingehend und beschliessen, dass die Spitex dreimal täglich nach dem Rentnerpaar schauen wird. Auch jene Spitexstelle, die für Familie G. zuständig ist, erreicht Jeannette Eggimann. Können diese das Ablassen der Bauchflüssigkeit zweimal die Woche übernehmen? Der Spitex-Mitarbeiter ist sich unsicher, und so schlägt die Palliaviva-Mitarbeiterin ein Treffen vor Ort vor, bei welchem sie ihm zeigen wird, wie dies genau gemacht werden muss.
Was auffällt: Ambulante Palliative Care ist Teamarbeit. Im heutigen Einsatz waren zahlreiche Absprachen nötig, damit die Patientinnen und Patienten bestmöglich versorgt werden. Absprachen mit den Kolleginnen und Kollegen im Büro in Zürich, intensiven Austausch mit den Patientinnen und Patienten sowie deren Angehörigen, Fachgespräche mit Spitex, Spital und Einsatzkräften von Notfall 144. Es ist später Nachmittag und man spürt, diese Einsätze brauchen Energie. Und doch ist der Arbeitstag von Jeannette Eggimann noch lange nicht fertig. Zurück im Büro wird sie die drei Berichte zu den heutigen Einsätzen schreiben, was nochmal Zeit in Anspruch nimmt. Dann erst wird sie die Unterlagen für den nächsten Tag bereitlegen.