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Die feine Art zu essen – trotz Schluckbeschwerden

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Nicht einfach Joghurt und Brei: Rolf Caviezel hat ein Kochbuch geschrieben mit Rezepten für Menschen mit Dysphagie, wie zum Beispiel viele Palliativpatienten. (Fotos: André Scheidegger und DigitaleMassarbeit)

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25. Mai 2023 / Wissen
Spitzenkoch Rolf Caviezel arbeitete in Nobelhotels wie dem Zürcher Grandhotel Dolder oder dem Suvretta House in St. Moritz. Er ist Autor diverser Kochbücher, leitet den Küchenbetrieb eines Altersheims, sein «Foodlab» in Grenchen erscheint im Guide bleu und der Experimentierkoch gibt immer wieder Kurse. Und seit einiger Zeit widmet er sich der Palliativ-Küche.
Ein Glacé mit Spargel- oder Blumenkohl-Aroma? Entkernte Erdbeeren, die im Mund von selbst zergehen? Weichste Spagetti Carbonara aus der Vermicellepresse? Gurken-Melonen-Salat als Flan oder im Spray? Alles möglich. Der Fantasie sind kaum Grenzen gesetzt, wie das neue Kochbuch «Movefood – die feine Art zu essen trotz Schluckbeschwerden» von Rolf Caviezel zeigt.

Aber wie kommt man auf solche Kreationen und Rezept-Ideen? Er habe sich auf die verschiedensten Arten mit dem Thema Essen beschäftigt, sagt der Experimentierkoch. Und da begegnete er auch dem Problem Dysphagie, den Schluckbeschwerden. Bald merkte er, dass diese Beschwerden viele alte Menschen betreffen, aber auch Schwerstkranke jeglichen Alters. «Ich habe mich gefragt, was ich machen würde, wenn ich ein Palliativpatient mit Schluckbeschwerden wäre? Vielleicht hätte ich Lust auf ein Steak? Was dann?» In der medizinischen Ausbildung spreche man viel von Pflege, von künstlicher Ernährung und Mundhygiene bei Sterbenden. «Aber vom Essen redet kaum jemand. Dabei wäre es wichtig zu wissen, was man für die einzelne Patientin tun kann, damit sie kulinarischen Genuss erleben kann.» Besonders schwierig sei das Leiden bei Menschen, die eine PEG-Sonde hätten. Viele würden sich nach einem Geschmack im Mund sehnen oder nach Duft in der Nase. Aber da liege nur ein Schwämmli auf dem Nachttisch, um den Mundraum mit Wasser zu befeuchten. «Ich betreute einmal einen Mann, der Kaffee über alles liebte. Er konnte ihn aber nicht mehr trinken.» Also spritzte Caviezel Kaffee auf ein Filterpapier, hielt es dem Patienten an die Nase und dieser konnte das Kaffeearoma inhalieren, während der Koch mit einer Tasse «richtigem» Kaffee bei ihm sass. Zusammen «käfele» - am Lebensende. «Das war für den Mann ein wirklicher Glücksmoment!». Oder eine Palliativpatientin, die in der Weihnachtszeit, kurz vor ihrem Tod, so gerne noch einen Lebkuchen gegessen hätte. «Ich stellte den Lebkuchengeschmack via Rotationsverdampfer her und die Angehörigen konnten ihr das Aroma in den Mund sprühen», sagt Caviezel. Die Familie war dankbar, dass man ihrer Mutter diesen letzten Wunsch erfüllen konnte. Kurz danach schlief die Frau für immer ein.

Wenn die Geschmacksvielfalt leidet

Wenn das Essen infolge einer Dysphagie Probleme bereitet, leidet häufig auch das Angebot der Geschmacksvielfalt darunter. Dass dieser Verlust von Lebensfreude nicht zwingend sein muss, beweist Caviezel in Zusammenarbeit mit Molekularbiologe Fritz Treiber mit seinem kürzlich erschienen Buch. In Übereinstimmung mit der «International Dysphagia Diet Standardisation Initiative» haben die beiden zahlreiche Rezepte zusammengestellt, die auch bei bestehenden Schluckbeschwerden eine ausgewogene gesunde Ernährung gewährleisten und trotzdem einen optischen und geschmacklichen Genuss ermöglichen. In einem theoretischen Eingangskapitel stellen sie zunächst Krankheitsbilder vor, die zu einer Dysphagie führen können, bevor sie auf den Zusammenhang von Ernährung und Immunsystem näher eingehen. Empfehlenswerte und eher zu meidende Lebensmittel werden aufgelistet. Im Hauptteil findet man rund 100 Rezepte, darunter solche für Salate, Teigwaren, Fleisch- und Fischgerichte oder Desserts.

Die Konsistenz nach den Schluckmöglichkeiten richten

Als Leiter Verpflegung im Altersheim Magnolienpark Solothurn kann Caviezel seine Menükreationen sogleich anwenden. Alles wird frisch gemacht, die Konsistenz ganz nach den Schluckmöglichkeiten des Patienten, der Patientin ausgerichtet. «Normalerweise bekommen Patienten mit Dysphagie Joghurts oder Brei. Dabei sind die Möglichkeiten an Gerichten vielfältig.» Zum Beispiel Salat? «Wir haben Kopfsalat-Creme gemacht.» Viele sagten, das könne man doch nicht servieren. Aber die Betroffenen waren froh um den Salatgeschmack. Weil sie Salatblätter nicht mehr kauen und schlucken konnten. Oft werden sogar die Form und das Erscheinungsbild der Esswaren nachgebaut. Das gemixte Pouletbrüstli wird in eine Schnitzel-Form gegossen, die entkernte Erdbeere bekommt in einem Erdbeerförmli ihre ursprüngliche Erscheinung zurück. Doch irgendwann geht auch das nicht mehr und die Nahrung muss flüssig sein oder gar als Spray inhaliert werden. «Wenn sie ein Aroma, das sie lieben und auf das sie Lust verspüren, auf diese Weise zu sich nehmen können, entsteht eine Art Kopfkino. Und das ist es, was den Palliativpatienten glücklich macht.»

Schulungen für betreuende Fachleute

Bei den Fachleuten in Heimen und Hospizen stösst das ungewöhnliche Kochbuch auf Interesse. «Ich habe schon einige Anfragen für Schulungen bekommen», sagt Caviezel und freut sich darüber. Auch im Paraplegiker-Zentrum Nottwil wird er einen Vortrag halten und an einer Veranstaltung von Pflegefachpersonen referieren. «Die Leute nehmen mein Kochbuch wahr und anerkennen, dass es nicht einfach ein Hirngespinst ist.» Aber ist es für eine Köchin möglich, so ein Palliativmenu zu kochen? Ist das nicht viel zu aufwendig? «Der Aufwand hält sich in Grenzen», sagt Caviezel. Man müsse aber Freude am experimentellen Kochen haben. Das Kochbuch ist denn auch nicht nur für Köche in Heimen und Hospizen gedacht, es wendet sich ebenso an Angehörige von Palliativpatienten. Viele Schwerstkranke werden zu Hause betreut und begleitet. Nicht selten ist das Essen ein leidiges Thema, weil der Kranke keinen Appetit mehr hat. Kann man ihm aber seine Lieblingsspeisen in der geeigneten Form anbieten, gibt es vielleicht ein überraschend schönes Geschmacksergebnis.

Glücksgefühle in solchen Momenten empfindet auch Rolf Caviezel, der in seiner Arbeit ganz aufgeht. Kochen, verflüssigen, eindampfen, ausprobieren - das ist seine Leidenschaft. Lockt ihn die Vorstellung, als Küchenchef in einem Luxusrestaurant zu wirken heute nicht mehr? Er habe nicht in diesen hochkarätigen Betrieben gearbeitet, um sein Ego zu polieren, hält Caviezel fest. Es sei ihm darum gegangen, exakt und genaustens arbeiten zu lernen. Irgendwann musste er sich entscheiden, ob er «in der Punkteliga mitspielen» wolle. Daran ist er nicht interessiert. Lieber entwickelt er mit seiner Firma freestylecooking GmbH neue Kochtechniken. Die Ideen werden dem Tüftler der Gastroszene noch lange nicht ausgehen.


Movefood: Die feine Art zu essen - trotz Schluckbeschwerden
Rolf Caviezel, Fritz Treiber
240 Seiten
ISBN: 978-3-8248-1314-8
Schulz-Kirchner-Verlag

Bestellung auch unter www.freetylecooking.ch