In den Sommermonaten klingelt man meist vergeblich an der Eingangstür von Marco Ferronatos Werkstatt. Schon lange vor Ferronatos Einzug vor zehn Jahren diente das Haus am Dorfeingang von Schwerzenbach einem Künstler als Atelier. Von eben jenem Künstler, dem 2003 verstorbenen Max Frühauf, zeugen noch die Figurenköpfe an der Eingangsfassade. Auf dem Gelände drumherum hat Ferronato seine Spuren hinterlassen. Skulpturen, Gesteinsbrocken, Figuren, Plastiken, bisweilen verwittert vom Alter, säumen den Weg und lassen den Garten fast ein wenig verwunschen wirken. Schliesslich findet man den 53-Jährigen im grossen Zelt hinter dem Garten, in dem er sich ein luftiges Sommeratelier eingerichtet hat. Inmitten von Werkzeugen, Töpfen, Pinseln, einem grossen Besen und verschiedenen Seilzügen, mit denen er sein Arbeitsmaterial herumhebt, «klopft» er Steine, wie er sagt.
Und wenn er eben Steine klopft, empfiehlt es sich, ihm aus einer gewissen Distanz zuzuschauen. Herzhaft haut er mit dem Klüpfel, eine Art runder Hammer aus Holz, auf den Meissel und treibt ihn so durch den rötlichen Stein. «Wenn das nur gut kommt», denkt man sich aus der Ferne und wischt sich fortwährend kleine Bruchstücke aus den Haaren, während man um das Muster bangt. Doch als der Bildhauer Werkzeug und Schutzbrille weglegt und aus dem grosszügigen, weissen Arbeitszelt ins Grüne blickt, zeigt sich, wie fein ihm die Abstufung gelungen ist. Noch ein paar Arbeitsstunden, dann wird der Stein auf einem Grab an einen verstorbenen Menschen erinnern.
«Letztlich ist das Thema Leben und Tod doch ein genuin künstlerisches. Es geht immer um das menschliche Dasein oder eben Nicht-Mehr-Dasein.»
Geprägt hat ihn sein Vater, der mittlerweile 92-jährige Bildhauer und Zeichner Cesare Ferronato. «Für mich war immer klar, dass ich keinen Job möchte, bei dem ich primär für jemand anderen arbeite», sagt Marco Ferronato. Da auch seine Mutter, die Keramikerin Jacqueline Ferronato-Renfer, als Künstlerin arbeitet, verwundert es nicht weiter, dass ihm einerseits das Talent in die Wiege gelegt wurde, ihm andererseits aber auch die Lebensform zusagte. «Als Künstler zu arbeiten, bestimmt das Leben immens», sinniert er. Gerade weil manche Zeiten aufgrund des fehlenden regelmässigen Einkommens schwierig seien. «Aber offenbar hat es mir gefallen, so zu arbeiten und zu leben.»
Nebst dem eigenen künstlerischen Schaffen gehört das Gestalten von Grabsteinen gewissermassen zu Ferronatos Brotberuf. «Ich arbeite als Künstler und verkaufe meine Werke, aber ich gehöre nicht zu denjenigen, die unterschreiben, dass ein Künstler leiden muss, um produktiv zu sein.» Das sei fertiger Blödsinn. Doch auch bei Auftragsarbeiten, wie eben Grabsteine, legt er sein ganzes Herzblut hinein. «Den Menschen ist das Ergebnis wichtig, sie kommen mit ihrer ganz persönlichen Geschichte und vertrauen mir.» Und letztlich sei das Thema Leben und Tod doch ein genuin künstlerisches. Es gehe immer um das menschliche Dasein oder eben Nicht-Mehr-Dasein.
Nötig sind für einen Trauerstein weder Vorkenntnisse noch eine ausgereifte Vorstellung vom fertigen Ergebnis. Beides erarbeitet Bildhauer Marco Ferronato gemeinsam mit den Trauernden.
Ein weiteres Standbein war während vieler Jahre auch die Tätigkeit als Dozent. Marco Ferronato gab Ferien- und Semesterkurse, coachte Einzelschüler, bis er merkte, dass ihn das sehr auslaugte. «Es machte mich leer.» Seither hat er die Kurse auf ein Minimum reduziert, doch wuchs etwas anderes daraus heraus. Einer seiner langjährigen Schüler verlor einen guten Freund. Dessen Witwe wusste um sein Hobby und fragte ihn, ob er nicht den Grabstein gestalten würde. Erst traute er sich das nicht zu und wollte stattdessen seinen Dozenten als Bildhauer vermitteln. Doch Ferronato überredete ihn, zuzusagen, weil er wusste, dass sein Schüler erfahren genug war. Als sie den Stein beendet hatten, war Ferronatos Schüler so begeistert, dass er vorschlug, diese Möglichkeit weiter auszubauen. Er schrieb ein Konzept und gab dem Ganzen einen Namen: Trauerstein.
Seither begleitet Marco Ferronato trauernde Menschen dabei, einen individuellen Grabstein zu gestalten. Nötig sind dafür weder Vorkenntnisse noch eine ausgereifte Vorstellung vom fertigen Ergebnis. Beides erarbeitet der in Zürich geborene Bildhauer gemeinsam mit den Trauernden. «Wer einen Trauerstein machen will, arbeitet erst einmal völlig frei und lernt, mit Material und Werkzeug umzugehen.» Das sei wichtig für die spätere Arbeit, zeige ihm aber auch, was möglich sei. In einem nächsten Schritt geht es an die Planung. Dabei hätten manche schon ein fertiges Projekt im Kopf, andere kämen ganz frei von jeglicher Vorstellung und Materialwünschen. «Wenn jemand gar nicht weiss, was er machen kann, gehe ich so vor, wie bei meiner eigenen Arbeit: Es ist letztlich ein permanentes Ausschliessen von Dingen, die man nicht will, also nicht rund, sondern eckig oder oval, nicht dunkel, sondern hell oder vielleicht rötlich, hoch und schlank und nicht quer und breit, keine Raumskulptur, sondern ein Relief.» Dadurch fielen mehr und mehr Optionen weg, und man komme dem Ergebnis immer näher.
«Wir widmen den Stein zwar den Toten, aber er ist für jene, die noch da sind und durch ihn an die Person erinnert werden.»
Das Gespräch ist ein wichtiger Bestandteil der Arbeit am Trauerstein. Aber nicht nur. Marco Ferronato erlebt es jedes Mal wieder anders. «Bei manchen ist der verstorbene Mensch das zentrale Thema, andere erwähnen ihn nur wenig» Ausschlaggebend sei oft auch das Alter eines Verstorbenen. «Bei einem Kleinkind kann man weniger Erinnerungen aufleben lassen, dafür ist die grenzenlose Liebe, die nun plötzlich wegfällt, ein riesengrosses Thema.» Sterbe eine hochbetagte Frau sei das für die Angehörigen anders zu ertragen, als der Suizid eines 50-Jährigen. Für Ferronato sind die Gespräche insofern wichtig, als dass sie ihm helfen, herauszufinden, was der verstorbenen Person wirklich Rechnung trägt. Aber er sagt auch, dass man einen Grabstein nicht für die Toten mache. «Wir widmen ihn zwar den Toten, aber der Stein ist für jene, die noch da sind und durch ihn an die Person erinnert werden.»
Bei der Ausgestaltung kommt vieles hoch. Man bearbeitet den Stein, denkt an den Menschen, um den man trauert. Ferronato sieht in diesem «kontemplativen Prozess der Verarbeitung» Parallelen zur Situation eines Trauernden. Wer das erste Mal mit Hammer und Meissel einen Stein bearbeitet, bekommt schnell einmal das Gefühl, dass er vor einer kaum zu bewältigenden Aufgabe steht. «Man muss sich Schritt für Schritt durchpickeln, man sieht eine Entwicklung, und zum Schluss steht das fertige Stück vor einem», fasst der Trauersteinbegründer zusammen. Und oft bekommt er dann zu hören: «Das habe ich in mir getragen, jetzt ist es draussen und hat eine Gestalt bekommen, es ist greifbar geworden, und ich kann es aus einer gewissen Distanz anschauen.»
«Egal ob Grabstein, Steinhaufen, Mausoleum, Tempel oder Pyramide, fast immer nimmt man Steine, um an Verstorbene zu erinnern.»
Kritik für sein Trauersteinprojekt erhielt Marco Ferronato ausgerechnet von seinen Berufskollegen. Zumindest in der Anfangsphase missfiel manchen, dass quasi jeder Dilettant einen Grabstein machen kann. Er sieht das anders. «Nicht jeder kann für andere einen Stein machen, für sich selbst aber schon.» Das Ergebnis müsse nur für denjenigen stimmen, der den Stein gemacht habe, das sei ein ganz anderer Anspruch. Und wer gar kein Talent habe zum Steine klopfen, für den würden sich auch andere Materialien anbieten, beispielsweise Bronze.
Auch wenn zunehmend mehr Menschen auf ein Friedhofsgrab verzichten, stellt der Schwerzenbacher Künstler kein schwindendes Interesse an Grab- oder Erinnerungssteinen fest. Er erinnert sich an die Witwe eines Freundes, der sich das Leben genommen hatte und dessen Asche im Fluss verstreut wurde. Sie beauftragte Ferronato, auf einem einfachen Stein den Namen ihres Mannes einzugravieren und legte den Stein dann am Flussufer hinter ein Gebüsch. «Sie brauchte etwas Handfestes zum Trauern, auch wenn der Stein vielleicht irgendwann von einem Hochwasser mitgenommen wird.» Etwas von Bestand zur Erinnerung zu schaffen, sei in vielen Kulturen seit je tief verwurzelt. «Egal ob Grabstein, Steinhaufen, Mausoleum, Tempel oder Pyramide, fast immer nimmt man Steine, um an Verstorbene zu erinnern.» Entsprechend berät er die Trauerstein-Interessierten auch dahingehend, dass das Objekt nicht unbedingt nur für den Friedhof gedacht ist. «Gerade, wenn ein Stein selbst gemacht wurde, behält man diesen oder zumindest Teile davon, wenn das Grab einmal aufgelöst wird.»
Seine Arbeit mit Trauerstein braucht Fingerspitzengefühl. Mit der Zeit hat er ein Gespür dafür entwickelt, wie viel er nachhaken kann und wann es besser ist zu warten, bis die Geschichten von selbst hochkommen. «Es gibt immer wieder sehr schwere Momente, aber wir lachen auch zusammen.» Er selbst könne gut damit umgehen. «Natürlich gehen die schwierigen Geschichten nicht spurlos an mir vorbei», sagt Marco Ferronato. «Aber ich kann diese Menschen auf ihrem Weg unterstützen, und das ist ein grossartiges Glück.»