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Betreuung muss Teil des Service public werden

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An einem Online-Talk diskutierten die Studienautoren mit verschiedenen Fachleuten über die Situation rund um Betreuung im Alter. (Screenshots: gme)

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15. Juni 2020 / Politik
Gleich sechs Stiftungen haben gemeinsam den «Wegweiser für gute Betreuung im Alter» lanciert. Das 60 Seiten dicke Werk zeigt auf, wo die Schweiz in dieser Beziehung steht, regelt Begrifflichkeiten und kommt zum Schluss: Betreuung im Alter ist ungenügend klar geregelt. Anfang Juni wurde der Wegweiser mit einem Online-Live-Talk vorgestellt.
Das Versorgungsnetz zur Unterstützung älterer Menschen in der Schweiz ist gut und engmaschig. Und die Spannweite der Leistungen ist gross. Es reicht von gelegentlichen Besuchen, etwas Unterstützung im Haushalt bis hin zu regelmässiger Pflege und komplexen medizinischen Verrichtungen. Zu diesem Versorgungsnetz gehören Angehörige, Nachbarn, Freunde, aber auch Freiwillige, ambulante oder stationäre Angebote, Verwaltung und Politik. Ziel ist es, den älteren Menschen trotz ihrer Einschränkungen eine «umfassende Versorgung zu garantieren und ihnen ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen».

Immer weniger betreuende Angehörige
So weit, so gut also? Nein. Der neue «Wegweiser für gute Betreuung im Alter», den Age-Stiftung, Beisheim Stiftung, MBF Foundation, Migros-Kulturprozent, Paul Schiller Stiftung und Walder Stiftung gemeinsam in Auftrag gegeben haben, listet detailliert auf, welche Probleme bereits existieren und welche sich in Zukunft noch akzentuieren werden. Um den Wegweiser der Öffentlichkeit vorzustellen, wählte die Herausgeberschaft einen Live-Talk, an dem man am 4. Juni per Online-Sitzung teilnehmen konnte.

So gehören etwa die grossen Lücken in der Betreuung älterer Menschen zu den «alterspolitischen Herausforderungen», die der Wegweiser auflistet. Es fehle an Betreuungsangeboten, und zum Teil würden grundlegende Aspekte der Betreuung im Alltag nicht aufgelistet. Und: Noch immer wird Betreuung zu Hause zur Hauptsache von den Lebenspartnerinnen und -partnern geleistet. Wo diese fehlen, sind es Nachbarn, Freundinnen und Familienangehörige. Allerdings wird der Bedarf an Betreuung im Zuge der demografischen Entwicklung immer grösser, nicht nur zu Hause, sondern auch in Pflege- und Altersheimen oder Spitälern. Zudem bleiben Menschen vermehrt kinderlos, leben allein, oder Frauen – denen in der Vergangenheit zumeist die Betreuungsaufgaben in der Familie oblagen, sind berufstätig. Entsprechend stehen immer weniger Angehörige zur Verfügung, was die Situation weiter verschärft.

Gute Betreuung ist keine Frage des Alters
Am Online-Talk, moderiert von Sonja Hasler, beteiligten sich ausser den beiden Studienautoren Riccardo Pardini und Carlo Knöpfel, auch SRK- und Spitex-Schweiz-Präsident Thomas Heiniger, Curaviva-Direktor Daniel Höchli sowie Ursula Jarvis, die als Leiterin eines Freiwilligendienstes, als Pflegefachfrau, aber auch als pflegende Angehörige gleich von verschiedenen Seiten Einblick in die Thematik hat. Etwa 100 Personen wählten sich als Zuhörende ein, das Interesse war aber deutlich grösser, wie Moderatorin Hasler erklärte. Gut betreut heisse gestärkt sein im Leben, formulierte der Zürcher alt Gesundheitsdirektor Thomas Heiniger einen Grundsatz und wies darauf hin, dass der Nutzen von guter Betreuung keine Altersfrage sei, sie komme beispielsweise auch psychisch erkrankten Menschen zugute. Von Seiten Spitex habe man festgestellt, dass während der Corona-Krise viele Klienten auf die Spitexdienstleistungen verzichtet hätten. Ob aus Angst vor einer Ansteckung, oder weil viele betreuende Angehörige in Kurzarbeit waren und deshalb mehr Betreuung leisten konnten, konnte die Diskussionsrunde nicht abschliessend klären.
«Corona hat den Blick geschärft, was in der Betreuung wirklich wichtig ist und was Einsamkeit bedeuten kann». Ursula Jarvis, Sozialdiakonin, Leiterin eines Besuchsdienstes, betreuende Angehörige

Ursula Jarvis sprach von einem grossen Mitteilungsbedürfnis, das sie bei Betreuten und Angehörigen während der Krise gespürt habe, insbesondere deshalb, weil die freiwilligen Besuchsdienste fast überall komplett ausfielen. «Corona hat den Blick geschärft, was in der Betreuung wirklich wichtig ist und was Einsamkeit bedeuten kann», zeigte sich die Sozialdiakonin überzeugt. Es sei ein «Riesenkrampf», wenn Angehörige einen an Demenz erkrankten Menschen zu Hause betreuten. «Die Isolation während der Pandemie wirkte sich auch auf die Betreuungspersonen aus.»

Leistungen weniger gut quantifizierbar
Studienautor Carlo Knöpfel, Professur für Sozialpolitik und Soziale Arbeit an der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW, zeigte sich besorgt um die Zukunft von vulnerablen Personen, deren Betreuung nur begrenzt finanziert ist. Denn das Bundesgesetz zur Krankenversicherung unterscheidet zwischen pflegerischen und betreuerischen Leistungen. Während für die Pflege klare Leistungen definiert wurden, die gesetzlich geregelt allen Menschen in der Schweiz zustehen, wurde genau das bei der Betreuung versäumt. Nur ist gute Betreuung deutlich schlechter quantifizierbar als pflegerische Leistungen. Denn es geht darum, sich Zeit zu nehmen insbesondere für das psychosoziale Wohlbefinden der betreuten Person. Zudem verändert sich der Anspruch an Betreuung je nach Zustand der betreuten Person und orientiert sich an den individuellen Bedürfnissen.
«Man hat zu sehr die pflegerische Brille auf». Riccardo Pardini, Co-Studienautor

Knöpfels Autorenkollege Riccardo Pardini, ebenfalls an der FHNW tätig, erklärte, dass die im Wegweiser definierten Handlungsfelder - Selbstsorge, Alltagsgestaltung, Haushaltsführung, soziale Teilhabe, Pflege, Beratungs- und (Alltags)Koordination – nicht abschliessend definiert seien. Aber es seien erste Pflöcke, die eingeschlagen worden seien. «Man hat zu sehr die pflegerische Brille auf», kritisierte der Soziologe. Es mangle an der Zusammenarbeit der sozialen mit den pflegerischen Berufen. Pardini erklärte auch eine mögliche Finanzierung, indem die AHV eine Art Hilflosenentschädigung beinhalten könnte, die für die Betreuung im Alter geltend gemacht werden könnte.

Für Curvaviva-Direktor Daniel Höchli hat das heutige System zu viele Fehlanreize. Etwa jenen, dass dann Ergänzungsleistungen zum Tragen kommen, wenn jemand in ein Heim eintritt. Es sei wichtig, über die Leistungen im Betreuungsbereich zu sprechen, aber auch die Definition von Pflege zu erweitern. Denn dieselbe Problematik gelte auch in Bezug auf Beiträge für Palliative Care und für die Betreuung von demenzkranken Menschen.

Der «Wegweiser für gute Betreuung im Alter» ist nicht nur vom Umfang her ein gewichtiges Werk. Er bietet Definitionen von guter Betreuung genauso wie von Leitlinien, zeigt Probleme und wichtige Fragestellungen für die Zukunft. All das eingebettet in anschauliche Praxisbeispiele aus verschiedenen Abschnitten des Alters. Es bleibt zu hoffen, dass er die nötigen Diskussionen an den richtigen Stellen anzustossen vermag.
palliative zh+sh, Gabriela Meissner