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Endlich mehr Fakten übers Sterbefasten

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03. Dezember 2019 / Wissen
Die Pflegewissenschaftlerinnen und -wissenschaftler der ZHAW sind dem freiwilligen Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit (FVNF) in Schweizer Institutionen nachgegangen. Damit liegen erstmals empirische Daten für die Schweiz vor.
In der Palliative Care ist das Thema Sterbefasten bereits in aller Munde: Es fanden schon viele Tagungen, Diskussionsrunden und Symposien zum Thema statt. Bis anhin lagen aber kaum Tatsachen über den freiwilligen Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit (FVNF), wie das Sterbefasten in Fachkreisen genannt wird, für die Schweiz vor.

Nun präsentieren Pflegewissenschaftler André Fringer, Doktorandin Sabrina Stängle und ihr Forschungsteam erstmals Zahlen zum FVNF in Schweizer Alters- und Pflegeheimen. Im Rahmen des Forschungsprojekts «Voluntary Stopping of Eating and Drinking in Switzerland from Different Points of View» fanden sie heraus, dass sich 1,7 Prozent aller Todesfälle in den Langzeit-Institutionen auf das Sterbefasten zurückführen lassen. In Zahlen ausgedrückt sind das ungefähr jährlich 460 Personen, die ihr Leben durch FVNF vorzeitig beenden.

Dunkelziffer liegt vermutlich höher

Die Dunkelziffer ist aber vermutlich um einiges höher: Die befragten Leitungs- und Pflegefachpersonen gingen davon aus, dass nur zirka ein Viertel der Sterbefasten-Fälle von den Betroffenen auch tatsächlich als solcher angekündigt und deklariert werde, wird Fringer auf zhaw.ch zitiert. Das heisst, es könnten total etwa 7 Prozent der in einer Institution Verstorbenen, also gegen 2000 Frauen Männer, die auf Essen und Trinken verzichtet haben, um ihren Tod vorzeitig herbeizuführen.
Wer wählt den Weg des FVNF? Es sind mehrheitlich Frauen (63 Prozent), die hochaltrig oder schon älter sind. Fast die Hälfte zählt mehr als 80 Jahre, knapp 19 Prozent sind zwischen 70 und 79 Jahre alt. Knapp 70 Prozent von ihnen sind krank, mehr als 40 Prozent wurde ein Tumor diagnostiziert. Mehr als ein Drittel befindet sich am Lebensende, das heisst, sie haben eine Lebenserwartung von maximal vier Wochen. Einem weiteren Drittel wurde noch ein bis zwölf Monate gegeben.
«In den ersten Tagen des Fastens erleben viele ein Hochgefühl, gegen Ende kann es aber zu Komplikationen kommen.»
André Fringer, Professor für Pflegewissenschaft

Die Gründe für einen FVNF seien mannigfaltig und treten laut ZHAW-Forschungsbericht 2019 meist in Kombination auf. Etwas mehr als die Hälfte gaben körperliche Symptome an, die ihre Lebensqualität herabsetzen, sie machten Leiden ohne Aussicht auf Verbesserung oder Schmerzen geltend. Weiter spielten (womöglich damit zusammenhängende) psychische Gründe eine Rolle wie Erschöpfung oder Müdigkeit. Hinzu kam die Angst vor Abhängigkeit und der Verlust von Selbstbestimmung.

Im Schnitt dauerte der FVNF zwei Wochen. Bei zehn Prozent der Sterbewilligen hingegen dauerte er aber sogar noch länger als einen Monat, schreibt die «NZZ am Sonntag». «In den ersten Tagen des Fastens erleben viele ein Hochgefühl, gegen Ende kann es aber zu Komplikationen kommen», sagte Fringer gegenüber der Zeitung.

Man dürfe aber nicht jeden Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit am Lebensende als Sterbefasten interpretieren, warnt der Pflegewissenschaftler. Denn der FVNF ist ein freiwilliger Akt, den eine Person bewusst vollzieht, und ist demnach eng an ihre Urteilsfähigkeit gebunden. Gerade wenn ein Mensch mit Demenz Essen und Trinken verweigert, sei Vorsicht geboten. Womöglich würde er das Essen annehmen, wenn es von einer anderen Person, zum Beispiel einer Demenzexpertin, gereicht werde.

Bald folgen Zahlen aus dem ambulanten Bereich

Dass die Betreuungsteams im Zusammenhang mit dem FVNF in ethische Dilemmata geraten, haben die Forscherinnen und Forscher ebenfalls festgestellt. Fringer rät, als Orientierungshilfe die Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) zum «Umgang mit Sterben und Tod» hinzuziehen. Darin sind auch polarisierende Fragen geregelt wie das Sedieren von Sterbefastenden oder, ob man einem Sterbefastenden, wenn er sich in einem Delir befindet, Flüssigkeit reichen darf, sollte er danach verlangen. Die SAMW finanziert das Forschungsprojekt im Übrigen auch.

An der Umfrage teilgenommen haben Leitungs- und Pflegefachpersonen eines Drittels aller 1500 Pflege- und Alterszentren in der Schweiz. Zwei Drittel der Heime findet das Thema äusserst relevant für ihre tägliche Arbeit, aber nur in jeder zweiten Institution wurde schon einmal ein FVNF vollzogen. Die Fachpersonen beurteilten diese Methode dennoch als eine positive, würdevolle und «natürliche» Art aus dem Leben zu scheiden.

Im Frühsommer werden Fringer und sein Team Zahlen über FVNF ausserhalb der Alters- und Pflegeheime liefern. Dazu befragten sie Spitexorganisationen sowie Hausärztinnen und -ärzte.