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Bis zuletzt wankelmütig sein dürfen

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Der Imperativ «Sei authentisch!» kann beim sterbenden Menschen zum Zwang werden. Die Zürcher Medizinethikerin, Theologin und Philosophin Nina Streeck schreibt über wichtige Fragen zu Authentizität am Lebensende. (Bild: sa)

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Nina Streeck: Jedem seinen eigenen Tod. Authentizität als ethisches Ideal am Lebensende. Frankfurt/New York. Campus Verlag, 2020. 340 Seiten.

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04. September 2020 / Wissen
Nina Streeck hält mit ihrem Buch «Jedem seinen eigenen Tod» Palliative-Care-Fachpersonen den Spiegel vor. Sie sollen Patientinnen und Patienten die eigene Vorstellung eines guten Todes nicht aufdrängen.

Sich selbst bleiben bis zum Schluss. Sterben, wie man gelebt hat. Authentisch sein, auch in der todbringenden Krankheit. Das Lebensende planen. Das sind Ideale, wie sie sicherlich viele in der Palliative Care tätigen Fachpersonen teilen. Schliesslich wehrte sich die Hospizbewegung in ihren Anfängen gegen den in der Medizin zurückgedrängten Tod – er galt als Scheitern der kurativen Behandlungen – und sorgte dafür, dass Menschen in ihrem Sterben ganzheitlich umsorgt wurden und immer noch werden. Indem man auf ihre biopsychosoziospirituellen Bedürfnisse eingeht, werden sie in ihrer Persönlichkeit wahrgenommen und können bis zum Schluss authentisch sein.

Was ist denn aber Authentizität eigentlich? Inwiefern hat sie mit Autonomie, also Selbstbestimmung, zu tun? Die Zürcher Medizinethikerin, Theologin und Philosophin Nina Streeck hat mit «Jedem seinen eigenen Tod» ein kluges, aber nicht ganz einfaches Buch geschrieben. Die ehemalige Journalistin ist Fachverantwortliche für Ethik und Lebensfragen am Institut Neumünster in Zollikerberg. Das Buch ist ihre Dissertation im Fach Medizin. Sie geht darin der Frage auf den Grund, ob das heutige Ideal des guten Sterbens, nämlich im Ableben authentisch zu bleiben, sich nicht in sein Gegenteil verkehre. Der Imperativ «Sei authentisch!» kann zum Zwang werden und dem sterbenden Menschen nehmen, was ihm die aufkommende Palliative Care versprochen hatte, nämlich frei zu sein.

Aktiv und selbstbestimmt
Die zwei Disziplinen, welche die Authentizität am Lebensende am meisten propagierten, seien die Palliative Care und die Sterbehilfebewegung, schreibt Streeck. Beide würden sich am «Leitbild des eigenen Todes» orientieren. «Während die Palliativversorgung auf ein Sterben, wie man gelebt hat, zielt, das sich unter aktiver Mitwirkung des Sterbenden in Form einer Verbesserung seiner Lebensqualität verwirklicht, versprechen die Sterbehilfeorganisationen ihren Mitgliedern, sie könnten über ihr Ableben selbst bestimmen, ebenso wie sie ihr Leben lang gewohnt waren, ihre Autonomie auszuüben.»

Im ersten Teil des Buches geht die Wissenschaftlerin den Begriffen Sterben und Tod auf den Grund. Im zweiten Teil erörtert sie den Authentizitätsbegriff philosophisch. Freundlicherweise erlaubt sie der etwas denkfaulen Leserin in der Einleitung, diesen Part zu überspringen, um sich im dritten Teil der Verknüpfung der Frage nach dem guten Sterben mit dem Authentizitätsbegriff zu widmen.

Sterbende würden von der Palliative Care einerseits dazu gedrängt, sich selbst zu bleiben im Sterben, andererseits dazu, diese Phase aktiv zu gestalten wie ein Projekt. Die Autorin findet jedoch, es könne durchaus sein, dass ein Mensch sich angesichts einer schweren Krankheit noch einmal total verändere, gar ambivalent sei. Als Beispiel führt Streeck das Sterbe-Tagebuch «So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!» von Theater-Regisseur Christoph Schlingensief an, der zwischen Todeswunsch und Lebenslust hin- und hergerissen ist. Beharrten nun Palliativfachpersonen auf dem Gedanken, eine Person solle ein einheitliches Selbst aufweisen, das sich im Laufe des Lebens sowie in der allerletzten Phase nicht verändere, dann öffne diese Erwartungshaltung Manipulationen Tür und Tor, zum Beispiel durch die Angehörigen. Der Zwang, sich selbst treu bleiben zu müssen, könne bei Patientinnen und Patienten zudem «Gleichgültigkeit auslösen oder gar depressive Tendenzen befördern».

Der Leitbild-Holzhammer
Die Leitbilder, die Streeck als Belege für die «verkehrte Authentizität» verwendet, entnimmt sie Medien-Auftritten von Palliativmedizinern, aus «Sterberatgebern» oder Kampagnen von Sterbehilfe-Organisationen. Das sind sicherlich Meinungen, die in der Öffentlichkeit Gehör finden und die Einstellung einiger Menschen zum Sterben verändern können. Dass die Mehrheit der Betroffenen, die Sterbenden selbst, aber tatsächlich darunter leiden, kann Nina Streeck nicht beweisen. Eine solche empirische Arbeit stehe noch aus und sei auch nicht ihr Anliegen gewesen, schreibt sie.

Dies dürfte denn auch der Schwachpunkt des Buches sein. Denn hätte die Medizinethikerin sich in Palliative-Care-Institutionen selbst einen Eindruck verschafft, hätte sich diese These vermutlich kaum belegen lassen. Gerade im ambulanten Bereich, wo ein Palliativteam zu Gast ist bei einem kranken Menschen, geben tatsächlich seine Wünsche und Vorstellungen den Takt der Behandlung und die Gesprächsthemen vor. Leugnet jemand zum Beispiel partout den bevorstehenden Tod, will nicht übers Sterben sprechen oder bleibt passiv erduldend, muss dies das professionelle Behandlungsteam akzeptieren. Gerade die Palliativpflegenden bringen viel Fingerspitzengefühl und psychologisches Geschick in den Gesprächen übers Lebensende mit. Niemand geht mit dem Leitbild-Holzhammer vor. Jemandem seine eigenen Ideale aufzuzwingen, wäre wahrlich unprofessionell.

Nichtsdestotrotz ist Streecks Buch wichtig. Es lässt Fachpersonen der Palliative Care hinterfragen, ob die von der Hospiz- und Pallitivbewegung eroberte Freiheit, jeden seinen eigenen Tod sterben zu lassen, nicht zu neuen Zwängen führt.


Zur Buchvernissage von «Jedem seinen eigenen Tod» findet am 22. September 2020 von 18.30-19.30 Uhr in der Alten Anatomie am UniversitätsSpital (USZ) Zürich ein Podium statt. Neben der Buchautorin Nina Streeck werden Nikola Biller-Andorno, Direktorin des Instituts für Biomedizinische Ethik und Medizingeschichte UZH, Roland Kunz, Chefarzt Universitäre Klink für Akutgeriatrie und Ärztlicher Leiter Zentrum für Palliative Care, Stadtspital Waid und Triemli, Michael Schmieder, Demenzexperte und Verwaltungsrat Stiftung Sonnweid sowie Peter Steiger, stv. Direktor Institut für Intensivmedizin USZ an der Diskussion teilnehmen. Moderiert wird sie von Susanne Brauer, der Programmleiterin der Alten Anatomie.
Der Eintritt ist frei, eine Anmeldung ist nötig www.pallnetz.ch/p129003801.htmlAchtung Link öffnet sich in einem neuen Fenster
palliative zh+sh, Sabine Arnold