Von:
Gesendet: Donnerstag, 21. Januar 2021 16:52
An:
Betreff: Workshop Schreiben über Sterben
Liebe Elena
Für den kommenden Sommer hast Du einen Workshop ausgeschrieben, in dem Du zum
«Schreiben über Sterben» anregen möchtest. Wie das funktionieren soll, nimmt mich nun wirklich sehr wunder. Natürlich könnte ich Dich jetzt einfach schnell anrufen, ein bisschen mit Dir plaudern und käme so ganz schnell zu meinen Informationen. Aber es geht in Deinem Workshop ja ums Schreiben. Und darum möchte ich schreibenderweise mit Dir erörtern, warum man ausgerechnet über das Sterben schreiben soll.
2013 erschien Dein Buch
«Zu Ende denken. Worte zum Unausweichlichen». Später riefst Du als Mitherausgeberin dreier Bücher zum «Reden über…» auf, darunter natürlich auch
«Reden über Sterben». Eigentlich eine logische Abfolge: erst denken, dann reden und nun also schreiben. Wobei schreiben jener mentale Prozess ist, der am meisten abverlangt: Man kann nur schreiben, wenn man klare Gedanken zu einem bestimmten Thema gefasst hat.
Der Tod als seitenfüllendes Thema? Für die meisten ist der Tod weit weg, abstrakt, es sind höchstens die täglichen Zahlen der an Covid-19-Verstorbenen, die uns derzeit etwas unruhig werden lassen. Uns einfach so mit dem Sterben beschäftigen, wollen wir nicht wirklich. Auch wenn uns der Satz «Sterben gehört zum Leben» meist leicht als Floskel über die Lippen kommt. Aber das eigene Sterben? Für die australische Schriftstellerin Cory Taylor war die eigene Krebserkrankung der Auslöser, sich mit dem Sterben - und vor allem ihrem Sterben - auseinander zu setzen und ein Buch darüber zu schreiben (
Hörprobe).
Aber so ohne äusseren Anlass uns mit dem Tod beschäftigen? Sollen wir uns und können wir uns wirklich das Sterben erschreiben? Ich bin gespannt, was Du dazu – schreibst.
Herzlich, Gabriela
***
Von: Elena Ibello
Gesendet: Samstag, 23. Januar 2021 16:53
An: Gabriela Meissner
Betreff: AW: Workshop Schreiben über Sterben
Liebe Gabriela
Ich danke dir! Das ist eine schöne Idee – und gibt auch mir die Gelegenheit, ein wenig übers Sterben zu schreiben. Denn so oft habe ich noch gar nicht über das Sterben geschrieben. Wenigstens nicht über mein eigenes. Hingegen habe ich schon viel über das Schreiben über das Sterben gesprochen! Und zwar sehr ausführlich mit verschiedenen Autorinnen und Autoren des Buches “Zu Ende denken. Worte zum Unausweichlichen”, das du erwähnt hast. Das Buch, das ich übrigens mit Rebecca Panian zusammen herausgegeben habe, vereint ja Texte von ganz vielen unterschiedlichen Menschen. Wir haben diese Menschen aufgefordert, über Sterben und Tod zu schreiben. Dabei haben wir das Thema nicht weiter eingegrenzt und lediglich die maximale Länge des Textes vorgegeben. Ausserdem wussten die Leute schon, wie das Buch am Ende heissen sollte. Mehr nicht. Beim Redigieren der Texte und teilweise intensiven Begleiten der Schreibenden merkte ich erst, wie sehr mich wundernimmt, wie die Leute an diese Aufgabe herangehen und was das Schreiben mit ihnen macht. Dieser Neugierde bin ich dann später nachgegangen und habe darüber meine Masterarbeit “Schreiben übers Sterben. Wenn der Tod zur Sprache kommt” geschrieben.
Ich stimme dir zu: Der Tod ist für viele von uns weit weg und sehr abstrakt. Was wissen wir schon darüber? Und was können wir je darüber wissen? Gegen deine Aussage, man könne nur schreiben, wenn man klare Gedanken zu einem bestimmten Thema gefasst habe, muss ich allerdings Einsprache erheben. Es gibt für mich sehr viele verschiedene Arten des Schreibens. Und eine ist eben, schreibend nachzudenken. Das Schreiben, das mich zwingt, Worte für meine Gedanken zu finden und die gefundenen Worte, die mich zum Weiterdenken anregen, kann mir durchaus einen Erkenntnisgewinn verschaffen. Es ist ein wenig, wie wenn ich mit mir selber ein Zwiegespräch führte, wobei mich das Schreiben zur Präzision zwingt und das Tempo des Denkens vorgibt. Ich kann viel weniger flüchtig denken – oft ja eine Flucht im wahrsten Sinne des Wortes vor eigenen Gedanken und Gefühlen. So gesehen habe ich vielleicht, wenn ich mit dem Schreiben übers Sterben beginne, kaum einen klaren Gedanken zum Thema, aber das kann sich schnell ändern während des Schreibens. In den Interviews mit den Autorinnen und Autoren, von denen ich gerade erzählt habe, habe ich erfahren, dass fast alle Schreibenden nach dem Verfassen ihres Textes mehr Klarheit empfanden, wenn sie an Sterben und Tod dachten. Über eigene Vorstellungen, eigene Gefühle und auch über vorhandene Ressourcen im Umgang mit dem Sterben. Das war sehr schön – für sie wie für mich. Bei Klara Obermülleri habe ich übrigens einmal folgenden Satz gelesen:
“Dass wir den Tod nicht denken, über den Tod nichts zu sagen wissen, darin gründet wohl im tiefsten unsere Furcht.”Ob wir uns “das Sterben erschreiben” können, weiss ich nicht. Das wäre vielleicht doch etwas zu viel versprochen. Ob wir sollen? Naja: Wenn wir wollen! Ich weiss nicht, wie das bei dir ist: Willst du denn? Du beschäftigst dich ja auch mit dem Thema – und nicht selten ebenfalls schreibend.
Ebenso herzlich, Elena
***
Von: Gabriela Meissner
Gesendet: Mittwoch, 27. Januar 2021 19:25
An: Elena Ibello
Betreff: AW: Workshop Schreiben über Sterben
Liebe Elena
Ich stimme Dir zu – das Schreiben zwingt zu präzisen Gedanken. Der Prozess des Denkens lässt sich sicher mit jenem des Schreibens verbinden. Und es macht Sinn, das Gedachte zu notieren, damit es sich nicht wieder verflüchtigt. Wie schnell sind wir heutzutage abgelenkt, schnell noch die News checken, was gibt es Neues in den sozialen Netzwerken – die Zerstreuung ist immens. In den letzten Monaten habe ich begonnen, Tagebuch zu schreiben. Ich stand Ereignissen gegenüber, die ich festhalten wollte. Ich wollte den Prozess des Durchlebens bewahren, um später darin blättern zu können, den Zugang zu meinen situativen Gefühlen nachvollziehen zu können und zu sehen, wie sich mein Denken möglicherweise verändert hat.
Es ist wie Du schreibst: Auch ich beschäftige mich beruflich tatsächlich viel mit dem Sterben,
lesend und schreibend. In meinem beruflichen Umfeld ist der Tod keine abstrakte Grösse. Er ist da, er wird akzeptiert, man begegnet ihm, er gehört zum Leben. Ich habe eine – ich will es mal “professionelle Nähe” nennen – dazu. Das erlebe ich privat relativ ähnlich. Ich bin in einem Alter, in dem die Generation der Eltern alt geworden ist. Plötzlich geht es um schwere Erkrankungen der eigenen Eltern oder jenen von Freunden, um Betreuung, Pflege, Langzeitinstitutionen und eben auch ums Sterben. Auf der anderen Seite werden unsere Kinder selber Eltern. Wir erleben also zum einen das pralle Leben, das Glück der Geburt und den Beginn eines Lebens, zum anderen den Abschied, Verlust, Trauer, das Ende einer Biografie. Kürzlich erzählte mir eine Freundin von ihren Gedanken, als sie ihren todkranken Vater zusammen mit ihrer hochschwangeren Tochter besuchte:
“Das eine Leben kommt, das andere Leben geht.” Ich habe den Eindruck, dass in meinem Freundeskreis der Tod nicht negiert wird. Er hat Platz in Gesprächen, nicht nur am Rand. Aber vielleicht ist es im richtigen Leben ein bisschen so, wie in sozialen Netzwerken: Man bewegt sich in einer Bubble und zieht Menschen und Meinungen an.
Du hast gefragt:
“Willst Du denn?” Ich finde, ja, ich will mich unbedingt mit meinem eigenen Sterben befassen. Wobei das Wollen hier auch einen imperativischen Ansatz mitführt. Ich muss doch auch. Ist es nicht irgendwie eine Pflicht meinem Leben gegenüber, mich auch mit meinem Tod auseinanderzusetzen? Wobei ich diese Pflicht durchaus auch als Wertschätzung meines Lebens sehe. Die eigentlichen Pflichten habe ich quasi abgehakt: Ich habe eine Patientenverfügung und einen Vorsorgeauftrag, auch ein Testament ist vorhanden. Aber das sind nicht wirklich die grossen Brocken. Ich weiss gar nicht, wo und wie ich anfangen soll, über mein eigenes Sterben zu schreiben. Für mich ist es ein himmelweiter Unterschied, zwischen dem professionellen Schreiben über Sterben und der Annäherung an meinen eigenen Tod. Wo fange ich bloss an?
Etwas ratlos, aber dennoch herzlich, Gabriela
***
Von: Elena Ibello
Gesendet: Samstag, 30. Januar 2021 10:52
An: Gabriela Meissner
Betreff: AW: Workshop Schreiben über Sterben
Liebe Gabriela
Was du mit dem Wort “Pflicht” umschreibst, kommt mir sehr bekannt vor. In der Auseinandersetzung mit Tod und Sterben hatte und habe ich immer wieder das Gefühl, ich müsse jetzt doch langsam etwas konkreter über mein eigenes Sterben nachdenken. Mich ihm mal wirklich nähern, und nicht “nur”, wie das die letzten rund zehn Jahre geschieht, mich im beruflichen Umfeld mit konkreten bis abstrakten Aspekten “des Sterbens” als allgemeine Grösse auseinandersetzen. Sondern endlich den Mut finden, mein ganz eigenes Sterben gewissermassen zu untersuchen. Mir zu überlegen, wie ich meinem eigenen Sterben begegne, einen “guten” Umgang mit meiner eigenen Endlichkeit finde und so weiter. Nur um dann immer wieder festzustellen: Ich kann es irgendwie nicht. Weil – wie du schreibst – der Unterschied zwischen dem professionellen Schreiben und der persönlichen Annäherung an das Sterben ist “himmelweit”. Gut gesagt.
Was ich aber kann, sind zwei Dinge. Ich kann mich einerseits mit den Abschieden in meinem Leben auseinandersetzen, ihnen Raum und mir Zeit geben. Mit jedem Tod, der in meinem Umfeld eintritt, befasse ich mich auf ungleich intimere Weise mit dem Sterben – meinem eigenen und demjenigen von mir lieben Menschen. Und ich kann andererseits mein eigenes Leben betrachten und mich dabei fragen, was mir wichtig ist. Quasi erfühlen, wo eigentlich für mich im Leben “das Wesentliche” liegt. Und dies wenn irgend möglich meinem Umfeld mitteilen, mit ihm darüber reden, in der Hoffnung, das werde helfen, die für mich wichtigen Dinge bis zuletzt, bis ins Sterben und vielleicht sogar darüber hinaus, ins Leben zu lassen (in meines und in das meiner Liebsten). Denn, das wissen wir ja: Das Leben endet nicht vor, sondern erst mit dem Tod. Ein Text genau darüber kann also meinem Umfeld wie mir bestenfalls von grossem Wert sein, wenn ich sterbe. Und auch wenn der Text quasi im entscheidenden Moment keine Wirkung entfalten sollte, so habe ich mir zumindest schreibend darüber Gedanken gemacht, was für mich “Leben” eigentlich bedeutet. Nicht schlecht, wenn das geschieht, bevor das Leben vorüber ist, nicht? Genau das habe ich in sehr vielen der oben erwähnten Interviews erfahren. Viele Autorinnen und Autoren von “Zu Ende denken” konnten beim Schreiben übers Sterben verdeutlichen, was ihnen im Leben eigentlich wichtig ist. Das sei klärend, ja, gar animierend gewesen und habe sie durchaus gelassener in die Zukunft blicken lassen. Persönlich finde ich, allein dafür lohnt es sich, übers Sterben zu schreiben. Man denkt dann für einen Moment das eigene Leben von seinem Ende her. Ich finde, das ist ein wunderbares “Momento Mori” für alle, die gerne schreiben. Das kann wirklich guttun.
Wobei ich hier noch anfügen möchte: Die Formulierung “für einen Moment vom Ende her denken” habe ich bewusst gewählt. Weil ich nämlich beim Nachdenken über den Tod, bei der empfundenen “Pflicht”, mich mit meinem eigenen Sterben zu befassen, auch gemerkt habe, dass man es durchaus übertreiben kann. Ich kann nicht täglich und stündlich daran denken, dass mein Leben irgendwann – vielleicht sogar schon heute Abend! – vorbei sein wird. Allein die Vorstellung, so zu leben, zeigt uns, warum das nicht gehen kann. Hier gehe ich mit dem Autor, Psychoanalytiker und Satiriker Peter Schneider einig, der im kürzlich erschienen Buch
“Jungbleiben ist auch keine Lösung” schreibt:
“Man kann sein Leben nicht vom Ende her leben. Das wäre eine sehr triste Angelegenheit, sich immer sub specie aeternitas zu sagen, dass angesichts unserer Sterblichkeit doch alles eitel und unwichtig ist. Während man lebt, ist man nicht der Biograph seines eigentlich schon verstorbenen Selbsts. Die Rückblicks-Perspektive, die einen heiter stimmen kann, weil man feststellt, wie unwichtig manches ist, das man einmal für ganz wichtig hielt, kann man nicht als Leitlinie für die Zukunft brauchen. Man weiss, dass es völlig unwichtig ist, wer beim Jassen gewinnt. Jassen macht aber nur dann Spass, wenn alle dies während des Spiels gerade nicht unwichtig finden, sondern unbedingt gewinnen wollen …"Was ich hier höchstens noch anfügen kann: Ein Biograf seines noch nicht verstorbenen Selbsts zu sein, das kann ich wärmstens empfehlen. Das Tagebuch schreiben, das du ja in turbulenten Zeiten begonnen hast, kann ganz bestimmt sehr hilfreich sein (zumindest, wenn man es gerne tut).
Die Kulturwissenschaftlerin Andrea Züger sagte mir einmal in einem Interview:
“Beim autobiografischen Schreiben beschäftigt man sich intensiv mit sich selber. Manchmal ermöglicht es eine neue Sicht, einen klareren Blick auf das eigene Leben und das eigene Selbst. Diese Klarheit wird als gewinnbringend empfunden.” Sie hat Interviews zum autobiografischen Schreiben geführt und ihr Studium mit dem Büchlein
«Leben schreiben» abgeschlossen. Leben schreiben: Ein Vorhaben, das gerade im Angesicht der Begrenztheit der eigenen Lebenszeit eine grosse Bereicherung sein kann.
Als jemand, die sich professionell mit dem Sterben auseinandersetzt und offensichtlich auch im privaten Umfeld darüber reden kann, kommst du der persönlichen Auseinandersetzung mit dem eigenen Sterben immerhin schon richtig nahe. “Wo fange ich bloss an?”, fragst du dennoch. Ja, wo sollen wir bloss anfangen? Ich kann dir diese Frage leider auch nicht beantworten. Aber ich bin sicher, dass im Workshop “Schreiben übers Sterben” alle einen Anfang finden werden. Und zwar alle einen anderen. Was ja Kreativität immer auch anregen kann, sind einschränkende Regeln (auch wenn das erst einmal wenig einleuchtend klingt). Bei “Zu Ende denken” hatten die Autor*innen gerade einmal 3’500 Zeichen Platz, über dieses unendlich grosse Thema zu schreiben. Und fast alle begannen dann gezwungenermassen erst einmal mit der Frage: Was ist für mich das Wichtigste?
Vielleicht ist das ein Ansatz?
Ich grüsse dich herzlich – und mache aus “ratlos” an dieser Stelle für mich “planlos”,
Elena
***
Von: Gabriela Meissner
Gesendet: Donnerstag, 4. Februar 2021 15:34
An:
Betreff: AW: Workshop Schreiben über Sterben
Liebe Elena
Ein bisschen beruhigt es mich, dass Du noch kein druckreifes Manuskript über Dein Sterben aus der Schublade ziehen kannst. Wir sind also beide (noch) ohne Plan. Vielleicht müssen wir das Thema erst mal ein bisschen umzingeln, um uns langsam anzunähern. Ich lese berufshalber viel über schwere Erkrankungen, Sterben und Tod, durchkämme die Medien, das Netz, die sozialen Plattformen. In den letzten Tagen habe ich mir bei manchen Beiträgen bewusst die Frage gestellt: “Wie ist das für mich? Was stimmt für mich, was nicht?” Via Twitter habe ich den Blog “Mama arbeitet” entdeckt und den
Beitrag über den Tod der Mutter der Autorin gelesen. Sie beschreibt die letzte Zeit ihrer Mutter sehr eindrücklich, es ist auch eine Art Nachruf, trotzdem bin ich bei manchen Dingen hängengeblieben. Beispielsweise dort, wo sie schreibt:
“Was nicht gut ist, ist das Gefühl, dass das Leben so bedeutungslos ist. Am Ende, egal was man tut, liegt man bestenfalls in seinem eigenen Bett, bekommt schmerzlindernde und glücklich machende Medikamente, und dämmert mehr oder weniger weg. Man wird immer weniger, bis die Seele langsam den Körper verlässt, und dieser nur noch ein kleines, zerbrechliches Häuflein ist.”Und etwas weiter unten schreibt sie:
“Am Ende kommen wir alle in eine Kiste, sei es in die Erde, so wie sie es wollte, zurück zur Natur, oder in eine Urne, die versenkt oder verstreut wird. Und vielleicht ist dann nicht einmal mehr wichtig, wen wir geliebt haben und wer unsere Familie war, denn wir sind allein.”Ich habe mich gefragt, wie das für mich ist. Zum einen, jemanden bis zum Ende zu begleiten und mit ihm oder ihr genau das auszuhalten, dieses weniger Werden, das Verlöschen, Vergehen. Hat es nicht auch etwas mit Würde, Liebe und Respekt zu tun, dass ich auch das als das Leben betrachte? Wenn ich Liebe und/oder Freundschaft mit einer Person teile, gilt es nicht auch dann noch, wenn sie zu einem kleinen, zerbrechlichen Häuflein geworden ist?
Zum anderen wünsche ich mir aber auch, dass Menschen, mit denen ich einen Teil meines Lebens verbracht habe, denen ich ihnen und sie mir etwas bedeuten, mich bei meinem Sterben begleiten. Dass sie es mit mir als Sterbender aushalten und auch mein Sterben als Teil unseres gemeinsam verbrachten Lebens betrachten. Ich erinnere mich an den Tod meiner Grossmutter. Schon Jahre zuvor hatte sie immer wieder geäussert, dass sie Angst habe, im Moment des Todes allein sein zu müssen. Ich hatte ihr immer wieder versichert, dass wir sie begleiten würden. Und so war es auch. Als sie mit über 90 nach einem kurzen Infekt starb, war die ganze grosse Familie samt den Enkeln an ihrem Bett. Nachdem sie den letzten Atemzug gemacht hatte, war es ein bisschen so wie immer bei Familientreffen, ein bisschen laut, ein bisschen chaotisch – wir haben immer wieder geweint und sie gestreichelt, aber es hätte ihr sicher gefallen.
Ich wünsche mir, dass meine Familie und meine Freundinnen und Freunde mich begleiten, bei mir sind, mir meine Lieblingsblumen bringen, Fotos aufstellen, sich mit mir erinnern, lachen und weinen. Und dass sie dereinst genau diesen Teil nicht ausklammern, wenn sie an mich denken, sondern den Abschluss meines Lebens in ihren Erinnerungen mitnehmen. Mein Dasein ist ja erst zu Ende mit dem letzten Atemzug. Und wenn ich es mir recht überlege, so wäre es schön, wenn jemand auch meine letzte Hülle begleitet, bis zur Einäscherung, so wie es eine meiner Freundinnen bei ihrem Sohn gemacht hat. Sehr, sehr schwer, ich weiss. Aber so schön.
Und jetzt beginne ich zu erahnen, was Du mit dem Satz in Deinem letzten Beitrag gemeint haben könntest:
“Man denkt dann für einen Moment das eigene Leben von seinem Ende her.” Denn das bedeutet auch:
“Was tue ich, damit ich so begleitet und behütet sterben kann?” und
“Was tue ich, damit meinen liebsten Menschen ein solches Sterben möglich sein kann?” Ja, ich lerne auch mit jedem Sterben, das mir im Leben begegnet, etwas dazu. Das erinnert mich an ein Gedicht von
Hilde Domin:
“Jeder, der geht, belehrt uns ein wenig über uns selber. Kostbarster Unterricht an den Sterbebetten.”Um über mein Sterben zu schreiben, muss ich über mein Leben nachdenken.
Ist das mal ein Anfang?
Weiterhin herzlich, Gabriela
***
Von: Elena Ibello
Gesendet: Montag, 8. Februar 2021 16:01
An: Gabriela Meissner
Betreff: AW: Workshop Schreiben über Sterben
Liebe Gabriela
Um gleich bei deiner Frage zu beginnen: Ja, das ist ganz bestimmt ein Anfang. Und ein guter. Davon bin ich überzeugt. Weil ja beim Schreiben übers Sterben genau das passiert, passieren muss: Man schreibt übers Leben. Und blickt dann auf das Ende. Vielleicht auf den Abschluss, den man sich für sein Leben wünscht, oder vor welchem man sich fürchtet. Vielleicht auf eine Vorstellung von Jenseits, auf das Tot-Sein und vielleicht auch ganz konkret auf das Sterben. Aber diese Vorstellung gelingt ja immer nur, wenn man das eigene Leben im Blick hat. Es ist ja der Abschluss dieses einen ganz bestimmten Lebens.
Genau darum gehe ich auch mit dir einig, dass die Phase des Vergehens, des weniger Werdens, zum Leben gehört – und umgekehrt das Leben zum Sterben. Auch, wenn wir geliebte Menschen begleiten. Auch ich wünsche mir, dass ich diesem Verlöschen mit Respekt und Liebe begegnen kann, wenn ich mir Nahestehende begleite. Auch ich glaube, dass das auszuhalten ist, wenn Liebe im Spiel ist. Dennoch verstehe ich die Autorin des Beitrags, den du zitierst. Ich verstehe, dass es unglaublich frustrierend sein kann, wenn man – erschöpft von einer höchstwahrscheinlich anstrengenden und emotionalen Vorgeschichte – die eigene Mutter im Bett betrachtet, die nicht ganz da und nicht ganz fort ist. Die gewissermassen “nackt”, auf das Wesentlichste reduziert, und ohne den ganzen Firlefanz, den wir unseren Leben anhängen, hier liegt und unregelmässig atmet, vielleicht hin und wieder stöhnt und die wie es scheint nichts anderes mehr tut, als auf den Tod zu warten. Dass bei diesem Anblick, in dieser Situation, der Gedanke kommen kann: Und das soll nun das Ende eines ganzen Lebens sein? Des Lebens einer Frau, die immerhin mich in die Welt gesetzt und für die Menschen in ihrem Leben so viel getan hat? Und darüber hinaus noch ganz viel mehr? Das verstehe ich schon irgendwie, dass in dieser Situation Enttäuschung und Frust aufkommen. Auch, wenn das natürlich traurig und trostlos ist. Sicher für diejenigen, die zurückbleiben. Vermutlich auch für die Sterbenden.
Wenn dann hingegen gelingt, was du mit deiner Grossmutter beschreibst und dir für dich selbst ausmalst, dann ist das ein ganz wunderbares Geschenk! Und ja, ich finde, etwas, wofür sich ein wenig Aufwand lohnt. Ich musste ja unwillkürlich lächeln bei der Stelle, an der du das Sterben deiner Grossmutter schilderst. Und ich glaube: Dass sie, wie du sagst, schon Jahre zuvor ganz klar und ohne Umwege ihrer Familie mitteilte, sie wolle bitte nicht alleine sterben müssen, das war wohl eine sehr gute Voraussetzung dafür, dass genau das nicht passieren musste. Insofern lohnt sich das Nachdenken, Schreiben, Reden übers Sterben zu Lebzeiten immer und allemal.
Was ich besonders schön finde an deiner Vorstellung für dein eigenes Sterben: Dass deine Liebsten sich mit dir gemeinsam erinnern möchten. Das ist etwas, das uns ja wahnsinnig miteinander verbindet, das Erinnern. Diese Verbindung noch einmal zu stärken, quasi zur Feier des Abschiedes, finde ich wundervoll. Und das auch zu tun, solange die sterbende Person in der Lage ist, an diesem Vorgang teil zu nehmen, finde ich doppelt wertvoll. Ich stelle mir vor, dass man damit sogar verhindern kann, dass passiert, was der erwähnten Frau mit ihrer Mutter im Sterben passiert sein mag. Denn in dieser Situation des Sterbens, die manchmal trist sein kann, ist es vielleicht gerade schön, sich zu erinnern, was dieses Leben sonst noch war – bevor die Person im Sterben lag, sondern als sie noch wirkte, mitten im Leben. Auch das finde ich ist eine Art, das Leben zu würdigen. Und ich glaube, dass das die wirklich wichtigen Erinnerungen sind für diejenigen, die zurückbleiben. Nicht die Sterbe-Erinnerungen, sondern die Lebe-Erinnerungen.
Auch dazu übrigens eignet sich das Schreiben: Beim Schreiben über das eigene Leben und Sterben können auch verloren geglaubte Erinnerungen wieder aufleben und ihre ganze Fülle kann uns zeigen, wie sehr wir doch schon gelebt haben. Ein tröstliches Gefühl, finde ich. Doris Dörrie kann uns hierüber ja ganz viel lehren. Kürzlich habe ich mir ein Podcast-Gespräch mit ihr angehört und dabei realisiert, wie wichtig für unsere Lebens-Erinnerung doch auch die kleinsten Details sein können. Und wie schön es ist, diesen Details und den eigenen Erinnerungen Raum zu geben. Etwas, das die wenigsten von uns als angemessen empfinden. Weil: Wer sind wir denn schon, dass wir jetzt hier über uns selbst schreiben!? Aber Doris Dörrie erteilt allen die Erlaubnis, sich und ihr Leben wichtig zu nehmen. Denn nur wir selbst kennen unsere Perspektive auf das Leben. Schön, oder?
Du schreibst, du wünschst dir, dass deine Familienmitglieder dereinst dein Sterben “nicht ausklammern, wenn sie an mich denken, sondern den Abschluss meines Lebens in ihren Erinnerungen mitnehmen”. Das würde ich für mich persönlich nicht in dieser Ausdrücklichkeit sagen. Gerade weil ich nicht weiss, wie ich sterben werde. Und wie meine Familie mein Sterben erleben wird. Obwohl ich mir das natürlich ganz ähnlich ausmale und erhoffe wie du. Wenn das gelingt und/oder meiner Familie die Erinnerung an mein Sterben wichtig ist, dann wünsche ich ihnen, dass sie sie mitnehmen können. Und ja: Dann wäre mein Leben quasi auch in ihrer Erinnerung komplett. Aber wenn es keine gute Erinnerung ist, sollen sie sich lieber an anderes erinnern. Ich musste unwillkürlich an den sehr, sehr unschönen Tod meines Freundes vor rund zehn Jahren denken. Ich mag die Vorstellung nicht. Ich war nicht dabei, niemand war dabei. Aber wir wissen ungefähr, was vor sich ging und es ist eine grausame Vorstellung. Ich erinnere mich lieber an den lebendigen Freund. Aber ja: Die Erinnerung an ihn wird für immer unvollständig bleiben. Das schmerzt ungeheuer, bis zum heutigen Tag. Aber diese Unvollkommenheit ist mir das kleinere Übel als die Vorstellung seiner letzten Momente.
Zum Schreiben übers Sterben noch dies: Es muss ja – wenn das vielleicht noch zu weit weg, zu abstrakt ist – nicht unbedingt das eigene Sterben sein, über das man schreibt. Man könnte auch über das Sterben schreiben, das man tatsächlich schon erlebt hat. Zum Beispiel das der Grossmutter, wie du das gerade getan hast. Auch das könnte uns einerseits vieles wieder vor Augen führen, das wir vergessen haben, vielleicht auch die verstorbene Person für einen Moment noch einmal zum Leben erwecken. Oder man kann über einen Verlust schreiben und festhalten, was das mit einem anstellt. Ungesagtes formulieren, offene Fragen erörtern. Auch das kann Ruhe, kann Gelassenheit bringen. Voraussetzung dafür ist natürlich, dass man ein Stück weit Boden unter den Füssen hat. Das Schreiben im Sinne einer Therapie ist unbedingt von Fachpersonen zu begleiten. Dafür eignet sich ein simpler Workshop selbstverständlich nicht.
Persönlich möchte ich gerne schreibend festhalten, was in meinem Leben wichtig war und was höchstwahrscheinlich auch im Sterben wichtig bleiben wird. Grosse und kleine Dinge. Und ich hoffe, damit mein eigenes Leben ebenso würdigen zu können wie alles, was ich im Leben mit meinen Liebsten teilen durfte – und sie grosszügigerweise mit mir geteilt haben. Wenn ich etwas Glück habe, werden wir das bis zuletzt tun.
Wenn du dich dem anschliessen magst: Sei herzlich willkommen in meinem Workshop!
Oder hast du mit dem persönlichen Schreiben übers Sterben schon längst begonnen?
Lieben Dank für den schönen Austausch und herzliche Grüsse
Elena
***
Von: Gabriela Meissner
Gesendet: Freitag, 12. Februar 2021 08:22
An: Elena Ibello
Betreff: AW: Schreiben über Sterben
Liebe Elena
Ich habe Deine Antwort sehr gerne gelesen, vielen Dank dafür. Eigentlich sind wir schon mittendrin im Schreiben über den Tod, vielleicht noch zu wenig konkret, aber immerhin mit einer persönlichen Note. Das schon mal als Antwort auf Deine Schlussfrage, ob ich mit dem persönlichen Schreiben nicht schon längst begonnen hätte.
Ja, ich habe auch sehr viel Verständnis für den Blogbeitrag, den ich in meinem vorhergehenden Schreiben ins Spiel gebracht habe. Ich sehe ihn als Momentaufnahme, kurz nach dem Tod der Mutter. Mit ganz frischen und ungefilterten Erinnerungen an die schwierigen Phasen des Sterbens. Vielleicht ist es tatsächlich so, wie ich es bislang erlebt habe, dass in der ersten Zeit nach einem Tod die Bilder an das Sterben überwiegen, sich manches sehr dominant eingebrannt hat ins Gedächtnis. Und dass sich das nach einer Weile legt und letztlich einreiht in die vielen Erinnerungen an die Person zu ihren Lebzeiten. Dann sind es wieder die Lebe-Erinnerungen, die überwiegen. Ausser bei Situationen, wie Du sie bei Deinem Freund beschreibst, wo ein Stück der Erinnerungen ausgeblendet werden muss, um es auszuhalten. Aber tatsächlich muss ich das letztlich meinen Hinterbliebenen überlassen, denn ich weiss ja nicht, wie ich sterben werde. Ich kann mir höchstens ein Szenario - Unfälle und andere unerwartbare Ereignisse mal ausgeklammert - “wünschen”, das es mir und meinen Angehörigen einigermassen erträglich macht. Was mich zur kaum beantwortbaren Frage bringt, ob es besser ist, überraschend im Schlaf zu sterben und sich so vielem entziehen zu können? Oder möchte ich Zeit haben, mich langsam vom Leben und meinen Menschen zu verabschieden und nehme dafür unter Umständen eine gewisse Zeit an Krankheit, Schmerzen und vielen Unwägbarkeiten in Kauf? Sehr schwierig. Und letztlich nicht in unserer Hand. Aber die Vorstellung, wie Du sie weckst, nämlich sich gemeinsam zu erinnern und dadurch vieles noch einmal in Gedanken zu durchleben, und letztlich das (gemeinsame) Er-Leben dadurch zu würdigen, diese Vorstellung finde ich schon sehr schön.
Sollte ich überraschend sterben, wäre es vielleicht schön für meine Lieblingsmenschen, wenn ihnen etwas von meinen Erinnerungen bleibt, so wie ich mein Leben erlebt habe. Wenn ich etwas gelernt habe in den vielen Jahren als Journalistin, dann, dass es kein Interview mit einer prominenten Person braucht, um spannende Lebensgeschichten zu hören. Jeder und jede hat eine. Man muss nur zuhören. Oder als Erlebende die eigene(n) Geschichte(n) festhalten. Die Biografiearbeit am Lebensende ist ja auch in der Palliative Care in Bezug auf die Würdezentrierte Therapie ein immens wichtiges Thema. Es zeigt sich, dass, wer Rückschau auf sein Leben hält und erzählen kann, es letztlich als reichhaltig empfindet und überrascht ist, wie viele Erinnerungen da sind. Das Leben wird durch das Erzählen und Aufschreiben wie beispielsweise im Projekt “Lebensspiegel” gewürdigt. Für die Hinterbliebenen ist es ein Schatz an Erfahrungen und Erlebnissen, der bleibt. Auch viele Jahre nach dem frühen Tod meines Vaters hüte ich seine Briefe wie ein kostbares Geschenk und bin dankbar, dass mir in Tonbandaufnahmen zumindest seine Singstimme geblieben ist. Wäre es nicht schön, wenn man jedem Menschen, der es möchte, an dessen Lebensende eine biografische Würdigung ermöglichen könnte? Was mich wiederum auf den Gedanken bringt: Das Erzählen, Erinnern, Zuhören und Aufschreiben muss (wieder) Teil des Lebens werden. Es muss dann beginnen, wenn noch Zeit ist.
Und so ergibt sich mein Plan für das Schreiben über mein eigenes Sterben fast von selbst: Meine Aufzeichnungen, wie ich sie vor einem Jahr begonnen habe, weiterführen, will heissen, auch weiterhin über mein Leben zu schreiben. Und darin auch dem Sterben Platz einzuräumen, weil das Sterben als Teil des Lebens ja immer und überall stattfindet und es deshalb immer Thema ist und sein kann. Es wird eine Annäherung sein und bis auf weiteres - so hoffe ich doch sehr - auch bleiben, aber in der Auseinandersetzung wird es konkreter, wir kreisen es ein.
Danke für diesen Austausch, liebe Elena, er war lehrreich, aufwühlend, aufregend und beruhigend. Ich denke, wir sehen uns im Workshop.
Bis dahin sehr herzlich, Gabriela